Österreich-Konvent Ewald Wiederin
Ausschuss 2
Diskussionsunterlage
zu Punkt I.) 4) des Mandats
„Die
sog. ‚Codifikationsfrage’ ist eine der verrufensten in der ganzen
Rechtspolitik, und es stehen sich die Meinungen auf das Schroffste entgegen.
Auf der einen Seite wird von Unzähligen fast alles Heil im Rechte, beinahe im
Staate, von der Einführung solcher allgemeiner Gesetzbücher erwartet, die
Vornahme der Arbeit als ein höchstes Verdienst der Regierung, als ein Beweis
hoher Gesittigung des Volkes, als ein Ehrendenkmal für einen Zeitabschnitt
betrachtet. Auf der anderen Seite erklären Männer, deren Stimme in Rechtsfragen
vor Allen gehört zu werden verdient, nur Unheil für Recht und Bildung von
solchem Unternehmen zu erwarten, sprechen namentlich unserer Zeit alle Befähigung
zur Zustandebringung eines guten Gesetzesbuches ab.“[1]
Punkt I.)
4) des Mandats trägt dem Ausschuss „Legistische Strukturfragen“ auf, über die
„Legistische Binnenstruktur der neuen Verfassung“ zu beraten und hiezu
Vorschläge zu erstatten. Die folgenden drei Unterpunkte sind explizit
angesprochen:
— Abänderungserfordernisse
und innere Stufung (a);
— Überlegungen
zur Verankerung eines Inkorporationsgebots (b);
— sonstige
Überlegungen zur Verbesserung des status quo (c).
Diese Unterlage soll den Beratungen des
Ausschusses als Basis dienen. Sie gliedert sich in vier Abschnitte.
Der erste Abschnitt ist dem
Inkorporationsgebot gewidmet. Sowohl die Diskussionen im Rahmen der Einsetzung
des Konvents als auch das Mandat selbst zeigen, dass die Zusammenführung des
gesamten Verfassungsrechts in eine einzige Urkunde den Fluchtpunkt der Arbeiten
des Ausschusses – wenn nicht des Konvents insgesamt – bildet. Aus diesem Grund
erscheint es sinnvoll, Erwägungen über internationale Verbreitung, dogmatische
Konsequenzen und praktische Auswirkungen von Inkorporationsgeboten an den
Beginn der Unterlage zu stellen. Dabei ließ es sich nicht vermeiden, auch die
in Punkt I.) 3) c) des Mandats aufgeworfene Frage zu streifen, wie andere
Verfassungen das Problem ihrer Durchbrechung durch den einfachen Gesetzgeber
lösen.
Der zweite Abschnitt untersucht, welche
anderen Instrumente im internationalen Vergleich begegnen, um den inneren und
äußeren Zustand der Verfassung zu wahren oder zu verbessern. Da er von der
begrenzten Leistungsfähigkeit eines Kodifikationszwanges ausgeht und mögliche
Ergänzungsmaßnahmen aufzeigt, folgt er unmittelbar auf die Ausführungen zum
Inkorporationsgebot.
Im dritten Abschnitt wird in einem
rechtsvergleichenden Streifzug dargestellt, wie Verfassungen aufgebaut sind und
über welche vielfältigen Binnenstrukturen sie verfügen. Nachdem das Mandat dem
Ausschuss derartige Überlegungen nicht zur Pflicht macht, hat er die Funktion
eines Exkurses. Sein Sinn liegt darin, das außerordentlich breite Spektrum an Möglichkeiten
aufzuzeigen, die zur Verfügung stehen, um eine Verfassung mit Stabilität
auszustatten, ohne ihr die notwendige Flexibilität zu nehmen.
Der vierte Abschnitt versucht, auf diesen
Fundamenten Vorschläge de constitutione ferenda zu unterbreiten, die
sich auf die Erfordernisse der Abänderung der neuen Verfassung, auf ihre innere
Stufung und auf ihre äußere Einkleidung beziehen. Dabei versteht sich von
selbst, dass in die diesbezüglichen Überlegungen auch zwangsläufig subjektiv
gefärbte Bewertungen eingeflossen sind.
Inkorporationsgebote
in Verfassungen sind weniger verbreitet, als es zunächst den Anschein haben
mag. Die Gruppe jener Staaten, deren Verfassung eine ausdrückliche Anordnung
des Inhalts enthält, dass das gesamte Verfassungsrecht in einer Urkunde
konzentriert werden muss, ist eng begrenzt.
Die
bekannteste und wirkmächtigste Formulierung enthält das Bonner Grundgesetz
1949. Dort findet sich in Art 79 Abs 1 erster Satz folgende
Anordnung:
„Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz
geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder
ergänzt.“
Eine
vergleichbare Klausel begegnet in der Verfassung der Republik Portugal 1976.
Sie ordnet in Art 286 an, dass Änderungen der Verfassung mit einer
Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen beschlossen werden und dass die
verabschiedeten Verfassungsänderungen in einem einzigen Revisionsgesetz
zusammengefasst werden müssen. Sodann heißt es in Art 287:
„(1) Die Verfassungsänderungen erfolgen durch
den erforderlichen Austausch, die erforderlichen Auslassungen oder Ergänzungen
der jeweiligen Textstellen.
(2) Der neue Wortlaut der Verfassung wird
zusammen mit dem Revisionsgesetz veröffentlicht.“
Mitunter
wird auch Art 141 der Verfassung des Königreiches der Niederlande von 1983
als Beispiel für ein Inkorporationsgebot angeführt.[2] Diese Bestimmung lautet:
„Der Wortlaut der geänderten Verfassung wird
mit Königlichem Erlass verkündet; dabei können Kapitel, Paragraphen und Artikel
umnummeriert und Verweise entsprechend geändert werden.“
Näheres
Hinsehen zeigt freilich in meinen Augen, dass es sich um eine Art
Wiederverlautbarungsverpflichtung handelt. Ein Inkorporationsgebot dürfte
implizit aber in den Art 137 und 138 enthalten sein.
Ebenfalls
nicht ganz klar ist, wie die Verfassung der Republik Irland 1937 einzuordnen
ist. Sie verlangt in Art 46 Abs 2, dass jeder Vorschlag einer
Änderung der Verfassung als Gesetzesvorlage im Parlament eingebracht werden und
nach Verabschiedung durch beide Häuser einer Entscheidung des Volkes
unterbreitet werden muss. Sodann heißt es in Abs 3:
„Eine jede solche Gesetzesvorlage wird als ein
‚Gesetz zur Änderung der Verfassung’ gekennzeichnet.“
Das
Ensemble dieser Vorschriften kann als Gebot einer formellen Textänderung, es
kann aber auch als bloße Pflicht zur Bezeichnung eines die Verfassung
inhaltlich ändernden Gesetzes als verfassungsändernd gedeutet werden.
Schon diese
wenigen Beispiele zeigen eine erste Schwierigkeit auf: Die Textanalyse der
Verfassungen allein gibt auf die Frage, ob sie ein Inkorporationsgebot
enthalten, selten eine Antwort, weil die einschlägigen Revisionsnormen
regelmäßig nach beiden Richtungen interpretierbar sind und unterschiedlich
gedeutet werden. Die Verfassung des Deutschen Reiches 1871 und die Verfassung
der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1874 enthielten beispielsweise durchaus
vergleichbare Formulierungen. Dennoch setzte sich nördlich von Bodensee und
Rhein die Auffassung durch, auch Verfassungsänderungen außerhalb der Urkunde
seien zulässig, während südlich davon Verfassungsrecht außerhalb der Urkunde
überwiegend als unstatthaft betrachtet wurde.[3]
Auf
Einzelheiten kommt es hier indes nicht an. Für die Zwecke dieser Untersuchung
genügen die Feststellungen, dass ausdrückliche Inkorporationsgebote die
Ausnahme sind, dass in Wissenschaft und Staatspraxis vielfach aber auch
Verfassungen, die keine diesbezügliche explizite Anordnung enthalten, auf
interpretativem Wege ein Gebot der Textintegration von Änderungen entnommen
wird.
Dieser
ersten Gruppe von Staaten, in denen das Verfassungsrecht in einer Urkunde konzentriert
ist, steht eine zweite Gruppe gegenüber, in denen es funktionale Äquivalente
gibt. Als Beispiel sei die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 1789
genannt, die sich aus einer Stammurkunde und 27 weiteren Urkunden, den
sogenannten Amendments zusammensetzt. Nachdem die Novellierungstechnik in der
anglo-amerikanischen Tradition nicht üblich (um nicht zu sagen: unbekannt) ist,
stehen diese Amendments neben der Stammverfassung und fügen ihr Inhalte hinzu
oder ändern sie ab, ohne in den Text des ursprünglichen Dokuments einzugreifen.
Der Unterschied zum Inkorporationsgebot ist allerdings nicht allzu groß: Statt
Novellen, die sich auf die Stammurkunde rückbeziehen, haben wir es mit
Ergänzungen zu tun, die gleichsam hintereinander in einer Reihe stehen, aber
ein und derselben Textsorte angehören.
Eine dritte
Gruppe bilden jene Staaten, deren Verfassung sich in einer Stammurkunde und
einigen wenigen weiteren Urkunden zusammensetzt. Viele Monarchien sind dieser
Gruppe zuzurechnen, weil in ihnen auch die Hausgesetze des öfteren als Teil der
Verfassung gelten.[4] Unter den
Republiken sei Frankreich erwähnt, wo neben der Verfassung 1958 auch die
Erklärung der Menschen‑ und Bürgerrechte 1789 und die Präambel der Verfassung
1946 Bestandteile des Verfassungsrechts sind.
In einer
vierten Gruppe lassen sich jene Staaten zusammenfassen, die wie Österreich
keinen Urkundenzwang, aber immerhin eine Verpflichtung zur Bezeichnung des
Verfassungsrechts als Verfassungsrecht kennen. Als Beispiel für solche
Verfassungen sei auf die Verfassung der Republik Tschechien 1992 verwiesen, die
neben der Verfassungsurkunde selbst weitere Verfassungsgesetze (nicht aber
Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen) zulässt,[5]
sowie auf die Verfassung der Republik Italien 1947, die verfassungsändernde
Gesetze und andere Verfassungsgesetze kennt.[6]
Auch die Verfassung des Königreiches Schweden von 1975 und Finnlands
Grundgesetz von 1999 rechnen zu dieser Gruppe, weil sie ein eigenes Verfahren
zur Grundgesetzgebung vorsehen.[7]
In eine
kleine fünfte Gruppe fallen schließlich jene Staaten, die über kein nach
formellen Gesichtspunkten abgegrenztes Verfassungsrecht verfügen. Staaten mit
ungeschriebener Verfassung zählen ebenso hierher wie Staaten, deren Verfassung
sich aus einem Ensemble von Gesetzen, Proklamationen und Statuten
zusammensetzt, das nicht durch äußere Merkmale, sondern nur durch Konvention umgrenzt
wird.[8]
Was ein
Inkorporationsgebot zu leisten vermag und welche Rechtsfragen es aufwirft,
lässt sich am Bonner Grundgesetz exemplifizieren.
Es zählt
zum basalen Lehrbuchwissen, dass das Grundgesetz mit seinem Art 79
Abs 1 GG einer Gesetzgebungstechnik eine Absage erteilt, die unter der
Geltung der Weimarer Reichsverfassung ständige Praxis war und die von ihren
Gegnern als Durchbrechung oder als Aushebelung der Verfassung bezeichnet wurde.
Weniger bekannt ist hingegen, dass die Weimarer Verfassung in diesem Punkt
lediglich eine eingelebte Tradition fortgesetzt hatte. Schon unter der
Bismarckschen Reichsverfassung 1871 war es ständige Übung, durch einen mit den
für Verfassungsänderung erforderlichen Mehrheiten gefassten Gesetzesbeschluss
bestimmte Inhalte einer Prüfung am Maßstab der Verfassung zu entziehen und doch
im Übrigen die Verfassung inhaltlich unverändert zu lassen. Die Praxis, gegen
welche Art 79 Abs 1 GG gerichtet ist und ihres Antwortcharakters
wegen Rückschlüsse auf Sinn und Zweck des Inkorporationsgebotes zulässt, ist
allerdings mit der Zersplitterung des österreichischen Verfassungsrechts nur
mittelbar vergleichbar. Das zeigt sich vor allem am geschichtlichen Ursprung,
der aus diesem Grund kurz skizziert sei.
Am Anfang
stand ein Antrag des Abgeordneten Franckenstein aus dem Jahre 1879, in § 8
des Zolltarifgesetzes einen Klausel aufzunehmen, nach der jener Ertrag der
Zölle und der Tabaksteuer, der die jährliche Summe von 130.000 Mark überstieg,
den einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung zu überweisen war.
Der politische Sinn und Zweck dieser Regelung bestand darin, das Reich von
originären Einnahmequellen abzuschneiden und es auf diese Weise weiterhin in
Abhängigkeit von Matrikularbeiträgen zu belassen, die von den Ländern nach
einem Bevölkerungsschlüssel geleistet wurden.[9] Ihre verfassungsrechtliche
Problematik lag darin, dass Zolleinnahmen gemäß Art 38 der
Reichsverfassung in die Reichskasse flossen.[10]
Politisch
war die Franckensteinsche Klausel heftig umkämpft. Der Verteidigung Bismarcks,
schon die Existenz eines Konflikts mit der Verfassung in Abrede zu stellen,
wurde von den Gegnern der Klausel entgegengehalten, sie ändere „dieses
Verhältnis und dieses Recht gänzlich um“.[11]
Gleichzeitig lobte die Opposition den Reichskanzler jedoch dafür, dass er die
Klausel nicht als Verfassungsänderungsantrag betrachtet und eingebracht hatte.
Hänel etwa hielt fest, dass „dieses Amendement dem Geist und Sinn der
Verfassung widerspricht“; gleichzeitig verwehrte er sich aber gegen die
„Ansicht von rein formalistischem Standpunkt aus, daß hier eine Verfassungsänderung
vorliegt.“[12]
Ein
Widerspruch zur Verfassung, der ohne ihre Änderung vonstatten gehen sollte? Was
in begrifflicher Hinsicht prima facie als inkonsistent erscheinen mag, ergab
politisch seinen guten Sinn. Denn bei aller Vehemenz, mit denen die Gegner die
Franckensteinsche Klausel bekämpften, wollten sie doch auch verhindern, sie in
der Verfassung selbst festzuschreiben. Der gewählte Weg, sie durch einen mit
verfassungsändernden Mehrheiten gefassten Beschluss in § 8 Zolltarifgesetz
zu integrieren, sollte wenigstens die Möglichkeit offen lassen, die
Überweisungsklausel zu einem späteren Zeitpunkt mit einfachen Mehrheiten wieder
aus der Rechtsordnung zu eliminieren.[13]
Anders
gewendet: Die gewählte Technik zielte zwar zum einen darauf ab, den mit
qualifizierten Mehrheiten beschlossenen Rechtstext einer inhaltlichen
Überprüfung am Maßstab der Verfassung zu entziehen; zum anderen wollte sie aber
gleichzeitig verhindern, dass eben dieser Rechtstext seinerseits an der
erhöhten Bestandskraft des Verfassungsrechts Anteil hatte und für sonstige
Gesetzesbestimmungen als Prüfungsmaßstab fungierte.
Sieht man
von vereinzelten Gegenstimmen ab, hieß die Staatsrechtslehre die mit diesem Präzedenzfall
aus der Taufe gehobene Praxis gut. Politische Probleme warf sie in weiterer
Folge offenbar nicht auf. Die Weimarer Nationalversammlung sah jedenfalls
keinen Anlass, ihr in der neuen republikanischen Verfassung eine Absage zu
erteilen.[14]
Unter der
Weimarer Verfassung bildete eine Regelung über die Bannmeile den ersten
Konfliktfall. Ihre Einfügung in das Versammlungsrecht[15]
wurde mit verfassungsändernden Mehrheiten beschlossen, da Art 123 WRV Meldepflichten
und behördliche Untersagungen, nicht aber generelle Versammlungsverbote zuließ,
von welchen im Einzelfall durch Bewilligung Ausnahmen verfügt werden konnten.
Anders als unter dem Kaiserreich mehrten sich jedoch die Stimmen aus der
Wissenschaft, die gegen diese Art der stillschweigenden Verfassungsänderung
Bedenken erhoben.[16]
Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Technik impliziter Änderung
zunehmend zur Erzeugung von Verfassungsrecht im materiellen Sinn genutzt wurde.
Ein Beispiel bildete das Ermächtigungsgesetz 1923, das die Regierung mit
Vollmachten zur Erlassung weitreichender Verordnungen ausstattete, die mit dem
Legalitätsprinzip der Weimarer Verfassung brachen.[17]
Im Jänner
1932 erhielt der Gelehrtenstreit im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine
Fortsetzung der Präsidentschaft von Hindenburg eine politische Dimension. Die
Regierung Brüning war bestrebt, dem greisen Hindenburg einen Wahlkampf zu
ersparen, und warb für ein verfassungsänderndes Gesetz, mit welchem sein Mandat
abweichend von Art 41 Abs 1 WRV[18]
ohne Volkswahl für eine volle Amtsperiode verlängert werden sollte. Nach der
Absage Hugenbergs war sie auf die Kooperation der Nationalsozialisten
angewiesen. Hitler nutzte die Gelegenheit, sich in der Öffentlichkeit als
Verfassungsschützer zu präsentieren, und machte sich in zwei Denkschriften an
Brüning die Argumente der Kritiker impliziter Verfassungsänderungen zu eigen.[19]
Kurz darauf selbst an die Macht gelangt, hinderte ihn das freilich nicht, sich
diese Macht im Wege eines Ermächtigungsgesetzes auf Dauer zu sichern. Das
Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, das der
Herrschaft Hitlers und seiner Regierung als Basis diente, ließ die Weimarer
Reichsverfassung in formeller Hinsicht unangetastet und wurde dementsprechend
als verfassungsänderndes Gesetz verabschiedet.[20]
Die Technik
impliziter Verfassungsänderung erschien nach dem Zweiten Weltkrieg als
Achillesferse der Weimarer Reichsverfassung, die ihr vollständiges Aushebeln
ermöglicht hatte. Um solches in Hinkunft zu verhindern, schrieb Art 85 der
Verfassung von Württemberg-Baden 1946 in Art 85 Abs 4 Folgendes vor:
„Ohne vorherige Änderung der Verfassung können
Gesetze, durch die Bestimmungen der Verfassung durchbrochen würden, nicht
beschlossen werden.“
Diese
Bestimmung diente den Beratungen auf Herrenchiemsee[21]
und im parlamentarischen Rat als unmittelbares Vorbild.[22]
Der Gehalt
des Art 79 Abs 1 GG erscheint in einem Maße klar, das den Eindruck
vermittelt, für juristische Spitzfindigkeiten bleibe kein Raum. Und doch rankt
sich um das Textänderungsgebot so manche Kontroverse.
Gemeinsamer
Ausgangspunkt aller Erörterungen ist die Einsicht, dass Art 79 Abs 1
GG ein Gebot der kodifikatorischen Geschlossenheit der Verfassungsurkunde
enthält.[23] Das
Grundgesetz duldet keine anderen Verfassungen neben sich.[24] Es ist die Verfassungsurkunde selbst,
die über den Bestand des geltenden Verfassungsrechts erschöpfend Auskunft gibt.[25]
Was aus
diesem Telos folgt, ist hingegen alles andere als evident. Es sind vor allem
sechs Punkte, in denen die Auffassungen auseinandergehen.
— Einer
Strömung im Schrifttum zufolge soll Art 79 Abs 1 GG ein Verbot von
Verfassungsdurchbrechungen enthalten, das es unzulässig macht, die Verfassung
im Einzelfalle beiseite zu schieben.[26] Die herrschende Gegenauffassung, die
Art 79 Abs 1 GG nur auf die technisch-formelle Seite von
Verfassungsänderungen bezieht, hält Durchbrechungen für zulässig, sofern sie
nur im Text des Grundgesetzes integriert werden.[27]
Ermächtigungen zur „Verfassungsdurchbrechung“ innerhalb der Stammurkunde, wie
sie im Grundgesetz des öfteren begegnen, werden dementsprechend überwiegend als
unproblematisch angesehen.
— Einige
Autoren entnehmen dem Inkorporationsgebot ein Gebot der Verfassungsklarheit,
das gewährleisten soll, dass jeder Leser ohne Schwierigkeiten erkennen kann,
was de constitutione lata gilt.[28]
Dementsprechend müsse die Technik einer „artikelmäßigen Einzel-Kundmachung“
gewählt werden,[29] oder anders
gewendet: die durch die Änderung unmittelbar erfassten Bestimmungen des
Grundgesetzes seien durch Anführung im Änderungsgesetz gesondert auszuweisen.[30] Der Rechtsprechung wie der
herrschenden Lehre gehen diese Forderungen sichtlich zu weit.[31] Die Kontroverse hat sich vor allem am
Beispiel der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft[32]
entzündet.
— Die
herrschende Meinung trifft sich aber mit den von ihr abgelehnten Auffassungen
dort, wo es um die Beurteilung von Verweisungen geht. Zumindest „unspezifische
Globalverweisungen“ gelten vielen Autoren als unzulässig;[33]
andere gehen einen Schritt weiter und fordern, dass dynamische Verweisungen bei
sonstiger Verfassungswidrigkeit unterbleiben müssen.[34] Nach der Gegenposition genügt es,
dass im Grundgesetz selbst zum Ausdruck kommt, ob und wieweit Inhalte des einfachen
Gesetzesrechts, des Völkerrechts oder außerrechtlicher Standards als Gebote der
Verfassung rezipiert oder inkorporiert werden, ohne dass es darauf ankäme, ob
die Bezugnahme statisch oder dynamisch ist.[35]
— Viertens
wird unterschiedlich eingeschätzt, ob Art 79 Abs 1 GG vom Schutz des
Art 79 Abs 3 GG erfasstes ewiges Verfassungsrecht darstellt[36]
oder ob er auf dem von ihm vorgeschriebenen Weg der Textänderung wieder aus dem
Grundgesetz eliminiert werden kann.[37]
— Eine
fünfte Divergenz besteht bei der Beurteilung der Zulässigkeit von
Verfassungsänderungen im Wege eines völkerrechtlichen Vertrages, der in
Deutschland eines Zustimmungsgesetzes bedarf. So gut wie alle denkbaren
Positionen werden vertreten.[38]
Das BVerfG hat die Grundgesetzänderungen im Einigungsvertrag mit einer
Begründung gebilligt, die die historische Sondersituation in das Zentrum rückt.[39]
— Sechstens
schließlich gibt das Verhältnis des Inkorporationsgebots zu den Bestimmungen
des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts zu Diskussionen Anlass. Der
überwiegende Teil der Lehre qualifiziert die Öffnungsklauseln, mit denen
Hoheitsgewalt auf die Gemeinschaftsorgane übertragen wird, als Ausnahmen zu
Art 79 Abs 1 GG;[40]
die Gegenmeinung sieht das Inkorporationsgebot durch die
„Verfassungsänderungen“ im Wege primären oder sekundären Gemeinschaftsrechts
von vornherein nicht betroffen, weil es lediglich die formelle Seite betrifft und
kein Gebot enthält, Einschränkungen der Reichweite grundgesetzlicher Normen im
Verfassungstext sichtbar zu machen.[41]
Die
Verwirrung im Schrifttum hat seine Ursache in einem Begriff, der von den
meisten Autoren verwendet wird, über dessen Inhalt aber alles andere als
Klarheit herrscht. Zunächst wird Art 79 Abs 1 GG übereinstimmend als
Verbot von Verfassungsdurchbrechungen gelesen, und sodann wird unter
Verfassungsdurchbrechung ganz Verschiedenes verstanden.[42]
Nach
gängigem Verständnis setzt sich bei einer Verfassungsdurchbrechung „der
Gesetzgeber unter Wahrung der Voraussetzungen einer Verfassungsänderung im
Einzelfall über einen Verfassungssatz hinweg, ohne daß der Text des
Verfassungsgesetzes geändert und ohne daß die Geltung des durchbrochenen
Verfassungssatzes im übrigen berührt wird“.[43]
In dieser Definition stehen formelle Kriterien neben materiellen
Bestimmungsgründen. Ihre Trennung durch Bildung eines formellen und eines
materiellen Begriffs vermag einen guten Teil der Konfusion zu vermeiden.
In der
Weimarer Debatte bezeichnet der Begriff Verfassungsdurchbrechung primär ein
inhaltliches Phänomen: Das Beiseiteschieben von Normen der Verfassung im und
für den „Einzelfall“, die Aushebelung der generellen und/oder abstrakten Regel
der Verfassung durch die individuelle und/oder konkrete als verfassungsändernd
beschlossene Ausnahme. Eine solche Durchbrechung konnte und kann durchaus auch
durch Normen bewirkt werden, die in die Stammurkunde integriert werden. Kaum
eine Verfassung kommt ohne sie aus, weil im Rahmen von Übergangsbestimmungen
regelmäßig Abstriche vom eigenen Normenprogramm gemacht werden.
Zu solchen
materiellen Verfassungsdurchbrechungen sagt Art 79 Abs 1 GG schlicht
und ergreifend nichts aus, weil er sich lediglich auf die
Verfassungsdurchbrechung in einem formellen Sinn bezieht.[44]
Alles, was zum Verfassungsrecht zählen soll, muss bei sonstiger Unwirksamkeit
in die Verfassungsurkunde Eingang finden. Das bedeutet weder ein Gebot,
Ausnahmen von einer Regel im Text der Regel als solche zu kennzeichnen oder die
Bestimmung an systematisch passendem Ort einzufügen, noch macht es
Festsetzungen im Einzelfall zulässig, die von allgemeinen Regeln abweichen.
Im Übrigen
bleibt auch völlig im Vagen, aus welcher Quelle sich ein Verbot materieller
Durchbrechungen speisen sollte. Art 79 Abs 3 GG, auf den mitunter
Bezug genommen wird, scheidet aus mehreren Gründen aus: Erstens zählt ein
Inkorporationsgebot weder zu den Essentialia einer rechtsstaatlichen Demokratie,
noch wird in der Ewigkeitsklausel des Art 79 Abs 3 GG auf Art 79
Abs 1 GG Bezug genommen, was nahegelegen hätte, weil die Verfassung von
Württemberg-Baden 1946 in Art 85 Abs 5 auch das Inkorporationsgebot
als Teil des unabänderlichen Verfassungskerns ausgewiesen hatte. Zweitens
vermöchte auch eine Bestandsgarantie des Art 79 Abs 1 GG nichts daran
zu ändern, dass er sich nur auf die äußere Form bezieht und zu Fragen des
Inhalts schweigt. Aus diesem Grund münden alle Versuche einer Ableitung eines materiellen
Durchbrechungsverbots früher oder später in Überlegungen, die das positive
Recht transzendieren.[45]
Die übrigen
Streitfragen um die richtige Auslegung des Art 79 Abs 1 GG sind
weniger leicht zu beantworten, und sie können für die Zwecke dieser
Untersuchung auf sich beruhen. Denn es ist eine in Österreich de
constitutione lata zu entscheidende Frage, ob jedwede Bezugnahme genügen
soll oder ob Verweisungen und Rezeptionen Grenzen gesetzt sein sollen. Um einen
Eindruck zu vermitteln, welche Phänomene angesprochen sind, seien einige
Vorschriften des Grundgesetzes wiedergegeben, gegen die in der literarischen
Diskussion der Vorwurf erhoben wurde, die Grenzen des nach Art 79
Abs 1 GG Zulässigen zu überschreiten.
Am
stärksten unter Druck geraten ist fraglos Art 142a GG, der bis zu seiner
Aufhebung im Jahre 1968 Folgendes feststellte:
„Die Bestimmungen dieses Grundgesetzes stehen
dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der am 26. und 27. Mai 1952 in Bonn und
Paris unterzeichneten Verträge (Vertrag über die Beziehungen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten und Vertrag über die Gründung
der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft) mit ihren Zusatz‑ und
Nebenabkommen, insbesondere dem Protokoll vom 26. Juli 1952, nicht entgegen.“
Diese
Bestimmung wird bis heute von namhaften Autoren aus durchaus verschiedenen
Gründen als verfassungswidriges Verfassungsrecht betrachtet.[46]
Einhellig
als verunglückt und teilweise auch als problematisch erachtet wird sodann eine
im Jahre 1954 gemeinsam mit Art 142 in das Grundgesetz eingefügte
Klarstellung im zweiten Satz des Art 79 Abs 1, nach welcher es heißt:
„Bei völkerrechtlichen Verträgen, die eine
Friedensregelung, die Vorbereitung einer Friedensregelung oder den Abbau einer
besatzungsrechtlichen Ordnung zum Gegenstand haben oder der Verteidigung der Bundesrepublik
zu dienen bestimmt sind, genügt zur Klarstellung, daß die Bestimmungen des
Grundgesetzes dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der Verträge nicht
entgegenstehen, eine Ergänzung des Wortlautes des Grundgesetzes, die sich auf
diese Klarstellung beschränkt.“
Bei
unbefangener Lektüre drängt sich der Eindruck auf, diese Klausel wolle als
Ausnahme etwas erlauben, was die Regel im ersten Absatz verbietet: die
Herstellung der Übereinstimmung der Verfassung durch Bezugnahme auf
unterverfassungsrechtliche Bestimmungen. Die wohl herrschende Auffassung
erachtet diese Technik jedoch nicht als durch Art 79 Abs 1 erster
Satz GG verpönt, weil sie als Wortlautänderung dem Urkundlichkeitsgebot Genüge
tut, und sieht in der Klarstellung daher eine überflüssige Bestimmung, die nur
Verwirrung gestiftet anstatt Interpretationsunsicherheiten beseitigt hat.[47]
Es gibt jedoch auch Stimmen, die den zweiten Satz als verfassungsrechtlich
bedenklich einstufen,[48]
und Stellungnahmen, die sich um den Nachweis eines originären Gehalts bemühen.[49]
Ebenfalls
geteilte Aufnahme hat Art 143 GG gefunden.[50]
Er hat heute folgende Fassung:
„(1) Recht in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrags
genannten Gebiet kann längstens bis zum 31. Dezember 1992 von Bestimmungen
dieses Grundgesetzes abweichen, soweit und solange infolge der
unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche
Ordnung noch nicht erreicht werden kann. Abweichungen dürfen nicht gegen
Artikel 19 Abs. 2 verstoßen und müssen mit den in Artikel 79 Abs. 3 genannten
Grundsätzen vereinbar sein.
(2) Abweichungen von den Abschnitten II, VIII,
VIIIa, IX, X und XI sind längstens bis zum 31. Dezember 1995 zulässig.
(3) Unabhängig von Absatz 1 und 2 haben Artikel
41 des Einigungsvertrags und Regelungen zu seiner Durchführung auch insoweit
Bestand, als sie vorsehen, daß Eingriffe in das Eigentum auf dem in Artikel 3
dieses Vertrags genannten Gebiet nicht mehr rückgängig gemacht werden.“
Manche
Stimmen im Schrifttum sehen hierin eine Durchbrechung von Art 79
Abs 1 GG, die jedoch deshalb verfassungsrechtlich zulässig sei, weil sie
in Übereinstimmung mit der durchbrochenen Vorschrift im Text des Grundgesetzes
ausgewiesen wird.[51]
Last, not
least sind die Art 23 und 24 GG zu erwähnen, die zur Teilnahme an der
Integration bzw zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche
Einrichtungen und zur Teilnahme an einem System der kollektiven Sicherheit
ermächtigen. Zahlreiche Autoren sehen hierin einen zweiten Weg der
Verfassungsänderung, manche beklagen, dass die Integrationsoffenheit der Bundesrepublik
die kodifikatorische Geschlossenheit ihrer Verfassung nicht mehr zulasse, und
einige wenige leiten hieraus verfassungsrechtliche Bedenken ab.[52]
Ein
weiteres Beispiel gilt als unproblematisch und verdeutlicht, dass jedenfalls
statische Verweisungen durch Art 79 Abs 1 GG nicht verboten sind.[53]
In Art 140 heißt es seit dem Jahre 1949:
„Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138,
139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil
dieses Grundgesetzes.“
Zur sich
aufdrängenden Frage, auf welche Art und Weise die durch diese Bestimmung
rezipierten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung abgeändert werden
können, konnte im Schrifttum keine Stellungnahme aufgefunden werden. Es
erscheint aber zwingend, dass Änderungen nicht im Wortlaut der rezipierten
WRV-Artikel, sondern im Grundgesetz selbst vorgenommen werden müssen – etwa,
indem ein Art 140 Abs 2 GG eingefügt wird, der die Geltung des Art
137 WRV in einer modifizierten Fassung anordnet. Das zeigt, dass Art 79
Abs 1 GG ein durchaus zweischneidiges Schwert ist: Er enthält nicht nur
ein Novellierungsgebot, sondern in Bezug auf rezipierte Verfassungsgehalte auch
ein Verbot von Novellen, welches zu einer umständlichen Amendment-Technik
zwingt, wenn es um die Abänderung von Rechtsvorschriften geht, die das
Grundgesetz zwar adoptiert, aber nicht vollständig in seinen Text aufgenommen
hat.
Schließlich
sei darauf hingewiesen, dass auch Gesetzesvorbehalte die Verfassung in eine
Abhängigkeit von Standards und Festsetzungen außerhalb der Verfassung bringen:
Sie ermächtigen den Gesetzgeber vielfach, verfassungsrechtlich gewährleistete
Rechte zu beschneiden oder sonst über die sachliche
Reichweite von Geboten zu disponieren.[54]
Der Vorwurf, solches verstoße gegen Art 79 Abs 1 GG, ist aus
verständlichem Grund bis heute nicht erhoben worden.
Die Leistungsfähigkeit von
Inkorporationsgeboten lässt sich empirisch schwer evaluieren. Dennoch sei hier
der reichlich spekulative Versuch gemacht, ihren Nutzen wie ihren Schaden
anhand zweier Beispiele zu illustrieren.
Die mittlerweile ebenfalls schon in ein
gesetztes Alter eingetretene deutsche Verfassung hat nicht nur die
Geschlossenheit der Form gewahrt, sondern weitgehend auch ihre
inhaltlich-systematische Konsistenz. Unübersehbar ist allerdings, dass sich
ältere und jüngere Bestimmungen in Sprache und Duktus fundamental
unterscheiden.[55] Die neueren
Artikel haben regelmäßig mehr Absätze und wesentlich längere Absätze als die
älteren Bestimmungen; sie gehen mit technischem Zugriff auf Einzelheiten ein;
und es kommt auch vor, dass sie auf Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts reagieren.[56]
Dennoch hält sich die inhaltliche Zersplitterung in Grenzen.
Bewährt haben sich insbesondere die Artikel
über die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern. Sie dürften einen
Systemzwang entfaltet haben, der Begleitregelungen zu Kompetenzübertragungen
auf den Bund ebenso verhindert hat[57]
wie Teilungen von Materien und die Verbreitung von Sondertypen, von denen es im
österreichischen Verfassungsrecht (im Gefolge des Sündenfalles von 1929 auch im
B‑VG) nur so wimmelt.
Inkorporationsgebote müssen sich allerdings
nicht notwendigerweise als heilsame Therapie auswirken. Am Beispiel der
Bundesverfassung der Schweizerischen Bundesverfassung 1874 lässt sich zeigen,
dass sie mitunter auch kontraproduktive Effekte haben.
Das Verfassungsrecht der Schweiz ist seit
jeher in einer Urkunde konzentriert. Dennoch oder gerade deshalb war sein
Zustand dermaßen desaströs, dass Ende des 20. Jahrhunderts eine Totalrevision
in Angriff genommen wurde, weil trotz Inkorporation der Änderungen in die
Urkunde ihre systematische Geschlossenheit im Laufe der Jahre abhanden gekommen
war. So wurden einzelne Grundrechte in die Verfassung integriert,[58]
andere nicht; die Kompetenzverteilung entbehrte als Aneinanderreihung der
Zentralisierungsschübe jeder inneren Systematik, und bei den Staatszielen
folgte ihre Verankerung in der Konstitution ebenfalls keinem durchgängigen
Konzept.[59] Hinzu kamen
detailversessene Bestimmungen, die den Stempel ihrer Entstehungszeit
überdeutlich auf der Stirn trugen,[60]
und die Neigung, die Ergänzungsartikel immer technischer und länger zu
textieren und sie mit nicht in den systematischen Kontext passenden Begleitregelungen
zu überfrachten, weil in politisch kontroversen Punkten Kompromisse nur auf
diesem Wege erzielbar waren. Dementsprechend enthielt die Verfassung ebenso
viele unsinnige Einzelfestlegungen, die in einer Verfassung keinen rechten
Platz haben, wie das heute im österreichischen Verfassungsrecht der Fall ist.[61]
Infolgedessen war die Bundesverfassung 1874 am Ende ihrer Geltung insbesondere
im ersten Abschnitt nahezu unlesbar. Dieses Schicksal ist dem B‑VG erspart
geblieben. Da es Nebenverfassungen zulässt, musste und muss nicht jede
Verfassungsänderung in die vorgegebene Systematik eingezwängt werden.
Inkorporationsgebote
zwingen den Verfassungsgesetzgeber dazu, Änderungen der Verfassung in Novellen
zur Stammurkunde zu kleiden. Der Unterschied zur anglo-amerikanischen
Amendment-Technik ist allerdings nicht so groß, wie man nach einem ersten Blick
meinen könnte. Denn die Einheit der Urkunde, deren Schutz Art 79
Abs 1 GG bezweckt, ist im Grunde reine Fiktion. In den amtlichen Verlautbarungen
ist von ihr nichts zu bemerken, und sie ist deshalb für den Bürger nicht
greifbar.
Der
Algorithmus, nach dem vorzugehen ist, wenn das geltende Verfassungsrecht
erhoben werden soll, ist in Deutschland und in Österreich im Grunde der
gleiche. Es gilt, die amtlichen Gesetzblätter von Beginn, dh von 1949 bzw von
1920 an zu durchforsten und sie daraufhin zu sichten, ob sie Abänderungen des
Grundgesetzes bzw als Verfassungsgesetze oder Verfassungsbestimmungen
ausgewiesene Vorschriften enthalten. Das Inhaltsverzeichnis hilft bei dieser
mühsamen Arbeit nur beschränkt weiter: in Österreich nicht, weil
Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen zwar als solche bezeichnet
werden müssen, aber ihr Verfassungsrang im Titel des Kundgemachten (im
Unterschied zu Bundesverfassungsgesetzen[62])
nicht zum Ausdruck kommt; in Deutschland nicht, weil Änderungen des
Grundgesetzes auch in einer Sammelnovelle versteckt sein können, deren Titel
über die erfolgten Grundgesetzänderungen keinen Aufschluss gibt.[63]
„Verfassungsänderungen
sollten eigentlich – im Idealfall – so geschehen, dass sämtliche alten Ausgaben
eingezogen, eingestampft und neue Texte gedruckt werden.“ Diese Wortmeldung von
Carlo Schmid, dem Vorsitzenden des Bonner Parlamentarischen Rats, die im Zuge
der Beratungen über den späteren Art 79 Abs 1 GG gefallen ist,[64]
bringt auf den Punkt, dass es mit einem Inkorporationsgebot allein nicht getan
ist. Es muss durch eine Verpflichtung zur Neukundmachung oder
Wiederverlautbarung der geänderten Verfassung ergänzt werden, um seine volle
Wirkung entfalten zu können.
Wenn man
sich durch den Umstand, dass die Einheit der Urkunde durch Textausgaben
hergestellt wird, die von privater Hand herausgegeben werden, nicht bluffen
lässt, zeigt sich rasch, dass es auch mit dem äußeren Zustand des Grundgesetzes
nicht zum Besten steht. Der letzte amtliche Text des Grundgesetzes stammt aus
dem Jahr 1964 und findet sich im Teil III des Bundesgesetzesblattes, also
„nicht in der Beletage des Bundesgesetzblattes, sondern in dessen tristen
Hinterhof, der zusehends zu einer ‚Bereinigungs’-Ruine verkommt“.[65]
Seither sind ungefähr 40 Novellen ergangen, die tiefe Einschnitte in die
Substanz der Verfassung bewirkt haben. Eine Verbesserung dieses Zustandes ist
nicht in Sicht.
Andere
Verfassungen sind andere Wege gegangen. Neukundmachungsverpflichtungen stellen
zwar heute noch keinen internationalen Standard dar, sie haben aber in Europa
eine gewisse Verbreitung. Auf die einschlägigen Bestimmungen in den
Verfassungen der Niederlande (Art 141) und Portugals (Art 287
Abs 2) wurde bereits unter I. hingewiesen. Weiters sind Art 25 Abs 5
der Verfassung Irlands und Art 198 der koordinierten Verfassung Belgiens
1994 zu nennen, die zwar keine Verpflichtung, aber immerhin eine Ermächtigung
zur Neukundmachung der Verfassung durch den Präsidenten bzw im Zusammenwirken
von verfassungsgebenden Kammern und König enthalten.
Auch
Österreich lässt sich in der Reihe der Beispiele anführen. In der
Zwischenkriegszeit hatte das B‑VG in diesem Punkt regelrecht Pioniercharakter,
weil nach den beiden großen Novellen 1925 und 1929 die Verfassung auf Basis von
Ermächtigungen in den Übergangsnovellen[66]
in ihrer geänderten Fassung durch die Bundesregierung wiederverlautbart worden
war.[67]
Neben der
Neukundmachung oder Wiederverlautbarung, die die äußere Einheit der sich
wandelnden Verfassung sichern soll, und dem Inkorporationsgebot, das an der
äußeren Form ansetzt, aber sich durch dieses Mittel eine Wahrung der
systematischen Geschlossenheit verspricht, finden sich weitere Instrumente, die
dazu beitragen können, dass Verfassungen ihre innere Einheit und ihre
Maßstabsfunktion behalten.
In erster
Linie ist es natürlich die innere Stufung der Verfassung und zuvörderst die
Ausgestaltung der Abänderungserfordernisse, die über die Stabilität bzw
Flexibilität der Verfassung Auskunft geben. Auf sie wird unter III. eigens
eingegangen werden. Schon in diesem Abschnitt will ich jedoch, Überschneidungen
und eine gewisse Beliebigkeit der Zuordnung in Kauf nehmend, Bestimmungen
vorstellen, die unabhängig von Quoren und unabänderlichen Verfassungsgehalten
durch zeitliche Schranken gewährleisten wollen, dass Verfassungen im
Spannungsfeld zwischen Bewahrung und Wandel das rechte Maß nicht verfehlen.
Speed
kills. Was für Legistik
ganz allgemein zutrifft, gilt für die Verfassungslegistik in erhöhtem Maße. Um
eine Konstitution vor dem vorschnellen Zugriff des Verfassungsgesetzgebers zu
schützen, bietet es sich an, die Verfassungsrevision nur in gewissen Abständen
zuzulassen oder sie durch Fristen zu bremsen. Solche zeitlichen Begrenzungen
können Räume für öffentliche Debatten eröffnen; sie können dazu beitragen, dass
sich Änderungen auf das Wesentliche konzentrieren; und sie können den
Verfassungsrevisionen sogar einen zeitlichen Rhythmus vorgeben.
Einige
Verfassungen lassen Änderungen nur in periodischen Abständen zu. So heißt es
beispielsweise in Art 110 Abs 6 der Verfassung der Republik
Griechenland 1975:
„Eine Verfassungsänderung vor dem Ablauf von
fünf Jahren nach dem Abschluss der vorhergehenden ist unzulässig.“
Auch die
portugiesische Verfassung gestattet in Art 284 Abs 1 ihre Abänderung nur
alle fünf Jahre. Nach Art 284 Abs 2 kann jedoch die Versammlung der
Republik während der „Sperrzeit“ durch Vier-Fünftel-Mehrheit eine
Sonderrevision beschließen.
Während
solche absoluten zeitlichen Grenzen die Ausnahme bilden, begegnen recht häufig
Bestimmungen, die Verfassungsrevisionen während bestimmter Zeiten verbieten: Im
Krieg, während des Ausnahmezustandes oder in Zeiten der Bundesintervention
gegen renitente Gliedstaaten sollen die Fundamente der staatlichen Ordnung
konstant bleiben.[68]
Eine
ähnliche Funktion haben Verfassungsbestimmungen, die die Revision der
Verfassung durch eine Kombination von Verfahrenserfordernissen mit zeitlichen
Elementen erschweren. Die Verfassungen bieten insoweit ein buntes Bild.
Art 165 der Verfassung der Republik Aserbeidschan 1995 verlangt für die
Verfassungsänderungen zwei übereinstimmende Beschlüsse des Parlaments, zwischen
welchen sechs Monate verstreichen müssen. Nach der Bulgarischen Verfassung 1991
müssen es gemäß Art 155 sogar drei Beschlüsse sein, die an verschiedenen
Tagen zu fassen sind. Finnlands Grundgesetz sieht in § 73 nach der Annahme
eines Revisionsvorschlags ein Ruhen der Vorlage bis zur ersten Parlamentssitzung
ein Jahr nach den Reichstagswahlen vor, wenn der Reichstag nicht durch eine
Fünf-Siebtel-Mehrheit die Vorlage als dringlich erklärt.
Die
Verfassung der Republik Estland 1992 verlangt wiederum in Art 164, dass
zwischen Parlamentsbeschluss und der verpflichtend vorgesehenen Volksabstimmung
über die Verfassungsänderung drei Monate liegen. Eine vergleichbare zeitliche
Eingrenzung des Referendums findet sich in Art 128 der Australischen
Verfassung von 1900: Die Zeitspanne von zwei bis sechs Monaten nach dem Parlamentsbeschluss
soll sicherstellen, dass einerseits für eine öffentliche Diskussion genügend
Zeit bleibt, aber andererseits wiederum auch nicht so viel Zeit vergangen ist,
dass das Volk im Zeitpunkt der Abstimmung das Interesse am Thema verloren hat.
Andere
Verfassungen setzen schon dem Parlamentsbeschluss Fristen. Beispielsweise darf
nach Art 102 Abs 2 der Verfassung Georgiens das Parlament über einen
Antrag auf Verfassungsänderung erst einen Monat nach dessen Einlangen
entscheiden.
Nicht nur
Häufigkeit und Geschwindigkeit von Änderungen, auch die Überalterung einer
Konstitution kann ihre normative Kraft und ihre Funktionen gefährden. Eine
Verfassung wird irrelevant, wenn sie auf drängende Fragen keine Antworten
bereithält und dem tagespolitischen Druck nichts entgegenzusetzen vermag.
Aus diesem
Grund beugen einzelne Verfassungen ihrer Verkrustung dadurch vor, dass sie die
eigene Revision nicht bloß ermöglichen, sondern sie aktiv befördern. Die
Konstitution des Staates Florida von 1968 sieht zB in dem im Jahr 1988
eingefügten Art XI Sect 2 vor, dass erstmals im Jahre 2017 und sodann alle
zwanzig Jahre eine Revisionskommission einberufen werden muss.[69]
Diese Kommission hat den Auftrag, die Verfassung zu prüfen, öffentliche
Anhörungen durchzuführen und gegebenenfalls Änderungsvorschläge zu erstatten,
die den Wählern bei den nächsten allgemeinen Wahlen zur Annahme oder Verwerfung
vorgelegt werden müssen.
Die
Verfassung des Staates Alaska 1956 verpflichtet in Art XIII Sect 3
den Statthalter, wenn zehn Jahre lang kein Verfassungskonvent stattgefunden,
dem Volk die Frage zur Abstimmung vorzulegen, ob ein Konvent einberufen werden
soll. Wenn sich das Volk dafür ausspricht, sind spätestens bei den nächsten
landesweiten Wahlen Delegierte für den Konvent zu wählen, die die Revision der
Verfassung in die Hand zu nehmen haben.
Nachdem gemäß Punkt I.4.a) des Mandats auch
Vorschläge zur inneren Stufung der künftigen Verfassung zu den Pflichtaufgaben
des Ausschusses zählen, sei vor Überlegungen über die Ausgestaltung einer neuen
österreichischen Bundesverfassung in der gebotenen Kürze dargestellt, welche
Binnenhierarchien andere Verfassungen kennen und welche Besonderheiten bei der
Verfassungsrevision begegnen.
Eine erste
hierarchische Stufung ergibt sich in vielen Verfassungen aus dem Umstand, dass
sie die Aufhebung oder Abänderung mancher Inhalte verbieten. Derartige ewigen
Verfassungsartikel sind allgemein bekannt; als Beispiele sei auf Art 79
Abs 3 GG[70] und auf
Art 89 Abs 5 der französischen Verfassung[71]
verwiesen.[72]
Weiters
wird mitunter zwischen Gesamtänderungen und Teiländerungen der Verfassung
unterschieden.[73] Dass uns
diese Differenzierung nur allzu vertraut ist, verstellt allerdings den Blick
dafür, dass es sich hiebei regelmäßig gerade nicht um eine innere Strukturierung
der Verfassung handelt, die sich im Stufenbau nach der derogatorischen Kraft in
zwei Ebenen niederschlagen muss. Ideengeschichtlich ist die Unterscheidung
vielmehr der Lehre vom pouvoir constituant und den pouvoirs constitués
verpflichtet, die Verfassungsänderung und Verfassunggebung voneinander scharf
abgrenzt, um daraus im Übergang zu einer neuen Verfassung das Gebot der
Einbindung des Volkes abzuleiten bzw – an der historischen Wurzel – dem
Monarchen die Mitwirkung zu versagen.[74]
Interessanter
als die staatsphilosophische Folie ist im vorliegenden Zusammenhang aber ein
spezifisch juristisch-technischer Hintergrund der Unterscheidung. In einigen
Verfassungen, die sich der Differenzierung bedienen, ist sie als Konsequenz und
Ergänzung eines (expliziten oder impliziten) Inkorporationsgebotes konzipiert:
Wenn eine Verfassung Änderungen ihrer selbst nur im Wege der Novellierung
zulässt, dann verhindert sie dadurch zwangsläufig auch, dass sie zugunsten
einer völligen neuen Verfassung über Bord geworfen werden kann. Wenn es trotz
Kodifikationsgebot möglich bleiben soll, die Urkunde auszutauschen, dann muss
dieser Weg durch eine Totalrevisionsnorm eröffnet werden. In Deutschland ist es
zB Art 146 GG, der die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue
gesamtdeutsche Verfassung eröffnet, in der Schweiz der Art 193 über die
Totalrevision und in Spanien der Art 168 über die Gesamtrevision.
Die
Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht ist so alt
wie der Konstitutionalismus selbst. Es gibt kaum einen Staat, in dem Änderungen
seiner Verfassung nach den auch für einfache Gesetze geltenden Regeln ablaufen,
und in den jungen Demokratien Osteuropas ist der Vorrang der Verfassung nahezu
durchwegs durch eine über ihre Einhaltung wachende Verfassungsgerichtsbarkeit
mit der Kompetenz zur Gesetzesprüfung abgesichert.
Gleichwohl
ist der Dualismus zwischen Verfassungsrecht und Gesetzesrecht nicht überall
eine schroffe Alternative. Viele Verfassungen kennen Zwischenformen, welche den
Detailreichtum und die juristische Präzision von Gesetzesrecht mit dem besseren
Bestandschutz von Verfassungsrecht verbinden.
Bei Lichte
besehen bedeutet schon das Nebeneinander einer Haupturkunde und sonstigen
Verfassungsgesetze die Trennung der Verfassung in einen strategischen und einen
operativen Teil. In Staaten, in denen dieser Weg versperrt ist, weil sie ihr
Verfassungsrecht in einer einzigen Urkunde konzentrieren, begegnen des öfteren
funktionale Äquivalente in Form von Zwischenstufen zwischen Verfassungsgesetz
und einfachem Gesetz. Und es kommt nicht überraschend, dass sie meist dort zum
Einsatz gelangen, wo es um die Erlassung von Verfassungsrecht im materiellen
Sinne geht.
Standardfall
ist hiebei die Geschäftsordnung des Parlaments. Sie muss nicht nur in
Österreich mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten verabschiedet
werden.[75]
Auch in Schweden[76] und im Iran[77]
werden diese Quoren verlangt. Ebenfalls verbreitet sind solche qualifizierte
Mehrheiten im Wahlrecht,[78]
bei Änderungen der Staatsgrenze,[79]
im Zusammenhang mit Amnestien und dem Erlass von Strafen,[80]
bei Minderheitenrechten[81]
sowie bei der Einräumung von Autonomie an Gliedstaaten oder Regionen.[82]
Nicht
selten wird das Zwei-Drittel-Erfordernis mit anderen Erschwernissen kombiniert.
In Belgien können die Grenzen der vier Sprachgebiete nach Art 4 nur durch
ein Gesetz geändert werden, das in beiden Kammern von
einer Zwei-Drittel-Mehrheit
der Abgeordneten der betroffenen Sprachgruppen gebilligt wird, wobei in jeder
Kammer von jeder dieser Sprachgruppen die Mehrheit ihrer Mitglieder versammelt
sein muss. Dieses Verfahren findet außerdem Anwendung, wenn durch Gesetz der in
Art 77 Abs 1 enthaltene Katalog jener Angelegenheiten erweitert
werden soll, in welchen Abgeordnetenkammer und Senat gleichermaßen zuständig
sind.
Wohl am
weitesten ist der Kreis der Zwei-Drittel-Materien in Portugal gezogen.
Art 168 Abs 6 der Verfassung fordert eine solche qualifizierte
Mehrheit für das Gesetz über das Wahlrecht der Auslandsportugiesen
(Art 121 Abs 2), für das Wahlgesetz (Art 149) und für Gesetze
über sonstige in Art 164 angeführte Angelegenheiten. Zu den letzteren
zählen die Amtsträgerwahl und der Volksentscheid, die Organisation, die
Tätigkeit und das Verfahren des Verfassungsgerichts, Regelungen über den
Belagerungs‑ und Ausnahmezustand, über kommunale Selbstverwaltung, über den
Geheimdienst uvam. Zwei-Drittel-Gesetze haben gemäß Art 112 Abs 3 im
Vergleich zu einfachen Gesetzen eine verstärkte Geltung.
Ebenfalls
der Erwähnung wert ist eine Konstruktion in der Verfassung von Kasachstan. Sie
unterscheidet zwischen Änderungen und Ergänzung der Verfassung, die einer
Drei-Viertel-Mehrheit bedürfen, und Verfassungsgesetzen, für die eine
Zwei-Drittel-Mehrheit genügt.[83]
Mit
Zwei-Drittel-Gesetzen vergleichbar ist die vor allem im romanischen Rechtskreis
beheimatete Institution von Organgesetzen oder verfassungsausführenden
Gesetzen. Darunter fallen jene Gesetze, auf die in der Verfassung eigens Bezug
genommen wird – sei es, weil sie zur Effektuierung der Verfassung notwendig
sind, sei es, weil die zu regelnde Angelegenheit politisch als besonders
wichtig erachtet wird. Für solche verfassungsausführenden Gesetze wird
regelmäßig die Zustimmung der absoluten Mehrheit der Abgeordneten verlangt,[84]
und sie werden mitunter ausdrücklich mit verstärkter Geltung ausgestattet.[85]
Die
Angelegenheiten, für welche dieser Gesetzestypus verpflichtend vorgesehen ist,
gleichen jenen Materien, für die andere Verfassungen Zwei-Drittel-Mehrheiten
einfordern, und dort, wo beide Typen vorkommen, überschneiden sie sich zum
Teil.[86]
Als Beispiel sei auf die spanische Verfassung verwiesen. Nach ihr zählen zu den
verfassungsausführenden Gesetzen
— das
allgemeine Wahlgesetz (Art 81 Abs 2 iVm Art 70) sowie die
Gesetze über Volksinitiativen (Art 87 Abs 3) und Referenda
(Art 92 Abs 3),
— die
Gesetze über die Entwicklung der Grundrechte (Art 81 Abs 1 iVm
Art 55 Abs 2),
— das
Gesetze über die Einrichtung des Volksanwalts (Art 54), über
Zusammensetzung, Organisation und Funktionen des Rechnungshofes (Art 136
Abs 4), über die Gerichtsbarkeit (Art 122), über das
Verfassungsgericht (Art 165) und über den Staatsrat (Art 107),
— die
Gesetze über den Autonomiestatus (Art 144), über die Übertragung von
Hoheitsrechten auf die autonomen Gemeinschaften (Art 150 Abs 2) und
über deren finanzielle Zuständigkeiten (Art 157 Abs 3),
— Zustimmungsgesetze
zur Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen
(Art 93),
— die
Gesetze über den Alarm‑, Belagerungs‑ und Ausnahmezustand (Art 116
Abs 1),
— die
Gesetze über die Sicherheitskräfte und ‑körperschaften (Art 104
Abs 2) und über die Grundlagen der Militärorganisation (Art 8
Abs 2).
Eine ebenso
prominente Rolle nehmen verfassungsausführende Gesetze in der Verfassung der
Republik Frankreich ein. Sie dienen ihr ebenfalls als Mittel, um die
Stammurkunde zu entlasten und zugleich ein hohes Maß an Flexibilität zu wahren,
und auch der Kreis jener Angelegenheiten, die durch verfassungsausführendes
Gesetz zu regeln sind, ist weit gezogen.[87]
Bemerkenswert ist indessen, dass man sich der Risken einer solchen
Nebenverfassung durchaus bewusst war und deswegen eine institutionelle
Sicherung eingebaut hat. Verfassungsausführende Gesetze können in Frankreich
gemäß Art 46 Abs 5 der Verfassung erst verkündet werden, nachdem der
Conseil constitutionel ihre Verfassungsmäßigkeit festgestellt hat.
In einigen
Verfassungen wird materielles Verfassungsrecht (auch) dadurch hervorgehoben,
dass die ihm gewidmeten Gesetze zwingend durch das Plenum des Parlaments
behandelt werden müssen, während die übrigen Angelegenheiten einer Behandlung
im Ausschuss überlassen werden (können).
In Italien
wird beispielsweise durch Art 72 Abs 4 der Verfassung das normale
Verfahren der Gesetzgebung verpflichtend vorgeschrieben in Verfassungs‑ und
Wahlfragen, für die Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen, für
Ermächtigungen zur Ratifikation internationaler Verträge und in Budgetfragen.
Eine vergleichbare Liste findet sich in Art 75 Abs 3 der Verfassung
Spaniens sowie in Art 72 der Verfassung Griechenlands.
Das österreichische B‑VG zählt zu den
flexiblen Verfassungen, weil im Normalfall einer Teiländerung letztlich eine
Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat den Ausschlag gibt. Andere Verfassungen
weisen mehr Beharrungsvermögen auf. Den folgenden Bemerkungen geht es nicht
darum, die Vielfalt möglicher Ausgestaltungen in ihrer ganzen Breite
darzustellen; sie wollen lediglich kurz in Erinnerung rufen, welcher Elemente
sich die Verfassungen zu diesem Zweck bedienen.
In
Bundesstaaten werden Verfassungsänderungen vielfach schon dadurch erschwert,
dass auch die Länder in den Revisionsprozess eingebunden sind. Bei aller Vielfalt
der Ausgestaltung können staatenbündische und unitarische Verfahren
unterschieden werden. In staatenbündischen Verfahren sind die Länder als
Gliedstaaten an der Verfassungsänderung im Bund beteiligt;[88]
bei unitarisch akzentuierten Ausgestaltungen ist die Länderkammer in den
Prozess involviert.[89]
Ebenfalls
verbreitet ist die Einbindung des Volkes in das Verfahren von Verfassungsgebung
und Verfassungsänderung. Mitunter sind Volksabstimmungen verpflichtend
vorgesehen,[90] mitunter
können sie von einer Minderheit im Parlament verlangt werden.[91]
Vereinzelt werden auch bundesstaatliche mit plebiszitären Elementen kombiniert.[92]
Unserer
Rechtstradition weniger bekannt, wenngleich nicht weniger verbreitet sind
prozedurale Elemente, die mit den schon unter II. dargestellten Erschwernissen
verwandt sind. Unter anderem die nordischen Staaten und die Benelux-Staaten
sehen vor, dass nach Annahme eines Verfassungsänderungsvorschlags das Parlament
aufzulösen ist, dass Neuwahlen auszuschreiben sind und dass das neu gewählte
Parlament den Vorschlag in unveränderter Fassung annehmen muss.[93]
Schließlich
ist die Einberufung eines Verfassungskonvents zu erwähnen, die vor allem in der
Verfassungstradition der amerikanischen Gliedstaaten als alternativer Weg zur
Ausarbeitung von Vorschlägen zur Verfassungsänderung begegnet[94]
und zur Zeit auch in Europa Fuß zu fassen beginnt.
Im
rechtsvergleichenden Überblick hat sich gezeigt, dass Verfassungsbestimmungen
in einfachen Gesetzen eine Besonderheit der österreichischen Verfassung
darstellen. Zwar begegnen Ermächtigungen zur „Verfassungsdurchbrechung“ auch in
anderen Verfassungssystemen. Diese sind allerdings meist so konzipiert, dass
nur die klandestine Verfassungsänderung selbst einer verfassungsändernden
Mehrheit bedarf, nicht hingegen die Aufhebung der auf diesem Wege erzeugten
Bestimmung. Mir will scheinen, als habe die im Jahre 1920 eher spontan gewählte
Lösung des Art 44 Abs 1 B‑VG die Nachteile beider Welten kombiniert:
Sie beeinträchtigt die Steuerungskraft der Verfassung, weil sie große
Koalitionen dazu einlädt, auf verfassungsrechtliche Bedenken hin zum
„Klammerausdruck“ zu greifen, um ihre politischen Vorhaben verfassungsrechtlich
abzusichern, statt über allgemeine Regeln und ihre Sinnhaftigkeit nachzudenken;
und sie leistet gleichzeitig einer Verblockung der politischen Landschaft
Vorschub, weil die ad hoc mit Verfassungsrang ausgestatteten Bestimmungen der
Disposition einer einfachen Mehrheit entzogen und dadurch weitgehend reformfest
sind.
Die
Möglichkeit, einzelne Bestimmungen eines einfachen Bundesgesetzes mit
Verfassungsrang auszustatten, sollte in eine neue Verfassung nicht übernommen
werden. Für ihre Abschaffung können nicht nur ästhetische und funktionale,
sondern auch pragmatische Gründe ins Treffen geführt werden. Mit diesem Schritt
wäre nicht zuletzt gesichert, dass Verfassungsänderungen künftig ausnahmslos in
die Ressortzuständigkeit des BKA fallen, wo eine professionelle Betreuung durch
den Verfassungsdienst gewährleistet ist, und dass sie im Verfassungsausschuss
des Nationalrats behandelt werden müssen.
Die in der
Zeit nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland so verpönte Technik der
„Verfassungsdurchbrechung“ unter der RV 1871 und unter der WRV lohnt jedoch
einen zweiten Blick. Zwar stellt es gewiss keine sinnvolle rechtspolitische
Option dar, in die neue Verfassung eine eigene Normstufe
„Verfassungsdurchbrechungen“ einzuführen, die nur hinsichtlich ihres
verfassungsmäßigen Zustandekommens am Maßstab der neuen Verfassung geprüft
werden darf, ohne aber den Maßstab für eine inhaltliche Prüfung anderer Gesetze
und Verordnungen abzugeben und die mit einfacher Mehrheit wieder aufgehoben
werden kann. Im Übergang zur neuen Verfassung könnte diese Konstruktion jedoch
sinnvolle Funktionen erfüllen. Gewiss ist in erster Linie erstrebenswert, so
viele Verfassungsbestimmungen wie möglich ihres Verfassungsranges zu
entkleiden. Wenn dies (aus welchen Gründen immer) jedoch nicht vollständig
gelingen sollte, könnte erwogen werden, altes Verfassungsrecht zwar als
Verfassungsrecht zu übernehmen, es aber gleichzeitig dem einfachen Gesetzgeber
zu ermöglichen, die rezipierten Bestimmungen ungeachtet ihres Verfassungsrangs
außer Kraft zu setzen. Dieser Weg könnte mit einer Befristung der Fortgeltung
als Verfassungsrecht verbunden werden.
Ob dem ersten Schritt – der Beseitigung von
Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen – in Form der von vielen
Seiten geforderten Abschaffung von Bundesverfassungsgesetzen ein zweiter
Schritt folgen soll, will reiflich überlegt sein.
Einem
bekannten, meist Kardinal Richelieu zugeschriebenen Wort zufolge sollen
Verfassungen kurz und unklar sein. Diese Technik bietet Gewähr für
Flexibilität, und sie hatte vor allem den angenehmen Vorteil, die Macht der
Exekutive zu sichern, weil im Konfliktfall der Monarch und seine Regierung das
Heft in der Hand hielten und die Unschärfen der Verfassung zu
instrumentalisieren wussten.
Heute
orientieren sich die Verfassungen immer weniger an diesem Paradigma. Kürze und
Knappheit der Sprache gilt zwar immer noch als Wert, und auch die Offenheit der
Formulierungen wird nicht grundsätzlich abgelehnt. Die erzeugten Produkte
sprechen indessen eine andere Sprache als die offiziellen Beteuerungen. In den
letzten Jahrzehnten haben Verfassungen an Umfang signifikant zugelegt.
Dieser Wandel in der Verfassungslegistik lässt
sich meiner Einschätzung nach durch Inkorporationsgebote nicht bannen. Das
liegt weniger daran, dass in einer an Komplexität stetig zunehmenden Welt, in
der sich schon Gebrauchsanweisungen für Telefone zu Büchern auswachsen,
Verfassungen nicht mehr so schlank konzipiert werden könnten wie vor hundert
Jahren. Entscheidend ist vielmehr, dass sich mit dem Siegeszug der
Verfassungsgerichtsbarkeit die Gewichte verschoben haben. Erstens ist sowohl
die Neigung als auch die Notwendigkeit gestiegen, alles von Wert in der Verfassung
zu verankern, auf dass es vom Verfassungsgericht im Rahmen von Abwägungen
entsprechend berücksichtigen kann. Zweitens hat sich ein Bedürfnis nach
präziseren Maßstäben ergeben. Je vager eine Verfassung formuliert ist, umso
größer wird der diskretionäre Spielraum des Grenzorgans. Was vormals der
Exekutive genützt hat, kann dem Verfassungsgericht hingegen durchaus zum
Schaden gereichen. Ob
es will oder nicht, und völlig unabhängig davon, ob es zurückhaltend agiert
oder von seinen Kompetenzen aktiven Gebrauch macht: Wo die Richtschnur nicht
sichtbar ist, kann man über die Entscheidungen juristisch trefflich streiten.
Dies mag den Trend erklären, der
Verfassungsgerichtsbarkeit klare Maßstäbe an die Hand zu geben und ihr dadurch
auch Grenzen zu setzen. Drittens hat sich mit der Vermehrung der Zahl der
Verfassungsorgane, die für wechselseitige checks und balances sorgen, auch jene
Grundordnung verbreitert, die es vom normalen politischen Prozess abzuschichten
und ihm gegenüber abzusichern gilt.
Aus diesen Gründen halte ich es teilweise für
naiv und teilweise für gefährlich zu glauben, man könne die Verfassung radikal
verschlanken und gleichzeitig alles Weitere dem einfachen Gesetzgeber
überlassen. Wer die Verfassung von technischem Recht entlasten und das in ihr
beträchtlichen Raum einnehmende Organisations‑, Zuständigkeits‑ und
Verfahrensrecht verbannen will, muss zwangsläufig in Kauf nehmen, dass
„Details“ wie die Regelung der Amtsdauer der Verfassungsrichter, die Festlegung
der Zuständigkeiten des Rechnungshofes zur Gebarungsprüfung, der Zahl und des
Bestellungsmodus der Volksanwälte, die Entscheidung über das Wahlsystem und
vieles andere mehr eine Domäne der Tagespolitik wird. Das ist politisch nicht
durchsetzbar und auch nicht erstrebenswert. Aus diesem Grund haben sich einige
Ausschüsse bereits über die Einführung einer adäquaten Rechtsform für
operatives Verfassungsrecht Gedanken gemacht.
Wenn dieser Befund zutrifft, dann sind einer
Verringerung der Fülle wie der Dichte des Verfassungsrechts von vornherein
Grenzen gesetzt. Das Parlament in dieser Situation vor die harte Alternative zu
stellen, eine bestimmte Angelegenheit entweder in der Verfassungsurkunde zu
regeln oder sie dem politischen Prozess zu überlassen, würde mittel‑ und
langfristig entweder der Verfassungsurkunde oder dem Zustand des Gemeinwesens
nicht gut tun. Ein Blick auf die jüngeren Verfassungen in Afrika zeigt, dass
unter dem Kodifikationsansatz häufig unübersichtliche Konstitutionen von
beträchtlichem Umfang entstehen, die nicht leicht verständlich und schon gar
nicht bürgernahe sind. Da sich die legistische Qualität und die systematische
Geschlossenheit von Rechtstexten im Zuge von Novellierungen noch selten
verbessert haben, kann man sich die Halbwertzeit solcher Produkte leicht ausmalen.
Hinzu kommt, dass unsere Rechtstradition der
Rechtssicherheit einen hohen Wert einräumt. Der Gesetzesvorbehalt wird in
Österreich ernster genommen als anderswo, und auch das Verfassungsrecht ist im
internationalen Vergleich von ungewöhnlicher Schärfe und Dichte. In dieser
Situation mit der Therapie „Inkorporationsgebot“ eine radikale Formenkur zu
verordnen, könnte leicht in eine aufgeblähte Verfassung münden, die nach
einigen Novellen aussieht wie ein unregelmäßig gespickter Hase.[95]
Dass diese Gefahr nicht an die Wand gemalt ist, zeigt der
„Wiederverlautbarungsentwurf“ des BKA-VD aus dem Jahr 1995. Statt des radikalen
Bruchs mit der eigenen Vergangenheit empfiehlt sich deshalb eine evolutive
Vorgangsweise, die an die bisherige Tradition anzuknüpfen und sie sinnvoll
weiterzuentwickeln versucht.
Hiefür bieten sich zwei grundsätzliche
Optionen an. Eine Möglichkeit besteht darin, abgesehen von der Abschaffung von
Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen alles beim Alten zu
belassen und die neue Verfassung als Stammurkunde zu konzipieren, die zwar im
Zentrum steht, die aber neben sich gleichberechtigte Nebenverfassungen duldet.
Die andere Lösung könnte darin liegen, eine Zwischenstufe zwischen Verfassung
und einfachem Gesetzesrecht einzuführen, die das materielle Verfassungsrecht in
sich aufnehmen und ihm damit zu auch formeller Relevanz verhelfen soll.
Die letzterwähnte Lösung ist, wie die
rechtsvergleichende Übersicht unter III.3. ergeben hat, mittlerweile
international weit verbreitet. Insbesondere Frankreich und Spanien haben durch
Einführung der „verfassungsausführenden Gesetze“ ihre Verfassungen dauerhaft zu
entlasten vermocht. Sie hat aber auch genuin österreichische Wurzeln. Schon die
Stammfassung des B‑VG fordert für den Beschluss des Gesetzes über die
Geschäftsordnung des Nationalrats eine Mehrheit von zwei Dritteln der
abgegebenen Stimmen bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder
des Nationalrats. In der Folge ist dieses Instrument wiederholt herangezogen
worden, um auch jenseits der Verfassungsform politische Stabilität zu
garantieren: beginnend vom Schulrecht über das Bankgeheimnis bis hin zur
Regelung der Stimmabgabe im Ausland bei Wahlen zum Nationalrecht.[96]
Eine solche Zwischenform muss nicht unbedingt,
wie dies bei verfassungsausführenden Gesetzen schon die Bezeichnung suggeriert,
näher bei der Gesetzes‑ als bei der Verfassungsebene angesiedelt sein. Es ist
ohne weiteres denkbar, solche Gesetze als Verfassungsgesetze zu bezeichnen und
sie dadurch als Teil der verfassungsrechtlichen Ordnung auszuweisen.[97]
Beide Lösungen haben ihre Vor‑ und Nachteile.
Ich habe jedoch den Eindruck, dass sie in Wahrheit gar nicht weit auseinander
liegen. Hält man am status quo fest, so gibt es zwar zwischen Verfassungsrecht
innerhalb und außerhalb der Stammurkunde keinen Rangunterschied; mit der
traditionellen Differenzierung zwischen Gesamt‑ und Teiländerung bei der
Verfassungsänderung besteht aber erst wieder eine hierarchische Schichtung. Und
von dieser inneren Stufung könnte und sollte Abstand genommen werden, wenn eine
schlanke Verfassungsurkunde mit Inkorporationsgebot sonstigem Verfassungsrecht
im materiellen Sinn gegenüber gestellt wird. Denn in diesem Modell könnte und
sollte die neue Bundesverfassung auf die staatliche Grundordnung beschränkt
bleiben, während die übrigen Gehalte, also das technische Verfassungsrecht, in
die verfassungsausführenden Gesetze bzw Verfassungsgesetze ausgelagert würden.
Eine nochmalige Differenzierung innerhalb der zentralen Verfassungsurkunde nach
Kern‑ und Randgehalten wäre hypertroph und juristisch kaum operationabel.
Geht man den ersten Weg, so hat man sich gegen
ein Inkorporationsgebot entschieden. Schlägt man den zweiten ein, bleibt zu
überlegen, wie ein solches Gebot ausgestaltet werden soll.
Das Mandat trägt dem Ausschuss auf, Vor‑ und
Nachteile eines absoluten Inkorporationsgebots, verschiedener Varianten eines
relativen Inkorporationsgebots sowie eines Verfassungsbegleitgesetzes oder
eines Anhanges zur neuen Verfassung zu evaluieren. Den diesbezüglichen
Überlegungen seien einige Bemerkungen zur Wirkungsweise von Inkorporationsgeboten
vorangestellt.
Aus der rechtsvergleichenden Skizze unter II,
insbesondere aus den Auseinandersetzungen rund um Art 79 Abs 1 GG,
lassen sich für unsere Diskussion einige Lehren ziehen. Ich will die mir
wichtig erscheinenden Punkte herausgreifen.
Erstens zeigen die deutschen und die
schweizerischen Erfahrungen, dass Inkorporationsgebote an der äußeren Form
ansetzen und deshalb (wie andere formellen Sicherungen auch) politischen Unsinn
bestenfalls erschweren, nicht aber verhindern können. Schon deshalb stellen sie
kein Allheilmittel dar, das automatisch segensreiche Wirkungen entfaltet und
alles zum Besseren wendet.[98]
Falsch eingesetzt, können sie sich auch als Prokrustesbett erweisen.
Zweitens habe ich den Eindruck, dass
Inkorporationsgebote auf einer ganz elementaren, basalen Ebene wirken. Auch
wenn die Stellungnahmen im deutschen Schrifttum in andere Richtungen gehen:
Art 79 Abs 1 GG stellt letzten Endes keine Vorschrift dar, gegen die
verstoßen werden könnte. Im Kern handelt es sich um eine Regelung, die
eingehalten werden muss, wenn die Erzeugung von Verfassungsrecht gelingen soll,
und deren Verletzung zunächst nur das Scheitern eines Normsetzungsversuchs zur
Folge hat: Recht außerhalb der einen und einzigen Verfassungsurkunde ist kein
Verfassungsrecht, mag es sich auch durch eine falsche Bezeichnung als solches
ausgeben. Deshalb muss es sich eine inhaltliche Prüfung am Maßstab der
Verfassungsurkunde gefallen lassen.
Drittens ist sichtbar geworden, dass
Inkorporationsgebote für den Gesetzgeber kein Hindernis mit Dauerwirkung
darstellen, sondern dort, wo sie dem Parlament Restriktionen auferlegen, im
Grunde nur zu einem Zwischenschritt zwingen: „Verfassungsänderungen“ außerhalb
der Urkunde bleiben möglich, wenn sie zuvor in der Urkunde sichtbar gemacht werden.
Aufgrund dieser Funktionslogik kann schon die Unterscheidung zwischen absoluten
und relativen Inkorporationsgeboten mit guten Gründen angefochten werden. Und
aus diesem Grund vermag ein Inkorporationsgebot allein den
Verfassungsgesetzgeber nicht daran zu hindern, es morgen wieder über Bord zu
werfen, sofern er nur den gebotenen Weg über die Urkunde geht. Die folgenden
Überlegungen über die Ausgestaltung eines Inkorporationsgebots beschränken sich
daher darauf, über eine sinnvolle Konzeption in der Stammfassung nachzudenken.
Mit der ersten Novelle steht sie schon wieder zur Disposition.
Ein
Inkorporationsgebot kann nicht in dem Sinne absolut sein, dass eine Lektüre
allein der Verfassungsurkunde abschließende Aussagen über den Inhalt und die
Reichweite des Verfassungsrechts erlaubt. Solches liefe auf einen
Verfassungsvorbehalt hinaus, der die Legislative auf reine
Durchführungsgesetzgebung reduziert. Gesetzesvorbehalte und Klauseln, die die
Verfassung dem Gemeinschaftsrecht gegenüber öffnen, können und sollen neben
einem Inkorporationsgebot bestehen.
Außerdem
setzt schon das Übergangsrecht einem Inkorporationsgebot sachliche Grenzen.
Alte Verfassungsbestimmungen, die nicht ins Dauerrecht übernommen werden, sollten
nicht in die Verfassungsurkunde aufgenommen werden, sondern in ein
Begleitgesetz oder in einen Anhang. Da es sinnvoll ist, für eine Übergangszeit
ihre Invalidation zu verhindern, wird an einer Bestimmung in der Stammurkunde,
die den Geltungsanspruch der neuen Verfassung (einstweilen) zurücknimmt, kaum
kein Weg vorbeiführen.
Wenig
empfehlenswert ist hingegen, ein Inkorporationsgebot auf die Regelungsbereiche
der neuen Verfassung zu beschränken. Eine Verfassung, die diesen Namen
verdient, bezieht sich auf alle Aspekte des staatlichen Lebens, sodass
Berührungspunkte zu ihren sachlichen Gehalten stets vorhanden sein werden. Wenn es außerhalb der Urkunde Verfassungsrecht geben sollte, das der
Stammurkunde gleichgeordnet ist, dann ist ein Inkorporationsgebot in der
Stammurkunde wirkungslos, weil es ohne Abänderungen der Stammurkunde
eingeschränkt werden kann. Gleiches gilt für einen numerus clausus zulässiger
externer Verfassungsgesetze. Wenn hingegen externes Verfassungsrecht der
Stammurkunde untergeordnet ist, dann wird ein Inkorporationsgebot schon durch
die (in der Stammurkunde erfolgende) Inthronisation solcher Verfassungsgesetze
oder verfassungsausführender Gesetze relativiert.
Denkbar ist
hingegen, für völkerrechtliche Verträge eine Ausnahme zu machen. Denn die
Aufnahme eines Inkorporationsgebotes in die neue Verfassung hat ohne eine
solche Ausnahme zur zwingenden Folge, dass das österreichische System der
Rangzuweisung an Staatsverträge in Analogie zu den Rechtssatzformen des
innerstaatlichen Rechts nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Mir scheint
jedoch, dass ein Mischsystem weder Fisch noch Fleisch wäre, weil es für eine
Sonderbehandlung völkerrechtlicher Verträge keine hinreichenden Gründe gibt.
Soweit solche Verträge als Menschenrechtspakte verfassungsmäßig gewährleistete
Rechte verbürgen sollen, können sie im Verweisungsweg rezipiert werden. Soweit
hingegen solche Verträge strukturelle verfassungsrechtliche Probleme aufwerfen
(Gebietshoheit, Übertragung von Hoheitsrechten), müssen diese Probleme durch
Änderung des Verfassungsrechts ausgeräumt werden. Im übrigen stellt die
Zuweisung von Verfassungsrang an Bestimmungen in Staatsverträgen einen
österreichischen Sonderweg dar, der in meinen Augen mit der Zulassung von
Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen steht und fällt.
Die deutsche Diskussion rund um Art 140
GG zeigt, dass die Rezeption von Recht außerhalb der Stammurkunde als
Verfassungsrecht mit einem Inkorporationsgebot kompatibel ist. Meines Erachtens
ist jedoch zwischen Rezeption und Inkorporation zu unterscheiden. Im Fall der
Rezeption wird ein Rechtstext außerhalb der Urkunde als Teil der Urkunde
fingiert; im Falle der Inkorporation wird dieser Rechtstext in seinem vollen
Wortlaut in die Urkunde eingearbeitet. Rezeptionen à la Art 140 GG stellen
daher Ausnahmen vom Inkorporationsgebot dar, die seine Geltung einschränken,
aber deshalb keine Probleme aufwerfen, weil sie dem Inkorporationsgebot als
leges speciales vorgehen.
Beide Techniken haben ihre Vor‑ und Nachteile.
Rezeptionen entlasten den Text der Stammurkunde und erleichtern es, Brüche in
Sprache, Stil und Systematik zu vermeiden, die bei Einarbeitung von Texten aus
anderen Epochen und Rechtstraditionen unvermeidlich sind. Sie haben allerdings
den Nachteil, dass Änderungen unter der Geltung eines Inkorporationsgebotes
nicht mehr im rezipierten Text, sondern nur mehr in der Stammurkunde selbst
möglich sind. Daher empfiehlt es sich, nur solche Texte zu rezipieren, die
gegen Abänderungen weitgehend immun sind. Dies ist vor allem bei
völkerrechtlichen Verträgen der Fall. Bei ihnen ist die Rezeption in der
Stammurkunde im Vergleich zur Einarbeitung in die Stammurkunde, die einen
innerstaatlichen Klon zu generieren versucht, der elegantere und sachadäquatere
Weg.
Bei
Bewältigung des Übergangsproblems ist hingegen sorgfältig abzuwägen, ob mit
Rezeptionen das Auslangen gefunden werden kann oder ob Inkorporationen
vorzuziehen sind. Die Erfahrungen mit den Übergangsgesetzen 1920 und 1929
zeigen, dass es auch im Übergangsrecht beträchtlichen Änderungsbedarf gibt.
Zumindest das allgemeine Übergangsrecht sollte daher in die Stammurkunde
inkorporiert werden, um es dort gegebenenfalls novellieren zu können. Wenn es
hingegen nur darum geht, alte Verfassungsbestimmungen aufzuzählen, die während
einer Übergangszeit gegen eine verfassungsgerichtliche Prüfung am Maßstab der
neuen Verfassung immunisiert werden sollen, reicht ein Anhang in den
Übergangsbestimmungen völlig aus.
Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass ein
Inkorporationsgebot auf eine Art und Weise konzipiert werden sollte, die eine Totalrevision im formellen
Sinn, also die Erlassung einer komplett neuen Verfassung, nicht von vornherein
versperrt. Neben der Novellierung der Stammurkunde muss auch der Austausch der
Stammurkunde zulässig bleiben, weil es nicht angeht, künftige Generationen in
ein Korsett zu zwängen, dem sie nur auf revolutionärem Wege entkommen können.
Unabhängig
von einer Entscheidung für oder gegen ein Inkorporationsgebot sollte die
Einführung einer Verpflichtung zur Neukundmachung oder zur Wiederverlautbarung
der Verfassung im Gefolge von Änderungen ernstlich erwogen werden. Dadurch stünde
die geltende Verfassung jederzeit in einer amtlichen Fassung zu Verfügung.
Mit dem
Übergang zur elektronischen Kundmachung von Rechtstexten sind die Kosten einer
solchen Kundmachung des bereinigten Textes kein entscheidendes Gegenargument
mehr. In demokratiepolitischer Hinsicht entbehrt das in Art 49a Abs 1
B‑VG enthaltene Verbot der Wiederverlautbarung des B‑VG in meinen Augen schon
heute der Berechtigung. Gewiss stellt die Wiederverlautbarung eine Domäne der
Exekutive dar; Missbräuche sind jedoch bislang nicht bekannt geworden und
würden durch den VfGH wirksam abgestellt werden. Außerdem muss die
Neukundmachung technisch nicht als Wiederverlautbarung ausgestaltet werden.
Denkbar ist auch, den Bundeskanzler zu einer Doppelkundmachung von
Verfassungsänderungen zu verpflichten: einmal in Form der Verfassungsänderung
und einmal in Form der geänderten Verfassung.
Wenn es
tatsächlich zur Verankerung eines Inkorporationsgebotes in die neue Verfassung
kommen sollte, dann wird sich die Synchronisation des Völkerrechts mit dem
staatlichen Recht im Stufenbau der Rechtsordnung nicht mehr aufrechterhalten
lassen, weil Völkerrecht im Verfassungsrang entweder völlig der Vergangenheit
angehören oder nur mehr in Form von rezipierten Menschenrechtspakten begegnen
wird. Eine solche Systemumstellung von der Gleichordnung zur Unterordnung des
Völkerrechts unter die Verfassung sollte auch im Rechtsschutzsystem,
insbesondere bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Staatsverträgen,
Berücksichtigung finden. Ein möglicher Weg könnte darin bestehen, die
österreichischen Begründungsakte schon ex ante, dh vor der völkerrechtlichen
Perfektion des Vertrages, einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu
unterwerfen,[99] um zu
verhindern, dass völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Bindung in
unauflösbare Konflikte geraten.
[1]
Robert von Mohl, Die Abfassung der
Rechtsgesetze, in: ders, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd 2,, 1862, 375
(457).
[2] Horst Dreier, Kommentierung von
Art 79, in: ders (Hg), Grundgesetz. Kommentar, Bd II, 1998, Rz 8.
[3]
So Fritz Fleiner/Zaccaria Giacometti,
Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1949, 29 f; Luzius Wildhaber,
Kommentierung von Art 118, in: Jean-François Aubert ua (Hg), Kommentar zur
Bundesverfassung der Schweizerischen Bundesverfassung, LoBlAusg, 1988,
Rz 3; wesentlich differenzierter Ivo Hangartner, Grundzüge des
schweizerischen Staatsrechts, Bd I: Organisation, 1980, 29, mit Nachweisen von
Abweichungen in der Staatspraxis.
[4]
Vgl zB das dänische Thronfolgegesetz 1953
und die Verfassung des Königreiches Dänemark 1953, die in § 2 auf das
Thronfolgegesetz Bezug nimmt.
[5] Vgl Art 1 und 112 Abs 1. Diese
Regelung, die schon in der Verfassung 1920 begegnet, dürfte übrigens die
Entstehung des Art 44 Abs 1 B‑VG maßgeblich beeinflusst haben. Dieser
ist nämlich erst in einer sehr späten Phase der Verfassungsberatungen
vorgeschlagen worden (vgl Felix Ermacora, Quellen zum österreichischen
Verfassungsrecht [1920], 1967, 483); in allen Vorentwürfen wurde lediglich auf
eine „Abänderung der Bundesverfassung“ Bezug genommen.
[6]
Vgl Art 138. Ausdrücklich vorgesehen
ist die Form eines Verfassungsgesetzes zB für die Zuständigkeiten des
Verfassungsgerichts (Art 137) sowie für die Sonderstatuten betreffend die Autonomie
Siziliens, Sardiniens, Südtirol-Trients, Friaul-Julisch-Venetiens und des
Aosta-Tales (Art 116).
[7] Vgl Kap VIII § 15 der schwedischen
Verfassung und § 73 des finnischen Grundgesetzes, in dem nicht nur
Vorlagen zur Verabschiedung, Änderung oder Aufhebung des Grundgesetzes, sondern
auch zeitlich begrenzte Aussetzungen des Grundgesetzes ausdrücklich angeführt
werden.
[8] Beispiele bilden das Vereinigte
Königreich von Großbritannien und Nordirland, dessen Verfassung (entgegen einem
verbreiteten Vorurteil) zu einem guten Teil in Texten niedergelegt ist (Magna
Charta Libertatum 1215, Petition of Rights 1627, Habeas-Corpus-Act 1679, Bill
of Rights 1689, Human Rights Act 1998, Act of Settlement 1701, Acts of
Parliament 1911 und 1949, Wales Act 1998, Scotland Act 1998, Northern Ireland
Act 1998), die Republik Indonesien, deren Konstitution aus 1945 nur einen (den
geschriebenen) Teil der Verfassung bildet, und der australische Bundesstaat
Queensland bis zur Erlassung der konsolidierten Verfassung 2002, welche die
zerstreuten, selbst Briefe umfassenden Quellen in einer Urkunde zusammengefasst
hat.
[9]
Zum politischen Hintergrund Winfried
Halder, Innenpolitik im Kaiserreich 1871-1914, 2003, 13, 54.
[11]
So Lasker, 77. Sitzung des Reichtags vom
9. 7. 1879, StenBer 2203, zitiert nach Hufeld (FN 10), 40
FN 7.
[12]
Hänel, 78. Sitzung des Reichtags vom 10.
7. 1879, StenBer 2246, zitiert nach Hufeld (FN 10), 40
FN 9.
[14] Vgl Heinrich Triepel, Mitbericht, in:
Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages, 1925, 45 (48), der von einem
Willen der Konstituante zur Beibehaltung der eingelebten Praxis ausgeht.
[16]
Als Kritiker der impliziten
Verfassungsänderung sind Loewenstein, Jacobi, Schmitt und Thoma zu nennen, die
jedoch nicht die Zulässigkeit von Verfassungsänderungen außerhalb der Urkunde
an sich in Zweifel zogen, sondern je und je verschiedene Aspekte dieser
Technik, insbesondere die Beschränkung der Geltung von Durchbrechungen auf
einen Einzelfall, als problematisch erachteten. Näher zum Ganzen Hufeld
(FN 10),
51 ff.
[17]
Vgl § 1 Abs 1 RGBl 1929 I 943:
„Die Reichsregierung wird ermächtigt, Maßnahmen zu treffen, welche sie auf
finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiete für erforderlich und
dringend erachtet. Dabei kann von den Grundrechten der Reichsverfassung
abgewichen werden.“ In Art 68 Abs 2 WRV hieß es: „Die Reichsgesetze
werden vom Reichstag beschlossen.“
[19]
Die Schreiben sind im Wortlaut
wiedergegeben bei Fritz Poetzsch-Heffter, Vom Staatsleben unter der Weimarer
Verfassung, JböR 21 (1933/34), 1 (102 ff, 108 ff).
[20]
Zur Beurteilung des Ermächtigungsgesetzes
sub specie Verfassungsdurchbrechung eingehend Hufeld (FN 10), 84.
[21] Vgl Art 67 Abs 4 des
Bayerischen Entwurfs eines Grundgesetzes, abgedruckt bei Peter Bucher (Bearb),
Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle Bd 2: Der
Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1981, 1 (27): „Änderungen des
Grundgesetzes sind im Text des Grundgesetzes oder in einen Anhang aufzunehmen.“
[22]
Keine Rolle gespielt zu haben scheint
demgegenüber die Lübeckischen
Landesverfassung, in der es schon 1920 hieß: „Gesetze, die
nicht die Abänderung des Wortlautes der Verfassung unmittelbar zum Gegenstand
haben, sind, soweit sie mit der Verfassung in Widerspruch stehen, unwirksam.“
[24]
Angela Bauer/Matthias Jestaedt, Das
Grundgesetz im Spiegel seiner Änderungen – Eine Einführung, in: dieselben, Das
Grundgesetz im Wortlaut, 1997, 7.
[25]
Hans Schneider, Die Liquidation deutschen
Auslandvermögens und ihre vertragliche Hinnahme durch die Bundesrepublik, 1964,
78 ff.
[26]
Horst Ehmke, Verfassungsänderung und
Verfassungsdurchbrechung, AöR 79 (1953/54), 385 (401 ff); Konrad Hesse,
Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl 1995,
Rz 698.
[28]
Horst Ehmke, Noch einmal: Die
Verfassungsnovelle vom 26. März 1954, DÖV 1956, 449 (452); derselbe, AöR 79
(1953/54), 396 ff.
[29]
Karl Loewenstein, Kritische Betrachtungen
zur Verfassungsänderung vom 26. März 1954, DÖV 1954, 385 (385); weitere
Nachweise bei Hufeld (FN 10), 102
FN 38.
[30]
Gerhard Hoffmann, Kommentierung von
Art 79 Abs 1 und 2, in: Rudolf Dolzer (Hg), Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung
1986, Rz 44.
[31]
BVerfGE 9, 334 (336), wo das BVerfG nicht
etwa einen „Grundsatz der Urkundlichkeit und Einsichtbarkeit jeder
Verfassungsänderung“ postuliert, sondern diesem Grundsatz eine implizite Absage
erteilt hat; Schneider (FN 25), 78;
Rüdiger Rubel, Kommentierung von Art 79, in: Dieter C. Umbach/Thomas
Clemens (Hrsg), Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd II, 2002,
Rz 13.
[33] Brun-Otto Bryde, Kommentierung
von Art 79, in: von Münch (Hg), Grundgesetz-Kommentar, Bd 3, 2. Aufl 1983,
Rz 14; Dreier (FN 2),
Rz 36; Bodo Pieroth, Kommentierung von Art 79, in: Hans D.
Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar,
4. Aufl 1997, Rz 2.
[34]
Jörg Lücke, Kommentierung von
Art 79, in: Michael Sachs (Hg), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl 2003, Rz 4;
Karl-E. Hain, Kommentierung von Art 79, in: v Mangoldt/Klein/Starck, Das
Bonner Grundgesetz. Kommentar Bd 3, 4. Aufl 2001, Rz 9.
[35]
Bauer/Jestaedt
(FN 24), 11;
Theodor Maunz, Kommentierung von Art 79 Abs 1 und 2, in:
derselbe/Günter Dürig ua (Hg), Grundgesetz. Kommentar, LoBlAusg 1960,
Rz 4; vgl auch Rubel (FN 31),
Rz 14, der Grenzen für dynamische Verweisungen zwar nicht aus Art 79
Abs 1, wohl aber aus Art 79 Abs 2 und 3 ableitet, und die Grenze
dort zieht, wo ansonsten Verfassungsrecht für die einfache Mehrheit abänderbar
wäre.
[36]
Ehmke, AöR 79, 394 f, 397,
416 ff; Hesse (FN 26),
Rz 699; differenzierend Hoffmann (FN 30),
Rz 35, 101 ff, mwN.
[37]
Bauer/Jestaedt
(FN 24),
12 ff; Dreier (FN 2),
Rz 26; Rubel (FN 31),
Rz 16; Theodor Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften
Rechtsordnungen, 1994, 225 f.
[40]
Dreier (FN 2),
Rz 15, 25; Hoffmann (FN 30),
Rz 8; Lücke (FN 34),
Rz 15 f; Hermann Mosler, Die Übertragung von Hoheitsgewalt, in: Josef
Isensee/Paul Kirchhof (Hg), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Bd VII, 1992, § 175 Rz 54.
[43]
Peter Badura, Artikel Verfassung, in:
Herrmann Kunst/Roman Herzog/Wilhelm Schneemelcher (Hg), Evangelisches
Staatslexikon, 2. Aufl 1975, Sp 2707 (2721).
[44]
Treffend Brun-Otto Bryde,
Verfassungsentwicklung, 1982, 356: „Art. 79 I GG verlangt nur die ausdrückliche
Sichtbarmachung von Verfassungsänderungen im Verfassungstext;
‚Verfassungsdurchbrechungen’ im Schmittschen Sinne verbietet er nicht.“
[45]
Das gilt auch für die kluge Untersuchung
von Hufeld (FN 10), 229:
„Der Gesetzgeber ist an die Verfassung in jeder einzelnen Konstellation
gebunden: Vorrang der Verfassung heißt Vorrang der abstrakt richtigen Grundnorm
im konkreten Anwendungsfall.“
[46]
Umfassende Kritik bei Ehmke, AöR 79
(1953/54), 415 ff, und Loewenstein, DÖV 1954, 385 ff; im jüngeren
Schrifttum Bedenken äußernd Dreier (FN 2),
Rz 36.
[47] Bauer/Jestaedt
(FN 24),
14 f mwN; Dreier (FN 2),
Rz 28 (vgl aber auch Rz 34 ff); Hain (FN 34),
Rz 19; Hufeld (FN 10),
102 f.
[48] Vgl Hesse (FN 26),
Rz 699: entweder überflüssig
oder verfassungswidrig; zustimmend Jörn Ipsen, Staatsrecht I, 14. Aufl
2002, Rz 1022; Rubel (FN 31),
Rz 21.
[52]
Hans Heinrich Rupp, Grundgesetzänderungen
durch völkerrechtlichen Vertrag -- ein vernachlässigtes Problem des
Maastrichter Unionsvertrages, in: Jörn Ipsen ua (Hg), Verfassungsrecht im
Wandel, 1995, 499 (506 ff).
[53]
Für viele Dreier (FN 2),
Rz 24, der betont, dass die durch Verweisungen erzielbare Entlastung
sowohl dem Ziel der Verfassungsklarheit als auch der Übersichtlichkeit der
Urkunde dienlich sein können.
[55] Zu den Implikationen eingehend Andreas
Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), 35 (insb
43 ff).
[57]
Keine Regel ohne Ausnahme: Art 125a
GG ist auf die Änderungen der Kompetenzverteilung des Jahres 1994 zugeschnitten
und regelt einen Anlassfall, nicht das dahinter stehende allgemeine Problem
(Schicksal alten Rechts nach Kompetenzverschiebungen).
[59]
Parallelen zur österreichischen
Entwicklung sind unübersehbar: vgl Art 24septies (Umweltschutz),
Art 24novies (Fortpflanzungs- und Gentechnologie), Art 25bis
(Tierschutz) sowie die Bestimmungen über den Militärdienst (Art
18 ff).
[60]
Vgl den 1972 aufgehobenen Art 51
(Jesuitenverbot) sowie die „Schnapsartikel“ Art 32bis (umfassende
Regelungskompetenz und ‑pflicht des Bundes, die bis zu den Enzianwurzeln
heruntergebrochen war), Art 32ter (das berühmte Absinthverbot),
Art 32quater (Regelungskompetenzen und ‑pflichten der Kantone
für Mengen bis zwei Liter bzw zwischen zwei und zehn Litern sowie Verbot des
Feilbietens im Umherziehen).
[61]
Vgl zB den Maut‑ und Vignettenartikel 36quinqies,
der nicht nur den Vignettenpreis fixiert, sondern auch ein Spezialverfahren für
seine Abänderung bereithält, sowie den Art 41ter über die
Mehrwertsteuer.
[62] Hingewiesen sei darauf, dass die Praxis
auch Hybride kennt. Das (nicht als Bundesverfassungsgesetz bezeichnete)
Strukturanpassungsgesetz 1996, BGBl 201, trägt zB neben Bundesgesetzen auch
zwei Bundesverfassungsgesetze in sich, was zwar im sperrigen Volltitel, nicht
aber im Kurztitel zum Ausdruck kommt.
[63] So geschehen im
Strafrechtsänderungsgesetz, BGBl 1951 I 739, sowie im Gesetz zu dem Vertrag vom
31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen
Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands –
Einigungsvertragsgesetz – und zu der Vereinbarung vom 18. September 1990, BGBl 1990 I 1254. Ebenfalls vom Titel her nicht eindeutig ist das Gesetz zur Änderung und
Ergänzung der Finanzverfassung (Finanzverfassungsgesetz), BGBl 1955 I 817.
[64]
Parlamentarischer
Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/49, oJ, 144. Schmid fügte
sogleich hinzu: „Ich bitte Sie, das nicht wörtlich zu nehmen. Aber der Sinn
dessen, was gemeint ist, kommt in diesem Beispiel wohl besonders plastisch zum
Ausdruck.“
[68] Vgl Art 196 der belgischen Verfassung (Krieg,
Unmöglichkeit des Zusammentretens der Kammern auf belgischem Staatsgebiet);
Art 89 Abs 4 der französischen Verfassung (Verletzung der
Unversehrtheit des Staatsgebiets); Art 289 der Verfassung Portugals
(Belagerungs‑ und Ausnahmezustand); Art 169 der Verfassung Spaniens
(Kriegszeiten, Alarm‑, Ausnahme‑ und Belagerungszustand); Art 60
Abs 1 der Verfassung Brasiliens 1988 (Bundesintervention,
Verteidigungsfall, Belagerungszustand); Art 160 der Verfassung der
Republik Angola 1992 (Ausnahme‑ und Belagerungszustand), Art 87 (a) der
Verfassung der Republik Liberia 1986 (Ausnahmezustand).
[70] „Eine Änderung dieses Grundgesetzes,
durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung
der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20
niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“
[71] „Die republikanische Staatsform kann
nicht zum Gegenstand einer Verfassungsänderung gemacht werden.“ Inhaltsgleich
Art 139 der Verfassung Italiens und Art 142 der Verfassung von
Madagaskar 1992.
[72] Andere Beispiele finden sich in
Art 60 Abs 4 der Verfassung Brasiliens, Art 155 der Verfassung
Aserbeidschans 1995, Art 110 Abs 1 der Verfassung Griechenlands,
Art 97 der Verfassung Japans von 1946, Art 178 der Verfassung der
Demokratischen Republik Algerien 1996, Art 17 der Verfassung von
Kambodscha, Art 131 der Verfassung von Namibia 1990, Art 106 der
Verfassung von Marokko 1996, Art 127 der Verfassung der Republik Somalia
2001 und jüngst in Art 112 Abs 3 der Verfassung Tschetscheniens 2003.
[73] Vgl neben Art 44 Abs 3 B‑VG vor
allem die schweizerische Bundesverfassung
1999, die in Art 193 und 194 Totalrevision und Teilrevision einander
gegenüberstellt; ebenso Kap I Sect 30 der Verfassung Argentiniens 1853,
Art 137 der Verfassung von Kuba 1976 und Art 168 der spanischen
Verfassung.
[74] Dazu mwN Ewald Wiederin, Die
Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland, AöR 117 (1992), 410
(413 ff).
[76]
Vgl Art VIII § 16, der für Änderungen der
Geschäftsordnung des Reichstages das Verfahren über die Änderung von
Grundgesetzen für anwendbar erklärt.
[82]
Vgl Art 8 der Verfassung der
Bundesrepublik Nigeria 1999; vgl auch Art 116 der Verfassung Italiens, die
ein verfassungsgesetzliches Sonderstatut verlangt.
[84]
Vgl Art 81 Abs 2 der Verfassung Spaniens;
Art 168 Abs 6 der Verfassung Portugals;
Art 104 Abs 2 der Verfassung Estlands; Art 66 Abs 2 der
Verfassung Georgiens 1999 und Art 82 Abs 2 der Verfassung der
Republik Kroatien. Vergleichbar auch Art 46 der Verfassung Frankreichs, der
die absolute Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung verlangt, wenn
kein übereinstimmender Beschluss des Senates vorliegt.
[86]
Vgl zB einerseits Art 166
Abs 2, andererseits Art 168 Abs 6 der Verfassung Portugals. In
beiden Bestimmungen wird auf Angelegenheiten des Art 164 Bezug genommen.
[87]
Verfassungsausführende
Gesetze sind vorgesehen für die Präsidentenwahl (Art 6 Abs 2), für
die Besetzung von Posten durch den Ministerrat (Art 13 Abs 4), für
den Ersatz von Amtsträgern im Inkompatibilitätsfall (Art 23 Abs 2),
für Wahl und Amtsdauer der Nationalversammlung, für die Übertragung des
Stimmrechts zwischen Parlamentsmitgliedern (Art 27 Abs 2), für den
Rechtsrahmen in Bezug auf Budget, Sozialversicherung sowie Sozial‑ und
Wirtschaftspolitik (Art 24 Abs 2 und 5, Art 47-I), für die
Inkompatibilitäten der Mitglieder des Conseil d’ Etat (Art 57), für
Organisation, Arbeitsweise und Verfahren des Conseil constitutionnel
(Art 63), für die Rechtsstellung von Richtern und Staatsanwälten
(Art 64 Abs 3), für die Zusammensetzung, Arbeitsweise und Verfahren
des Obersten Gerichtshofs (Art 67 Abs 3), für den als Staatsgericht
fungierenden Gerichtshof der Republik (Art 68-2 Abs 5), für den
Wirtschafts‑ und Sozialrat (Art 71) und für die DOM-TOMs (Art 74
Abs 2, 77).
[88]
Vgl Art V der Verfassung der
Vereinigten Staaten 1789, wonach Verfassungsänderungen von drei Vierteln der
Bundesstaaten entweder durch ihre gesetzgebenden Körperschaften oder durch
Konvente ratifiziert werden müssen; Art 135 der Verfassung von Mexiko
1917; Art 74 der Verfassung der Republik Südafrika 1996.
[90]
Vgl Art 46 Abs 2 der Verfassung
Irlands; vgl auch Art 89 der Verfassung Frankreichs, wo jedoch der
Präsident statt dem Volk auch dem als Kongress einberufenen Parlament vorlegen
kann.
[92]
Vgl Art 128 der Verfassung
Australiens und Art 195 der schweizerischen Bundesverfassung, wonach
sowohl die Mehrheit der Bürger im Gesamtstaat als auch in der Mehrheit der
Staaten die Bürger den Vorschlag gutheißen müssen.
[93]
Vgl Art VIII § 15 der Verfassung
Schwedens; § 88 der Verfassung Dänemarks, die außerdem die Annahme in
einer verpflichtenden Volksabstimmung verlangt; § 73 Abs 1 des finnischen
Grundgesetzes, nach dem aber die Vorlage nach Abs 2 für dringlich erklärt
werden kann; Art 195 der Verfassung Belgiens;
Art 137 der Verfassung der Niederlande; Art 114 der Verfassung
Luxemburgs von 1868. Ein Bestätigungsbeschluss des nächsten Parlament ist auch
in Art 110 der Verfassung Griechenlands, vorgesehen.
[96] Zu diesen Zwei-Drittel-Gesetzen Richard
Novak/Bernd Wieser, Zur Neukodifikation des österreichischen
Bundesverfassungsrechts, 1994, 78.