KLAGENFURTER ERKLÄRUNG ZUR
ÖSTERREICHISCHEN SPRACHENPOLITIK
Der Verband für angewandte Linguistik
VERBAL, die österreichische Sektion des internationalen Verbandes AILA, hat aus
Anlass des Europäischen Jahres der Sprachen 2001 eine sprachenpolitische
Enquete zu Österreich durchgeführt, in deren Rahmen von Expertinnen und Experten
aus Schulen, der Erwachsenenbildung, der Universitäten und Pädagogischen
Akademien und der Informationswirtschaft 10 Expertisen zu unterschiedlichen
Bereichen österreichischer Sprachenpolitik erstellt wurden (zugänglich unter www.verbal.at). Bei der Abschlussveranstaltung
der Enquete im Rahmen der Österreichischen Linguistiktagung 2001 in Klagenfurt
wurde folgende Erklärung verabschiedet:
Sprache und Sprachen sichern einerseits den kommunikativen Zusammenhang von Gesellschaften. Andererseits stellen sie zentrale Elemente nationaler, regionaler und ethnischer Identitäten dar. Unterschiedliche Funktionen und Rollen sowie der Status von Sprachen auf regionaler, nationaler und übernationaler Ebene werden immer wieder neu ausgehandelt und stellen so auch Anlässe für sprachenpolitische Konflikte dar. Sprachenpolitik umfasst alle politischen Initiativen, durch die eine bestimmte Sprache oder bestimmte Sprachen in ihrer öffentlichen Geltung, in ihrer Funktionstüchtigkeit und in ihrer Verbreitung gestützt werden. Die Analyse von Sprachenpolitik befasst sich daher mit sprachplanerischen Maßnahmen und sprachgesetzlichen Regelungen in Bezug auf die Rolle, die Bedeutung, den Status von Sprachen, und zwar als Erst-, Zweit- oder Fremdsprachen, vor allem Maßnahmen, die die Normierung, Verbreitung und Durchsetzung von Sprachen betreffen. Die zentrale Rolle der Sprachen und der Sprachenvielfalt für zukünftige europäische Identitäten wurde von der EU und dem Europarat auf internationaler Ebene immer wieder betont. Sie erklärten das Jahr 2001 zum Europäischen Jahr der Sprachen, um Sprachenvielfalt sowie Mehrsprachigkeit zu fördern und die sprachenpolitische Reflexion anzuregen.
In Österreich mangelt es im Unterschied zu anderen Politikfeldern wie Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik an einer koordinierten, längerfristig geplanten Sprachenpolitik. Das stellt gerade angesichts der zentralen Rolle der Sprache bzw. der Sprachen, die alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft, und auch angesichts jüngster Entwicklungen in Österreich (Stichwort: der so genannte Integrationsvertrag) ein bedauerliches Manko dar. Wir fordern daher eine kontinuierliche und systematische Kooperation zwischen Politik und ExpertInnen der Sprachenpolitik und verabschieden folgende Empfehlungen zur österreichischen Sprachenpolitik:
II. Empfehlungen
1.
Gewährung
grundlegender Sprachenrechte
für alle in Österreich lebenden Menschen. Das beinhaltet vor allem
·
Recht auf
Verwendung der Erst-/Familiensprache in allen Lebensbereichen
·
Gesetzliche
Verankerung des grundsätzlichen Rechts gehörloser Menschen auf die Österreichische
Gebärdensprache
·
Dolmetschdienste
in allen sozialen Einrichtungen, Gerichten, Ämtern
·
Einrichtung
von öffentlich finanzierten Sprachenberatungsstellen, die private Unternehmen,
Organisationen und Institutionen im Sinne eines Gesamtsprachenkonzeptes bei der
Implementierung von Mehrsprachigkeit unterstützen
·
Entwicklung
eines umfassenden Bildungskonzepts, das die Förderung von Mehrsprachigkeit auf
allen Bildungsebenen als Bestandteil hat
2. Entwicklung eines österreichischen
Gesamtsprachenkonzepts und einer sprachenpolitischen Koordinationsstelle:
Zur öffentlichen und transparenten Diskussion sprachenpolitischer Fragen und
zur Ausarbeitung eines Gesamtsprachenkonzepts fordern wir die Einrichtung eines
ständigen politischen Forums, in das möglichst alle relevanten
gesellschaftlichen Kräfte eingebunden sind. Seine Aufgabe wäre die Diskussion
der Ziele und Leitlinien nationaler Sprachenpolitik in Abstimmung mit der
internationalen sprachenpolitischen Diskussion (z.B. in der EU), die
Entwicklung eines österreichischen Gesamtsprachenkonzepts sowie die Kontrolle
seiner Umsetzung in die Praxis.
3. Einrichtung eines gesamtösterreichischen
ExpertInnengremiums für Sprachenpolitik: Dieses Gremium sollte die
wissenschaftlichen Grundlagen für das Gesamtsprachenkonzept erarbeiten sowie
bei gesetzlichen Maßnahmen, die sprachenpolitische Auswirkungen haben,
verpflichtend beigezogen werden (z.B. in der Bildungspolitik, Minderheitenpolitik,
Konsumentenpolitik, Wirtschaftspolitik, Kultur- und Auslandskulturpolitik,
Migrationspolitik).
4. Wissenschaftliche Fundierung des
Gesamtsprachenkonzepts durch Ausweitung der Forschung: Die
Forschungsprojekte sollen die aktuelle sprachenrechtliche und
sprachenpolitische Situation in Österreich in unterschiedlichen
gesellschaftlichen Bereichen (z.B. Bildung, Medien, Wirtschaft) systematisch
erheben und dokumentieren, Defizite benennen sowie Empfehlungen für deren
Behebung erarbeiten.
5. Entwicklung eines umfassenden
Schulsprachenkonzepts als Rahmenvorgabe für das mögliche Angebot zum
Sprachenlernen. Darin müssen Rolle und Bedeutung sowohl der Erstsprachen als
auch der Zweit- und unterschiedlichen Fremdsprachen definiert werden und
sinnvoll aufeinander Bezug nehmen. Allen SchülerInnen ist das Recht zu garantieren, die eigene Erst- und
Familiensprache (für Gehörlose die Österreichische Gebärdensprache) in der
Schule zu entwickeln und zu verwenden und mindestens zwei weitere Sprachen
innerhalb der Pflichtschulzeit zu lernen. Deshalb muss das Angebot von bisher
kaum oder nicht berücksichtigten Sprachen (z.B. MigrantInnensprachen, Österreichische
Gebärdensprache oder Nachbarsprachen) stärker ausgebaut werden.
6. Ausbau und Ausweitung der öffentlichen
Förderung des Sprachlernangebots in den Institutionen der Erwachsenenbildung,
das den Bedürfnissen der verschiedenen LernerInnengruppen (Zweit- und Fremdsprachenlernende)
gerecht wird. Dies muss unter Beachtung von strengen Qualitätskriterien für
den Unterricht geschehen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist die soziale und
arbeitsrechtliche Absicherung der Lehrenden im Bereich der Erwachsenenbildung.
7. Ausbau von flächendeckenden,
österreichweiten Maßnahmen in fundierter Basisbildung für von sekundärem Analphabetismus
betroffene Menschen. Dadurch sollen sozial und bildungsmäßig benachteiligte
Bevölkerungsschichten zu gefestigten Kenntnissen im Lesen, Schreiben und
Rechnen Zugang finden. Gleichzeitig sollen systematische Medienkampagnen zur
Alphabetisierung stattfinden, um einerseits die von sekundärem Analphabetismus
Betroffenen zu erreichen und andererseits die Öffentlichkeit für diese
Problematik zu sensibilisieren.
8. Qualitative und quantitative Verbesserung
des Fremdsprachenangebots an tertiären Bildungseinrichtungen (PädAk,
Fachhochschule, Universität u. a.) durch entsprechende Aus- und
Weiterbildungsmaßnahmen, durch Intensivierung hochschulbezogener Sprachlehr-
und
-lernforschung bzw. durch eine curricular verankerte Integration dieser
Art von Forschung in die praktische Lehre.
9. Abstimmung der Aus- und
Weiterbildungsmöglichkeiten in den Universitäten und anderen tertiären
Bildungseinrichtungen auf die tatsächlich in den Schulen zu unterrichtenden
Sprachen, um eine entsprechende Qualifikation des Lehrpersonals zu
gewährleisten.
Zum Beispiel:
·
Verpflichtende
Aus- und Weiterbildung für KindergärtnerInnen und Sprachenlehrende aller
Schultypen in den Grundlagen des Spracherwerbs, der Sprachwissenschaft und der
Sprachdidaktik
·
Verpflichtende
Aus- und Fortbildung in Deutsch als Zweitsprache für KindergärtnerInnen sowie
LehrerInnen aller Fächer in allen Schultypen
·
Erstsprachförderung
in Minderheitensprachen. Dazu gehören auch Fortbildungsangebote für die
Lehrenden der Minderheitensprachen und die Absicherung ihres institutionellen
Status
·
Einbeziehung
von gehörlosen InteressensvertreterInnen der Gebärdensprachgemeinschaft und
ExpertInnen bei Entscheidungen im Bereich der Gehörlosenpädagogik
10. Einbeziehung der Terminologieentwicklung
in die Sprachenpolitik durch Aufbau von und Sicherung des Zugangs zu
Terminologiebeständen sowie Förderung einer Standardisierung (z.B.
transparente Erläuterung der in Rechtsdokumenten verwendeten Bezeichnungen und
Begriffe). Maßnahmen zur systematischen Sammlung von Austriazismen in
verschiedenen Fachsprachen und ihre Integration in die europäischen
Terminologiedatenbanken; Maßnahmen zur sprachtechnologischen Unterstützung des
elektronischen Handels (Lokalisierung und Internationalisierung); Maßnahmen
zur Förderung und Verankerung der Forschung sowie der Aus- und Weiterbildung
in diesen Bereichen.
11. Maßnahmen zur Förderung des Status und
der Akzeptanz des Österreichischen Deutsch durch Entwicklung
österreichischer Sprachkorpora, Berücksichtigung des Österreichischen Deutsch
in der LehrerInnenaus- und -fortbildung, Berücksichtigung in Medien,
insbesondere bei der Filmsynchronisation und Intensivierung der Forschung auf
diesem Gebiet. Darstellung des Österreichischen Deutsch in Deutschlehrbüchern
und Verstärkung der Informationstätigkeit.
12. Sichtbarmachung der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit
in den Medien und Förderung von mehrsprachigen Programmen in Rundfunk und
Fernsehen. Sicherung des Zugangs zu Information für alle sprachlichen
Minderheiten und Einbeziehung dieser Thematik in die JournalistInnenausbildung.
Klagenfurt, am 27. 10. 2001
Für den Vorstand von VERBAL (Verband für
Angewandte Linguistik):
Univ.Prof. Dr. Martin Stegu Ao.Univ.Prof.
Dr. Barbara Seidlhofer
(Vorsitzender) (Geschäftsführende
Vorsitzende)
Dr. Brigitta Busch Ao.Univ.Prof.
Dr. Rudolf de Cillia
(Kooptierte Beirätin) (Kooptierter
Beirat)