Die nach der Revolution des Jahres 1848 vor
mehr als 150 Jahren geschaffenen Bezirksgerichte haben im Wesentlichen die
Sprengeleinteilung der früheren Patrimonialgerichtsbarkeit übernommen, deren
flächenmäßige Ausdehnung vor allem ein Abbild der unterschiedlichen Einfluss-
und Machtbereiche der Grundherren war. Nach Gerichtszusammenlegungen in der
zweiten Hälfte der 70iger Jahre und im Jahr 1992 wurden in der XXI.
Legislaturperiode durch die Bezirksgerichte-Verordnungen Niederösterreich,
Steiermark, Tirol, Oberösterreich sowie Salzburg insgesamt 50 Bezirksgerichte mit
anderen Bezirksgerichten zusammengelegt, wobei bislang 42 Zusammenlegungen
bereits umgesetzt sind.
Die Erfahrungen
mit den jüngst durchgeführten Gerichtszusammenlegungen waren äußerst positiv.
Es ist weder zu organisatorischen Problemen gekommen, noch traten Probleme in
der Rechtsprechung auf. Weder aus der Bevölkerung noch in den Medien wurden bei
der Umsetzung der Maßnahmen negative Stimmen laut.
Dies ist ein wesentlicher Schritt in
Richtung einer Homogenisierung und Steigerung der Qualität der Rechtsprechung
gewesen, bei weitem jedoch noch kein ausreichender. Auf Grund der regional sehr
unterschiedlich verlaufenen Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung
differieren die Flächen und die Einwohnerzahlen der Bezirksgerichtssprengel
nach wie vor sehr erheblich. Nach wie vor bestehen 13 Bezirksgerichte, die
nicht einmal einen Richter mit richterlichen Rechtsprechungsangelegenheiten
auslasten; dem gegenüber lastet das derzeit größte Bezirksgericht fast 49
Richter mit richterlichen Rechtsprechungsagenden aus.
Zusammenfassend kann für die Bezirksgerichte
festgehalten werden, dass trotz Verbesserungen durch jüngst vorgenommene
Zusammenlegungen nach wie vor eine sehr inhomogene, willkürlich nur durch
historische Entwicklung erklärbare Struktur vorliegt.
Ein Großteil der Gerichte ist nach wie vor
weit davon entfernt, eine optimale Betriebsgröße[1]
zu haben. Eine solche ist jedoch notwendig, um Spezialisierungen zu
ermöglichen, die eine qualitativ hochstehenden Rechtsprechung sicherstellen.
Wie in der folgenden Grafik ersichtlich,
liegt die durchschnittliche Anzahl der Richter bei Eingangsgerichten in
Österreich nach wie vor weit unter dem europäischer Vergleichsländer:
Auch die durchschnittliche Einwohnerzahl der
Eingangsgerichte ist in vergleichbaren Europaregionen doppelt so hoch:
Nach wie vor bringt die Kleinheit sehr
vieler Gerichtseinheiten Probleme im Zusammenhang mit Vertretungsregelungen im
Falle der Abwesenheit (Krankheit, Urlaub) mit sich. Deshalb ist es notwendig,
eine große Zahl von sogenannten Doppelplanstellen (eine Planstelle ist auf zwei
Gerichte aufgeteilt) zu besetzen, was nicht nur die Zusammenarbeit zwischen
Richter und Gerichtskanzlei erschwert, sondern auch Nachteile für die rechtsuchende
Bevölkerung nach sich zieht, weil der auf Grund der Geschäftseinteilung
zuständige Richter oder Rechtspfleger häufig wegen der Tätigkeit am anderen
Gericht nicht anwesend sein kann.
Der österreichische Gerichtsaufbau sieht
derzeit zwei Ebenen von Eingangsgerichten vor; die Aufteilung der Zuständigkeit
zwischen Bezirks- und Landesgerichten richtet sich in Strafsachen nach der
Strafdrohung des verfolgten Deliktes, in Zivilsachen – neben verschiedenen
Eigenzuständigkeiten – primär nach dem Streitwert. Dieser hat jedoch weder
unmittelbare Konsequenzen auf die Komplexität, die rechtliche Schwierigkeit
eines Verfahrens noch auf die Verfahrensdurchführung. Richter werden in
Österreich universell – d.h. in allen Geschäftssparten – ausgebildet und im
Regelfall im Rahmen ihrer Berufslaufbahn in den verschiedensten Sparten tätig.
Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Rechtsprechung an den
Landesgerichten in I. Instanz qualitativ anders wäre, als jene an den
Bezirksgerichten.
Vielmehr zieht das Streitwertsystem
Abgrenzungsschwierigkeiten und Kompetenzkonflikte nach sich, was zu Zeitverzug
und unverhältnismäßiger Bindung von Rechtsprechungskapazitäten führt.
Darüber hinaus verursachen die bestehenden
kleineren Organisationseinheiten mehr Leitungs- und Verwaltungsaufgaben als
größere und erschweren einen effizienten Personaleinsatz.
Festzustellen ist, dass der Richter eines
Kleinstbezirksgerichtes, der mitunter sehr in das lokale Geschehen eingebunden
ist, nicht dem Richterbild der Menschenrechtskonvention entspricht, zumal beim
Richter nicht nur die tatsächliche Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit und
Unbefangenheit gegeben sein muss, sondern auch der äußere Anschein dies
bestätigen muss.
Vorauszuschicken ist weiters das Ergebnis
von Untersuchungen zur Frage der Häufigkeit von Gerichtsbesuchen:
Österreich verfügt über ein hervorragend
ausgebautes Straßennetz. Es gibt ein dichtes Netz an öffentlichen
Verkehrsmitteln. Österreich weist einen hohen Motorisierungsgrad auf. Auf 1000
Einwohner kommen 708 Fahrzeuge (ohne die Bundeshauptstadt Wien).
Wissenschaftliche Umfragen (wie sie etwa von
der Österreichischen Notariatskammer in Auftrag gegeben wurde) ergaben, dass es
der Bevölkerung primär auf die Fachkompetenz der Gerichte und die zügige
Verfahrensdurchführung ankommt, während nur 7 % der Bevölkerung die
Entfernung des Wohnortes zu einem Bezirksgericht für bedeutend halten:
89 % der Befragten halten es für
akzeptabel, wenn das Gericht so weit entfernt ist wie die
Bezirkshauptmannschaft oder das Finanzamt, die ungleich öfter in Anspruch
genommen werden:
Bedenkt man darüber hinaus auch die
täglichen langen Schulwege von Kindern und die Einkaufsfahrten von Familien zu
Einkaufszentren, kann die Wegstrecke für die Beibehaltung einer
Gerichtsstruktur, die aus dem vorigen Jahrhundert stammt, kein Argument mehr
sein.
Hinzu kommt, dass viele Bürgerinnen und
Bürger aus kleineren Ortschaften zum Arbeiten in die Ballungszentren pendeln.
Eine Belassung des Gerichtes an den Wohnorten führt hier im Regelfall dazu,
dass man vom Arbeitsort – oft unter Inanspruchnahme von Urlaubstagen – zum
Wohn- und Gerichtsort zurückpendeln müsste. Die ständig weiter ausgebaute
Versorgung mit elektronischen Kommunikations- und Informationsmitteln
(Elektronischer Rechtsverkehr, Ediktsdatei, Abfrage aus Verfahrensregistern,
Grundbuch, Firmenbuch, Rechtsinformationssytem) lassen die örtliche Lage des
Gerichte immer weiter in den Hintergrund treten.
Im Zuge einer Reform der österreichischen
Gerichtsorganisation sollten einheitliche Eingangsgerichte geschaffen werden,
die – abgesehen von Strafsachen, Insolvenzsachen und Firmenbuchsachen – für
alle erstinstanzlichen Rechtssachen zuständig sein sollen. Diese neuen
Eingangsgerichte sollen daher nicht nur die bisherigen bezirksgerichtlichen
Sachen erledigen, sondern sämtliche Zivilsachen einschließlich der
Arbeitsgerichts- und Sozialrechtssachen ohne Streitwertbegrenzung.
Die Abwicklung von Strafsachen sollte
hingegen auf jene Eingangsgerichte beschränkt werden, die am Sitz der
bisherigen (Straf)Landesgerichte bestehen. Diese benötigen zum Einen ein
besonderes Maß von Spezialisierung, andererseits muss eine Justizanstalt
(insbesondere für Untersuchungshäftlinge) in unmittelbarer Nähe sein, um
optimale Betriebsabläufe zu gewährleisten. Eine Konzentration der Strafsachen
auf die Eingangsgerichte am Sitz der (Straf)Landesgerichte hat auch den
Vorteil, dass in diesen Verfahren besonders häufig benötigte Sachverständige
und Dolmetscher leichter und rascher verfügbar sind. Schließlich entspricht es
den Anforderungen einer sachgerechten Abwicklung des Verfahrens, dass es nicht
im unmittelbaren sozialen Umfeld des Beschuldigten oder Angeklagten
durchgeführt wird.
Insolvenzsachen und Firmenbuchsachen
erfordern ebenfalls ein außergewöhnlich hohes Maß an fachlicher Spezialisierung.
Der österreichweite Anfall an Insolvenz- und Firmenbuchsachen würde nicht
ausreichen, Richter am Sitz aller Eingangsgerichte ausreichend mit dieser
Spezialmaterie auszulasten.
Die Gerichte sollten eine Mindestgröße
aufweisen, die eine hohe Qualität der Rechtsprechung bei ausreichender
Spezialisierung neben einem effizienten Personaleinsatz ermöglichen. Eine unter
dem Aspekt der idealen Betriebsgröße, einer Minimierung der Anfahrtswege und
einer Ermöglichung der Spezialisierung erstellte idealtypische
Eingangsgerichtsstruktur würde 64 Eingangsgerichte aufweisen.
Die Landkarte dieser 64 Regionalgerichte
könnte wie folgt aussehen:
Die Überlegungen einer neuen
Gerichtsverfassung und Gerichtsstruktur führen auch zu Fragen des
Instanzenzuges.
Einheitliche Eingangsgerichte hätten
gegenüber der derzeitigen Situation auch den Vorteil, dass ein einheitlicher Instanzenzug
vom Eingangsgericht zum Oberlandesgericht und in den vom Gesetz bestimmten
Fällen zum Obersten Gerichtshof stattfinden würde.
Die Oberlandesgerichte haben sich sowohl in
der Rechtsprechung als auch als leistungsstarke Einrichtungen der Justizverwaltung
bewährt. Aus diesem Grund wurden auch zunehmend Justizverwaltungskompetenzen zu
den Oberlandesgerichten verlagert (so etwa zuletzt die dienstbehördlichen
Zuständigkeiten im Bereich des Strafvollzuges).
Die Einrichtung der Oberlandesgerichte als Rechtsmittelinstanz
und Justizverwaltungseinheiten hat auch den Vorteil, dass die in
Justizverwaltungssachen tätigen Richter mit einem Teil ihrer Arbeitskapazität
weiterhin in der Kernkompetenz der Leistungserstellung der Justiz – der
Rechtsprechung – tätig sein können. Auch dieses System hat sich in der
Vergangenheit sehr bewährt und führt zu einer erhöhten Akzeptanz von
Entscheidungen der Justizverwaltung durch die Richterschaft.
Dass das System der
vier Oberlandesgerichte beispielgebenden Modellcharakter hat zeigt sich etwa
auch daran, dass es in verschiedenen Verwaltungsreformprojekten nachempfunden
wird. So soll etwa die neu zu schaffende Buchhaltungsagentur in Wien, Graz,
Linz und Innsbruck eingerichtet werden.
Durch die Behandlung der Rechtsmittelsachen
an den Oberlandesgerichten wird auch ein wesentlicher Beitrag zur
Vereinheitlichung der Rechtsprechung geleistet. In einem zusammenwachsenden
Europa mahnt der Bürger zu Recht ein, dass gleichartige Rechtssachen in
Österreich unabhängig vom Bundesland grundsätzlich gleichartig entschieden und
abgehandelt werden. So kann der Oberste Gerichtshof seiner Rolle als Wahrer der
Einheitlichkeit der Rechtsprechung wesentlich besser nachkommen. Eine gewisse
räumliche Distanz zwischen dem Eingangsgericht und dem Rechtsmittelgericht
verstärkt auch den von der Bevölkerung empfundenen Eindruck, dass über ihre
rechtlichen Ansprüche unvoreingenommen und unbefangen abgesprochen wird.
Demgegenüber ist eine Verlagerung der sehr
komplexen Zuständigkeiten in Justizverwaltungssachen auf die einzelnen
Landesgerichte sehr unvorteilhaft. Es wäre betriebswirtschaftlich äußerst
unzweckmäßig an zumindest neun Standorten sämtliche Kapazitäten, die zur
Bereitstellung der sachlichen und personellen Ressourcen der Gerichte notwendig
sind und heute sehr fundierte Kenntnisse in den verschiedensten Bereichen des
Rechts, der Betriebswirtschaft und der Informationstechnik erfordern,
einrichten zu wollen. Diese Organisationsstruktur würde jährlich an Personal
sowie Raum/Mietkosten einen Mehraufwand von rund 10 Millionen Euro verursachen
(Wegfall von Synergieeffekten, höhere Besoldung von Rechtsmittelrichtern,
zusätzlicher Raumbedarf an neun Standorten). Darüber hinaus wurden die
Oberlandesgerichte zu effizienten und hoch qualifizierten Kompetenz- und
Servicezentren für den Gerichtsbetrieb ausgebaut. Deren fachliche Spezialisten
- in welche nicht nur Ausbildungs- sondern auch laufend hohe IT-Lizenzkosten zu
investieren sind - vor allem der Bereiche Personal-, Bau- und Wirtschaftwesen
stellen nicht nur einen modernen Gerichtsbetrieb sicher, sondern erfüllen auch
die Anforderungen einer laufend notwendigen raschen betrieblichen
Weiterentwicklung der Justiz.
Die Zersplitterung der an den
Oberlandesgerichten bestehenden Einrichtungen der Aus- und Fortbildung würden
nicht nur zu Kostensteigerungen, sondern auch zu uneinheitlichen
Ausbildungsstandards führen (auf Grund der stark unterschiedlichen Größen der
Landesgerichtssprengel könnten Ausbildungsmaßnahmen nur in unterschiedlichen
Intervallen und mittelfristig betrachtet daher nur in unterschiedlicher
Qualität angeboten werden).
Letztendlich erbringen die
Oberlandesgerichte im Rahmen der Inneren Revision umfangreiche
Qualitätssicherungsleistungen. Eine Zerschlagung dieser Zentren zur
Gewährleistung einer qualitativ hochstehenden Rechtsprechung würde auch den
Ansprüchen der Bürger und Wirtschaftsunternehmen auf rasche und sachgerechte
Entscheidungen ihrer Rechtsangelegenheiten durch die Gerichte entgegenstehen.
Bundesministerium
für Justiz
im November 2003
[1] Untersuchungen z.B. in Zusammenhang mit der
Reorganisation der Fahrnisexekution haben ergeben, dass die kleinsten und
allergrößten Organisationseinheiten weit weniger effizient arbeiten als
mittelgroße Einheiten.