Ökonomische Aspekte der Bundesstaatsreform

 

Helmut Kramer

 

 

 

 

 

 

April 2004


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ökonomische Aspekte der Bundesstaatsreform

 

Helmut Kramer

 

Studie im Auftrag des Instituts für Föderalismus

 

 

 

April 2004


 

Inhalt Seite

 

Zusammenfassung der wichtigsten Studienergebnisse     I

 

I.  Wirtschafts- und Verfassungsmodelle  1

1.     Menschenbild und Staatsmodelle der Wirtschaftswissenschaft     5

2.     Verfassungsgrundsätze und Wirtschaftsverfassung     8

3.     Wirtschaftspolitische Inhalte von Staatsverfassungen     18

II.  Moderne Wirtschaft und Verfassungsreform  24

1.     Effekte der Internationalisierung     24

2.     Mitgliedschaft in der Europäischen Union     28

III.  Theorie von Föderalismus und Subsidiarität aus ökonomischer Sicht  33

1.     Theoretische Grundlagen     37

2.     Kritische wissenschaftliche Diskussion     46

a.    Fiskalföderalismus und Systemwettbewerb    47

b.    Koordinierungsbedarf und Koordinierungsgefahren    49

c.    Tendenz zum Kartellföderalismus?    50

d.    Zentralisierungshypothesen    53

e.    Dynamischer Föderalismus    54

3.     Kriterien für die Zuordnung von Kompetenzen im föderativen System     55

a.    Das Subsidiaritätsprinzip    56

b.    Ökonomische Tests für die Zuordnung    57

c.    Funktionaler Föderalismus    62

4.     Fiskalische Aspekte des Föderalismus     63

a.    Konnexität    66

b.    Ausgleich der wirtschaftlichen Lebensbedingungen    68

5.     Checklist für die Beurteilung der fiskalischen Beziehungen zwischen verschiedenen Ebenen des Staates     73

a.    Zuordnung der Ausgabenverantwortung    73

b.    Prinzipien der Finanzierung subnationaler Gebietskörperschaften    74

c.    Makroökonomische Politik im dezentralen Staat    75

d.    Transparenz der Information über die Tätigkeit der staatlichen Ebenen    75

IV.  Staatsaufbau und Wirtschaftsleistung  77

1.     Wirtschaftliche Dynamik     80

2.     Umfang der Staatstätigkeit     83

3.     Einkommensdisparitäten     87

4.     Tendenz zur Dezentralisierung     88

V.  Neuere Gesichtspunkte der Ökonomie zum Staatsaufbau   95

1.     Differenzierung der Wirtschaftsstrukturen und Anforderungen an öffentliche Dienste     96

2.     Qualitätswettbewerb     97

3.     Wegfall nationaler Grenzen     99

4.     Legitimationskrise des Staates und die Kraft der Identität     100

5.     Effekte der bevorstehenden demographischen Alterung     101

VI.     Schlussfolgerungen            103

Ökonomisch relevante Verfassungsinhalte     103

Ökonomische Aspekte des Staatsaufbaus     105

 

Literaturverzeichnis  108

Statistischer Anhang  115

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Zusammenfassung der wichtigsten Studienergebnisse

 

 

1. Die ökonomischen Aspekte von Staatsverfassungen haben in den neunziger Jahren eine bedeutende Aktualisierung erfahren. Diese  geht besonders auf den Bedarf an neuen  Verfassungen in den Reformländern Mittel- und Osteuropas und auf das Verfassungsprojekt der Europäischen Union zurück.

 

2. Neuere Verfassunginhalte beziehen sich in Europa vor allem auf das Verhältnis der nationalen Verfassungen zur Europäischen Union und zur Währungsunion, auf  Regeln für die  Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und für die Staatsverschuldung, sowie auf die Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen und die Wahrung der Interessen künftiger Generationen. In Österreich besteht in allen diesen Punkten Reformbedarf.

 

3. Die Entwicklung des Europäischen Unionsvertrags hat speziell auch die Befassung der ökonomischen Wissenschaft mit den Gesichtspunkten des föderativen Staats- bzw. Unionsaufbaus intensiviert. Neben rein politischen sind dabei auch die ökonomischen Argumente weiterentwickelt worden.

 

4. Für föderativen Staatsaufbau spricht einhellig die Annahme wirtschaftlich vorteilhafter Effekte konkurrierender Legislativen unterhalb der nationalen (bzw. Unions-) Ebene.  Die Vorzüge dieses Modells werden in verstärkten Anreizen für Innovation, Sparsamkeit, effizientere öffentliche Dienste, die mit den Bedürfnissen der jeweiligen Bevölkerung eher kongruent sind, sowie in verbesserter Information und Kontrolle infolge des räumlichen (kulturellen) Naheverhältnisses gesehen. Diese Vorzüge können durch Einschränkungen des Wettbewerbs zwischen den autonomen Gebietskörperschaften gefährdet werden.

 

5. Um die Vorzüge des föderativen Staatsaufbaus auszuschöpfen, müssen mögliche Nachteile vermieden werden: solche können durch unnötigen Doppelgeleisigkeiten, negative Kompetenzkonflikte, Koordinierungsmängel zwischen der nationalen und den regionalen (kommunalen) Ebenen und zwischen diesen, im ungenügenden Ausschöpfen von wirtschaftlichen Vorteilen  größerer Einheiten (Skalenerträge) , im Ausstrahlen von positiven und negativen Effekten über die Grenzen der regionalen Einheiten und in der Vernachlässigung von nationalen Anliegen erblickt werden.

 

6. Die Zentralisierung einer Aufgabe ist nicht nur unter Skalengesichtspunkten zu beurteilen, wenn die regionalen Präferenzstrukturen erhebliche Abweichungen voneinander haben.

 

7. Ob die Vorzüge des föderativen Staatsaufbaus zum Tragen kommen oder nachteilige ökonomische Effekte entstehen, hängt von der konkreten Ausgestaltung der Verfassung, der sonstigen rechtlichen Normen und von der sachgerechten Abgrenzung des räumlichen Geltungsbereichs autonomer Jurisdiktionen ab. Die ökonomische Theorie kommt somit nicht zu einer überall und jederzeit gültigen Aussage über die Vorteilhaftigkeit oder Nachteiligkeit föderativen Staatsaufbaus.

 

8. Auch der Versuch der empirischen Überprüfung ökonomischer Effekte unterschiedlichern Staatsaufbaus in der konkreten Wirklichkeit der verschiedenen nationalen Staaten Europas führt zu nicht sehr robusten Ergebnissen. Insbesondere die gesamtwirtschaftlichen Leistungsdaten werden auch von anderen Einflüssen als dem des jeweiligen Staatsaufbaus stark geprägt. Am ehesten lässt sich Evidenz dafür anführen, das ausgeprägt föderative Staaten einen geringeren Staatsaufwand und eine geringere Staatsverschuldung aufweisen. 

 

9. Im Gegensatz zu älteren Hypothesen einer automatischen Zentralisierungstendenz und der neueren Annahme, dass die internationale Öffnung von Staat und Wirtschaft sowie moderne Technologien (e-Administration) die Zentralisierung öffentlicher Aufgaben mit sich brächten, zeigt die empirische Beobachtung seit den sechziger Jahren eine auffällige und signifikante Tendenz zur dezentralen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben. Der Anteil der regionalen und kommunalen Gebietskörperschaften an den staatlichen Aktivitäten nimmt ständig zu. Dies ist sowohl auf die Dezentralisierung staatlicher Administration, als auch auf die weit verbreitete Stärkung föderativer Strukturen in einer ganzen Anzahl europäischer Nationen zurückzuführen. Beispiele für einen wesentlichen Abbau von Föderalismus gibt es nicht, wenn man von der Zentralisierung übernationaler Aufgaben im Rahmen der EU absieht. Eine spiegelbildliche Tendenz zur Stärkung dezentraler Steuerautonomie lässt sich hingegen nicht beobachten, was für den Ausbau von Finanzausgleichssystemen spricht. In Österreich ist eine Tendenz zur Dezentralisierung wenn überhaupt besonders schwach ausgeprägt.

 

10. Der überwiegende Teil der finanzwissenschaftlichen Theorie führt positive Effekte föderativen Staatsaufbaus auf wirksame Konkurrenz der konkurrierenden Systeme öffentlicher Finanzen, vor allem der  Besteuerung zurück. Fiskalischer Föderalismus ist ein starker Anreiz zur Vermeidung von als unnötig angesehenen Staatsaufwands.

 

11. Einwände gegen den fiskalischen Föderalismus kommen aus zwei Richtungen: einerseits entwickle wirksamer Wettbewerb eine nahezu automatische Tendenz zur Vermeidung desselben durch Formen der "Kartellierung" zwischen den politischen Einrichtungen konkurrierender Jurisdiktionen. Die Aufrechterhaltung wirksamen Wettbewerbs darf daher auch durch an sich notwendige Koordinationseinrichtungen nicht wesentlich eingeschränkt werden. Der andere Einwand argumentiert im Gegenteil, dass freier, weitgehend unkoordinierter Wettbewerb, vor allem in Fragen des Steuersystems zu suboptimaler Erfüllung öffentlicher Anliegen führen müsse.

 

12. Die Studie betont die Notwendigkeit und Vorteilhaftigkeit von zweckmäßigen Einrichtungen zur Koordinierung zwischen den einzelnen Jurisdiktionen in einem föderativen Staat. Koordinationseinrichtungen sind nicht von vornherein als Gefährdung der positiven Effekte zu betrachten. Fiskalischer Wettbewerb andererseits kann tatsächlich wirtschaftlich und sozial bedenkliche Einbußen an öffentlichen Zielsetzungen mit sich bringen. Innerstaatliche Verlagerungsströme des Wohn- und der Unternehmenssitzes hauptsächlich infolge steuerlicher Anreize sind sehr bedenklich.

 

13. Die Studie schlägt stattdessen vor, den Wettbewerb im föderativen System vermehrt auf qualitative Kriterien zu stützen. Die Ökonomie kennt auch das Modell des Nicht-Preis-Wettbewerbs, bei dem es um qualitative Merkmale öffentlicher Dienste (rasche Erledigung, gute Informationsanbote, konsequente Planungs- und Entscheidungsunterlagen, Bürgernähe, Flexibilität u.a.) geht. Dazu müssen die Informationen über qualitative Merkmale ausgebaut und regelmäßig veröffentlicht und verglichen werden.

 

14. Sinnvolle Steuerautonomie und daher auch Steuerwettbewerb auf der Ebene der regionalen  Rechtssetzung ist dennoch nicht auszuschließen. Sein eigentliches Gebiet ist die Steuergestaltung bei Abgaben auf Immobilien, bei Beiträgen und Gebühren auf individuell gut zurechenbare öffentliche Leistungen (Äquivalenz), sowie bei der Finanzierung von regionalen Ambitionen über die national einheitlichen Standards hinaus.

 

15. Die Theorie und ihr folgend auch der Vertrag über die Europäische Union geben dem Subsidiaritätsprinzip öffentlicher Aufgabenerfüllung den Vorrang auch aus wirtschaftlichen Gründen. Freilich lässt dieses Kompetenzverschiebungen in beide Richtungen – auch nach oben – zu, wenn sich die Skalenökonomie (optimale Größenordnung einer öffentlichen Einrichtung) oder die Präferenzstrukturen der Bevölkerung ändern. Es genügt auch nicht für die sachliche Kompetenzabgrenzung, sondern muss durch einen expliziten und relativ feinmaschigen Kompetenzkatalog untermauert werden. 

 

16. Die Kriterien, die die ökonomische Theorie für die Zuordnung sachlicher Aufgabenbereiche entwickelt hat, liefern nur einen sehr grobmaschigen Raster. Klar ist, dass es für eine Vielzahl öffentlicher Aufgaben wirtschaftliche Mindestgrößen (Skalengrößen) gibt, die tunlichst zu beachten sind. Dies gilt sowohl für die regionale, als auch insbesondere die kommunale Ebene durch gemeinsame (ausgelagerte) Einrichtungen oder  Gemeindeverbände für bestimmte Aufgaben. 

 

17. In der modernen Wirklichkeit insbesondere im Rahmen der Europäischen Union werden einzelne große Aufgabenbereiche des Staates nur ausnahmsweise gänzlich einer Ebene zugeordnet werden können. Vielmehr wird eine abgestufte Rechtssetzung der Regelfall sein, bei welchem die höheren Ebenen (EU, nationaler Staat) die Grundsätze der politischen Ziele und Aufgabenerfüllung, Koordinierung und wechselseitigen Anerkennung regeln, die unteren Ebenen (nationaler Staat, Einheiten im föderalen System) die den jeweiligen Verhältnissen am besten entsprechende Konkretisierung und Durchführung.

 

18. Wesentlich zur Vermeidung von wirtschaftlicher Ineffizienz ist die kongruente Ausgestaltung von Regelungs-, Durchführungs- und Finanzierungsverantwortung. Dies gilt auch, wenn eine abgestufte Rechtssetzung als Regelfall angenommen werden kann. Die Konnexität zwischen Gesetzgebung, Durchführung und Finanzierung kann nicht nur durch Ausbau der Steuerautonomie Rechnung getragen werden, sondern auch Reorganisation der Entscheidungs- und Koordinierungsverfahren sowie durch einen auf sachliche Kriterien gestützten Finanzausgleich. 

 

19. Die unter Umständen wettbewerbsmindernden Wirkungen des Finanzausgleichs können begrenzt werden, wenn die Finanzverfassung "objektivierbare", kalkulierbare Kriterien für das Ausmaß der Finanzausgleichsströme vorsieht.

 

20. Über den etablierten Bestand an theoretischen Argumenten für den optimalen Aufbau eines Staatswesens hinaus betont die Studie fünf neuere Gesichtspunkte zugunsten der Stärkung eines föderativen Systems:

 

 

 

 

 

 


I.  Wirtschafts- undVerfassungsmodelle

Der Geist der Verfassungen und das Wesen der Wirtschaft könnten nicht gegensätzlicher sein. Hier die möglichst unabänderliche Festschreibung, was Recht ist, Bindung der politischen Kräfte und Ausgleich der Interessen, da individuelle Initiative, Wettbewerb und Veränderung als Prinzip.

Dennoch wäre es weit gefehlt daraus zu schließen, dass beide gesellschaftlichen Phänomene voneinander unabhängig gesehen werden können. Die Dynamik der Wirtschaft benötigt einen verlässlichen Ordnungsrahmen, mit dem sie rechnen kann. Und sie bedarf eines Schutzes vor der Willkür politischer Einflussnahme, um ihre produktiven Kräfte voll zu entfalten. "Not only do political forces hold the potential to destroy a fragile, nascent economic system, but their prospect deters the economic activity necessary for economic growth". (Weingast, 1995, p.2).

Umgekehrt können Verfassungen wertloses Papier bleiben oder werden, wenn ein Staatswesen seine Aufgaben verfehlt, die Zustimmung der Bevölkerung verliert, weil die Wirtschaft keine ausreichende materielle Basis zu schaffen vermag.

Explizit oder implizit gehen Staatsverfassungen immer von Vorstellungen über das Funktionieren des Wirtschaftssystems aus. Sie enthalten Grundsätze und Regeln, denen die wirtschaftlichen Prozesse unmittelbar unterliegen, und institutionelle Normen darüber, wie staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsleben erfolgen dürfen, können oder müssen.

Die Verfassungen unterscheidet sich international erheblich: am augenfälligsten bei der Formulierung von wirtschaftlich relevanten Zielvorstellungen des Staates, die auch vollständig unterbleiben kann, und bei der Zuordnung von Kompetenzen an die verschiedenen staatlichen Institutionen. Die Unterschiede mögen auf nationale Traditionen zurückgehen, sie weisen jedoch auch auf die unterschiedliche Entstehungsepoche einer Verfassung hin.

In den letzten Jahrzehnten war der Wandel des Wirtschaftslebens und jener der wirtschaftspolitischen Vorstellungen, gerade auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts, sehr rasch und tiefgreifend. Ausreichende Anpassungen der geschriebenen Verfasssungen an die veränderte Umgebung sind in vielen Staaten noch nicht vollzogen. Sie stehen aber an, soll die aus früheren Zeiten und vor dem Hintergrund ganz anderer wirtschaftlicher Verhältnisse entstandene Verfassung nicht überdehnt oder die küntigen Potentiale der Volkswirtschaft nicht behindert werden.

Das gilt auch für Österreich. Natürlich sind wirtschaftliche Gesichtspunkte weder der einzige, noch vielleicht der wichtigste Anlass für Reformüberlegungen zur österreichischen Verfassung. Immerhin geht diese in ihrem wesentlichen Kern und in ihrer institutionellen Struktur auf das Jahr 1920 zurück. Und auch wenn seither viele Verfassungsartikel gestrichen, verändert oder hinzugefügt wurden, auch solche, welche fundamentale Aspekte der Wirtschaftspolitik betreffen, scheint eine systematische Überprüfung des Verfassungsbestandes unter dem Gesichtspunkt der schon erfolgten Veränderungen, den neuen Problemstellungen und absehbaren Entwicklungen in der Zukunft, dringlich.

Dies wird besonders deutlich, wenn man an die Situation seit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (1995) denkt, deren Zuständigkeiten und Politik sehr unmittelbar in die Wirtschaftspolitik und die Wirtschaft dieses Landes eingreifen. Der Rechtsbestand der EU ist österreichisches Recht, ohne dass das zentrale österreichische Verfassungsdokument bisher diesem Umstand systematisch und organisch Rechnung getragen hätte. Es sei vorweggenommen, dass durch die Übernahme des europäischen Rechtsbestandes einige der später zu diskutierenden Lücken im Torso der österreichischen Wirtschaftsverfassung geschlossen wurden, ohne dass diese europäischen Normen formell in den Korpus des BVG integriert worden wären.

Das Verhältnis zur europäischen politischen Ebene ist nur ein besonders augenfälliger Hinweis auf Reformbedarf in der Bundesverfassung. Wenn man aber bedenkt, welche Veränderungen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in der Abgrenzung staatlicher Aufgaben, im Sozialsystem, in der Technologie und den gesellschaftlichen wie individuellen Verhaltensweisen, im wirtschaftlichen Entwicklungsniveau und in der weltweiten Umgebung eingetreten sind, liegt die Vermutung nahe, dass Veränderungen von dieser Tragweite unbedingt einen Niederschlag in der Verfassung finden müssen. Dazu kommen noch die Entwicklungen der politischen Doktrinen und der wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Funktionieren des Staates und der Wirtschaft.

In den nahezu neun Jahrzehnten seit der Entstehung der geltenden österreichischen Bundesverfassung ist in der Nachbarschaft Österreichs das Experiment der kommunistischen Planwirtschaft spektakulär gescheitert, sind ständestaatliche Vorstellungen, Faschismus und nationalsozialistische Diktatur überwunden worden, ist die soziale Sicherheit vollständig entfaltet worden und hat sich die materielle Versorgung des Durchschnitts der Bevölkerung mit wirtschaftlichen Gütern und privaten wie öffentlichen Dienstleistungen auf das annähernd Neunfache vermehrt.

Seit damals haben gerade auch österreichische Denker zu fundamentalen Vorstellungen über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft Wesentliches beigetragen: Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises oder Joseph Alois Schumpeter fanden weltweite Beachtung. Die Entwicklung eines umfassenden Sozialsystems in der Nachkriegsepoche ging auf sozialdemokratische und christlich-soziale Leitvorstellungen zurück, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der österreichischen Verhältnisse entwickelt worden waren.

Die immer komplexere Wirklichkeit von Staat, Politik und Wirtschaft hat im letzten Jahrhundert dazu geführt, dass sich Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft signifikant auseinanderentwickelt haben. Aus der ursprünglich als politische Ökonomie verstandenen Wirtschaftswissenschaft ist eine an naturwissenschaftlichen Methoden ausgerichtete Disziplin geworden. Dies bedingt, dass sie hochgradige Abstraktionen für ihre Analysen einsetzt, die die politischen Aufgaben, die die gesellschaftliche und wirtschaftliche Wirklichkeit stellen könnten, nicht voll abbilden können. Verschärft wird der Mangel an Realitätsbezug durch die - im Vergleich zu den Naturwissenschaften – prinzipiell äußerst beschränkte Zahl an Informationen und die bescheidene Qualität der Messungen bei gleichzeitig rascher Veränderung vieler Variabler.

Viele der typischen ökonomischen Denkmodelle sahen bis vor nicht allzu langer Zeit, von den Gesetzen politischer Verhaltensweisen und dem Funktionsweise staatlicher Institutionen (ganz abgesehen von psychologischen und soziologischen Aspekten) ab. Abermals Weingast: "Unfortunately, economists' focus ignores politics..." (a.a.O., p.2). Das ist so apodiktisch nicht ganz richtig, denn es bezieht sich nur auf die allerdings vorherrschende Tradition klassischer und neo-klassischer Modelle in der Ökonomie.

Heute ist die Ökonomie an sich leistungsfähiger geworden. Moderne politische Ökonomen meinen sogar umgekehrt, dass sich "mit der angemessenen Rolle des Staates in einer Gesellschaft nicht nur Ökonomen auseinandergesetzt hätten, sondern auch politische Philosophen, Politikwissenschafter. Diese Frage hat eine beachtliche Menge an höchst einsichtvollen Erkenntnissen auch von Nicht-Ökonomen zustande gebracht" (Drazen, 2000, p. 677). Drazen bekennt, dass "diese alternativen Ansätze für den politischen Ökonomen zu beachten sind, weil sie oft zu ganz unterschiedlichen und erhellenden Perspektiven beitragen können." (a.a.O.).

Spiegelbildlich zur Verlagerung der ursprünglich politischen (und philosophisch-ethischen) Wirtschaftstheorien zur Abstraktion, die einer exakten mathematischen Darstellung der Marktwirtschaft zugänglich ist, gewann auch in der Rechtswissenschaft die strenge Orientierung an Axiomen der juristischen Logik und Methodik stark an Boden, nicht zuletzt unter dem Einfluss der "Reinen Rechtslehre" Hans Kelsens, also einer Theorie des positiven Rechts. Der Fokus verlagerte sich von rechtspolitischen und –philosophischen Fragen zur streng regelgebundenen Rechtshierarchie. In der Folge tendierte die Rechtswissenschaft dazu, wenig Sensibilität für wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Interessenlagen aufzubringen und den systematischen, fruchtbaren und wechselseitigen Bezug mit der wirtschaftlichen Wirklichkeit unterbelichtet zu lassen. (Darauf könnte zurückgehen, dass die aktuellen Bemühungen um eine Bundesstaatsreform in Österreich zwar einen ihrer Ausgangspunkte von wirtschaftlichen Beobachtungen und Bedenken nahmen - der Frage nach der Effizienz und der Wettbewerbsfähigkeit der staatlichen Organisation im internationalen Wettbewerb –, aber weder die Wirtschafts- wie die Politikwissenschaft direkt zum Konvent beitragen).

Die formal strengen Modelle der Ökonomie wie der Rechtswissenschaft sind beileibe nicht ohne wissenschaftlichen Erkenntniswert. Sie sind im Gegenteil die Ausgangsbasis, von der aus der Vorstoß in die Komplexheit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität erst wissenschaftlich verantwortet werden kann.

Ebenso wie Drazen in seiner modernen politischen Ökonomie für die Beachtung der Ergebnisse anderer Sozialwissenschaften plädiert (Drazen, a.a.O.), tun dies auch moderne Staatsrechtsdenker. "Da die einzelnen Instrumente (des Wirtschaftsrechts, erg. d. Verfrs.) im Laufe der Jahrzehnte in ihrer konkreten Ausgestaltung vom Fortschritt der wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse über die wirtschaftlichen Zusammenhänge als auch von den jeweiligen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen und deren theoretischer Durchdringung beeinflußt wurden, kann die folgende Analyse (des Wirtschaftslenkungsrechts, erg. d. Verfrs.) gegenstandsbedingt keine rein juristische sein. Sie muß die einschlägigen wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse ebenso mitberücksichtigen wie die Entwicklung der praktischen Wirtschaftspolitik. .... Die notwendige interdisziplinäre Zusammenarbeit schließt allerdings nicht aus, daß sowohl Juristen wie Ökonomen wirtschaftspolitische Instrumentenanalysen erarbeiten, denen jeweils die disziplinspezifische Fragestellung zugrundeliegt und bei denen 'der große Unterschied zwischen der Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen und Eingriffen in den Wirtschaftsprozeß selbst' nicht übersehen wird (Wenger, 1982, Hervorhebungen im Original. Ähnlich Schäffer, 1982).

Die vorliegende Arbeit beleuchtet ökonomische Aspekte der Bundesstaatsreform auf der Basis des heutigen Erkenntnisstands der Wirtschaftswissenschaft. Sie ist sich aber bewußt, dass diese weder hauptsächlich noch gar allein die gestellten Reformaufgaben lösen kann, zumal auch demokratie- und staatspolitische Fragen anstehen. Vor allem ist sie sich über den begrenzten Aussagewert ökonomischer Modelle im Klaren: nicht nur, dass diese in aller Regel auf einem sehr abstrakten Bild menschlicher und politischer Verhaltensweisen beruhen, sondern auch, dass sie letztlich von fundamentalen Wertvorstellungen über metaökonomische Präferenzen abhängen. "Purely economic assessments of the merits of centralization rest on very fragile grounds" (Congleton, Kyriacou, Bacaria, 2003, p.183). Zu ergänzen wäre: "merits of centralization or decentralization".

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Wirtschaftswissenschaft keinerlei gesicherte oder einigermaßen unumstrittene Ergebnisse zu liefern imstande ist. Die Geister scheiden sich nicht so sehr an der Beurteilung wirtschaftlicher Zusammenhänge, sondern meist an dahinter liegenden politischen Grundfragen.

Antworten auf die Fragen: wieviel Wirtschaft, wieviel Staat? oder: wieviel Autonomie, wieviel Effizienz? oder: wieviel sozialer Ausgleich, wieviel Leistungsanreize? hängen von subjektiven Werturteilen ab, die von nicht wenigen Untersuchungen doch recht durchsichtig mit ökonomischen Methoden verhüllt werden. Die Arbeit muss sich darauf beschränken, die vorliegenden, oft widersprüchlichen Argumente zu diskutieren und abzuwägen. Letztlich ist es unbestrittene Verantwortung der Politik, Prioritäten zu setzen. 

 

1.  Menschenbild und Staatsmodelle der Wirtschaftswissenschaft

Ob die Wirtschaftswissenschaft überhaupt zu den Normen der Staatsverfassung beitragen kann, hängt davon ab, ob ihr Staats- und Menschenbild mit jenem, das die Politik – gestützt auf die Zustimmung der Bevölkerung – vertritt, kompatibel ist. Viele wirtschaftliche Theorien basieren auf der Fiktion eines homo oeconomicus; eines blutleeren Wesens, das seine Entscheidungen über materielle Güter ausschließlich und uneingeschränkt am Kriterium der ökonomischen Rationalität ausrichtet. Allerdings hat die Wirtschaftstheorie schon bald beobachtet, dass die rationalen Entscheidungen einzelner Wirtschaftssubjekte nach dem Spiel von Angebot und Nachfrage auf den Märkten regelmäßig zu suboptimalen politischen Ergebnissen führen, die gemessen an den politischen Zielvorstellungen als Marktversagen bezeichnet werden können, wenn dem Spiel nicht Regeln und Institutionen, die deren Beachtung durchsetzen, zu Grunde liegen.

Die systematische Anwendung der Ökonomie des eigennutzbestimmten Individuums hat jedoch umgekehrt auch nicht vor den Gesetzmäßigkeiten und Abläufen politischer Entscheidungen halt gemacht. Im Anschluß an die frühe Staatsphilosophie eines Th. Hobbes (1651) hat auch die Wirtschaftswissenschaft die Vorstellung des Staates als wohlmeinenden Wohltäters im Sinne des Gemeinwohls in Frage gestellt. Auch Politiker und politische Institutionen orientieren sich an ihrem jeweiligen Eigeninteresse. Daraus resultiert eine Tendenz zum Staat eben als "Leviathan", als gefrässiges Ungeheuer. Die Frage lautet nicht, ob eher Marktversagen oder eher Staatsversagen anzunehmen sind. Alle Aussagen sind unrealistisch, die nicht die inhärente Neigung zum Abirren vom Gemeinwohl in beiden Richtungen annimmt. Ihnen Schranken zu setzen, die Kräfte zu kanalisieren und auszugleichen, dienen nicht zuletzt die Normen der Staatsverfassung als Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Auf Popper (1945) geht das Postulat zurück, Staatsverfassungen so zu konstruieren, dass sie nicht nur, wenn die Handelnden eigennützig, sondern sogar wenn sie böswillig agieren, zu gesellschaftlich akzeptablen Ergebnissen führen.

Juristen wie Ökonomen tun gut daran, dieses Faktum zu akzeptieren. In Deutschland wurde vor kurzem eine Debatte über den Menschen- und den Staatsbegriff des modernen öffentlichen Rechts im Vergleich zu jenen der modernen Wirtschaftswissenschaft geführt (Engel, Morlock, 1998). Die Staatsrechtslehre sieht nicht selten das neuere Interesse am öffentlichen Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung mit Skepsis und Irritation. Methodische Friktionen zwischen Staatsrechtslehre und ökonomischer Theorie sind nicht zu leugnen (Kirchner in: Engel-Morlock, 1998, S.315). Unterschiedlich sind jedoch zweifellos auch die philosophischen Grundlagen des Menschen als sozialem Wesen und der anzunehmenden Sozialverträge (ausführlich R. Gröschner und die dortige Diskussion).

Es greift zu kurz, wenn Kirchgässner (1998, S.49ff) feststellt, dass zwischen dem Menschenbild des homo oeconomicus und dem des 'homo republicanus', der dem deutschen Grundgesetz implizit zu Grunde liege, kein Widerspruch besteht. Der individualistische homo oeconomicus ist zweifellos dann als korrekter homo republicanus anzunehmen, wenn ihn die Rechtsordnung dazu zwingt. Aber die komplexen Züge des Menschen als moralisches, soziales und politisches Wesen deckt der homo oeconomicus nicht ab. Daher sind die Erkenntnisse der Wirtschaftstheorie mit jenen der Rechtsphilosophie- und -theorie, der Staats- und der Politikwissenschaft zu integrieren.

Vereinzelt werden die Aussagen der Wirtschaftswissenschaft zum Thema Staatsverfassung von Juristen als sinnlos und als Irrweg mißverstanden. Die Defensivstellung mancher Staatsrechtler, die der neueren Ökonomie "Imperialismus" vorwerfen und inbesondere vor einer gefährlichen und unerträglichen Ökonomisierung der Staatsverfassung warnen (Fezer, 1986), ist eine übertriebene Reaktion. Sie ist aber nicht ganz unverständlich, wenn man beobachten kann, dass radikaler Ökonomismus auch auf menschliches Verhalten und auf ein Staatsmodell angewendet wird, das auf das Gewährleisten von funktionierenden Märkten und auf ausschließlich effizienzorientierte Entscheidungen reduziert ist, wie seit in G. Beckers (1976) Ansatz der Fall ist.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Verwendung ökonomischer Paradigmen für Fragen der Staatsorganisation vollständig abzulehnen ist. Sie vermag Bedingungen zu formulieren, die die Effizienz staatlicher Politik wesentlich zu verbessern geeignet sind. Dies gilt vor allem von der Theorie politischer Entscheidungen (public choice), der Institutionenökonomie und vom Modell konkurrierender Jurisdiktionen (fiscal federalism). Die politische Ökonomie der verfassungsmässigen Institutionen (constitutional economics) ergänzt den normativen Ansatz des Staatsrechts um den positiven der Wirtschafts- und Politikwissenschaft. Die Ökonomik, also die Anwendung des ökonomischen Paradigmas, gestattet wichtige Erkenntnisse für die in einer modernen Demokratie so zentralen Fragen, wie etwa die nach der Wirkungsweise politischer Parteien und Interessenvertretungen, über föderalen oder unitarischen (zentralistischen) Staatsaufbau, über den Staat als Leistungs- und nicht nur als Rechtsschutzträger und über die finanziellen Rahmenbedingungen des Staatswesens. "He (der Ökonom) can assist the choice by proposing principles that should permit efficiency in polic-making." (Wiseman, 1964, zitiert in Thöni 1986, S.23, Fußnote 28).

Das Recht hat eben auch eine ökonomische Dimension, die zu übersehen fatale Folgen ("pereat mundus") haben könnte. Dabei ist der Ökonom aufgefordert – wenn dies auch nicht in jedem Fall hinreichend beachtet wird – sich normativer Schlußfolgerungen zu enthalten, um nicht selbst zum "Verfassungsgeber" zu werden. (Thöni, 1986, S.23).

Die Ökonomie hat außerdem ein verständliches Interesse, die Abhängigkeit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit von der Rechts- und Verfassungsordnung zu analysieren. "To understand the political foundation for the markets we must begin with the constitution". (Weingast a.a.O.). Die Verfassung spielt eine Rolle für die Volkswirtschaft insgesamt und für die Wahrnehmung von Einzelinteressen. Daher sind auch Veränderungen der Verfassung unter ökonomischen, etwa wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten zu analysieren. "Although the protagonists of constitutional change couch their arguments mainly in political language, economic issues have an immense underlying importance in determining the choice among different constitutional structures." (Burrows, 1980, S.45).

 

2.  Verfassungsgrundsätze und Wirtschaftsverfassung

Viele Verfassungsbestimmungen sind wirtschaftlich relevant. Die Stabilität und Entscheidungsfähigkeit der Regierung, die Durchsetzbarkeit von individuellen und öffentlichen Rechten, die Berechenbarkeit von Verwaltungsentscheidungen, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Zustandekommen und Einhaltung von internationalen Verträgen, all diese Funktionen, denen die Verfassung die Grundlage geben soll, berühren unmittelbar oder mittelbar die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft.

Allgemein gesprochen enthalten Staatsverfassungen drei Kategorien von Normen (Gavison, 2002):

·         Normen über die Strukturen und Kompetenzen staatlichen Institutionen, ihr Verhältnis zueinander und ihre Entscheidungsregeln,

·         Normen über die Grundrechte der Bürger oder der Menschen überhaupt,

·         Normen über grundlegende Wert- und Zielvorstellungen.

Dabei ist die erste Kategorie, die über die staatliche Organisation, wahrscheinlich der unerlässlichste Bestandteil einer Verfassung. Er entscheidet auch in aller Regel über die Funktionsfähigkeit einer Verfassung als Garant institutioneller Stabilität. Grundrechtskataloge können – wie in Österreich – in eigene Grundrechtsgesetze oder in internationale Konventionen ausgelagert sein. Wie sehr sich eine Verfassung ausdrücklich grundlegenden Werten und programmatischen Zielen verpflichtet, ist international höchst unterschiedlich.

Verfassungsnormen, die die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft explizit betreffen, können unter allen drei Kategorien gefunden werden.

Eine Schlüsselfrage der Wirtschaftsverfassung ist, welche Kompetenzen und Aufgaben der Staat für sich in Anspruch nimmt, welche allenfalls autonomen Körperschaften und welche der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft vorbehalten sind oder in private Gestion ausgelagert werden können.

Wie eine Verfassung diese Fragen beantwortet, bestimmt den Umfang (scope) der Staatstätigkeit. Die Antwort entscheidet aber auch über Niveau und Dynamik der Wirtschaftsleistung, von den individuellen Freiheiten und den Anreizen für private ("zivile") Initiativen einmal ganz abgesehen.

Für bestimmte Bereiche öffentlicher Aufgaben wird in Österreich gesetzlich beauftragten oder ermächtigten Körperschaften, formal außerhalb des Staates, Autonomie übertragen. In dieser Hinsicht entspricht jedoch die geschriebene Bundesverfassung Österreichs seit langem nicht mehr der wirtschafts- und sozialpolitischen Realverfassung. Die berufsständischen Körperschaften, und zwar sowohl die auf Grund von Bundesgesetzen tätigen wie einige (de facto öffentlich anerkannte) privatrechtliche Berufsvertretungen übten und üben in ihren autonomen Wirkungsbereichen eine für die österreichische Wirtschaftsentwicklung und wohl auch für deren Erfolge entscheidende politische Rolle aus. Charakteristisch für die österreichische Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte ist auch, dass der politische Einfluss der Sozialpartner weit über ihre eigentlichen autonomen Verantwortungsbereiche hinauswuchs. Auf die umfangreiche Diskussion über die verfassungsmäßige Verankerung der Sozialpartnerschaft kann hier nur verwiesen werden.

In solchen autonomen Institutionen, zu denen auch die zentrale Geldbehörde, nämlich die Oesterreichische Nationalbank, zählt, üben staatliche Organe ein Aufsichtsrecht über die Gesetzmäßigkeit ihrer Tätigkeit aus. Im Fall der Nationalbank steht der Bundesregierung auch die Bestellung von Führungsorganen zu. Doch allein der autonome Wirkungsbereich – Lohn- und Einkommenspolitik, Fragen der sozialen Beziehungen sowie die Geld- und Währungspolitik – ist ganz zentral für die Gesamtleistung der Volkswirtschaft und für das wirtschaftliche Schicksal aller in diesem Land Lebenden. Die Gesetzesaufträge an diese Körperschaften ergingen in der Regel nicht auf Grund von Verfassungs- sondern von einfachen Gesetzen und sind daher formal mit geringerer zeitlicher Stabilität und leichterer Abänderbarkeit ausgestattet.

Die Grenze zwischen Staat und Privat wird nicht allein durch explizite Elemente einer Wirtschaftsverfassung gezogen, nicht nur durch Kompetenzkataloge staatlicher Aufgabenbereiche,, sondern auch durch die Garantie von wirtschaftlich bedeutsamen Freiheitsrechten der Bürger und ihre Interpretation, vor allem der Grundrechte auf Schutz des Privateigentums und auf Freiheit der Erwerbstätigkeit. Als schon selbstverständliche Basis der österreichischen Wirtschaftsverfassung kommen das Gebot des einheitlichen Währungs-, Wirtschafts- und Zollgebietes (Art.4) und schließlich die Regeln über die Staats-, speziell die Bundesfinanzen und deren Kontrolle hinzu.

Die österreichische Verfassungsordnung vermeidet tatsächlich in der Verfassungsurkunde selbst ein ausdrückliches Bekenntnis zu einer bestimmten wirtschaftlichen Grundordnung oder Wirtschaftsform. "Das österreichische Verfassungsrecht enthält keine Aussage über ein bestimmtes konkretes System einer Wirtschaftsordnung, keine wirtschaftsordnungspolitische Gesamtentscheidung, setzt aber dem Gesetzgeber, auch wenn er wirtschaftspolitisch tätig wird, einen Rahmen, den dieser nicht überschreiten darf, ohne verfassungswidrig zu handeln." (Korinek, 1983, S.243).

Der Mangel an einer ordnungspolitischen Klarstellung kann als Ausdruck etatistischer Staatsauffassungen aufgefasst werden, und war es ursprünglich wohl auch. In der heutigen weltwirtschaftlichen Umgebung stellt diese Lücke Erbgut aus längst vergangenen Zeiten und ein nicht unriskantes Defizit dar. Der verbreitetste Kommentar zum Bundesverfassungsrecht (Walter-Mayer, 2000) enthält in seinem Sachregister kein Stichwort "Marktwirtschaft" (zwischen den Stichworten "Marktgemeinde" und "Märzgefallene"!), der Kodex des Verfassungsrechts (2003) keines zwischen "Marktpolizei" und "Maß- und Punzierungswesen". Wohl aber finden sich dort ausführliche Darstellungen der verfassungsrechtlichen Problematik der sogenannten "Wirtschaftslenkungsgesetze", deren politische und ökonomisch-theoretische Grundannahmen zwar nicht gänzlich obsolet, jedoch seit längerem zumindest höchst problematisch und unzeitgemäß anmuten.

Die Praxis der österreichischen Wirtschaftspolitik, die auf diesen Mangel an einer expliziten ordnungspolitischer Positionsangabe zurückgeführt werden kann, wird je nach Situation, von den Ökonomen unterschiedlich beurteilt. Die einen führen entgangenen volkswirtschaftlichen Gewinn und zu hohe Kosten der "staatlichen Overheads" auf das ordnungspolitisch meist verwaschenes Wirtschaftsrecht, auf den schlampigen Umgang mit Prinzipien der Wirtschaftsordnung zurück. Die anderen rühmen im Gegenteil den Pragmatismus in der Wahl und Kombination wirtschaftspolitischer Instrumente als Vorzug der österreichischen Wirtschaftspolitik, der ihr etwa einen klaren Vorsprung gegenüber der ordnungspolitisch sehr bewußten deutschen Wirtschaftspolitik eingetragen habe. Tatsächlich verliert die deutsche Politik nicht selten wertvolle Zeit und versäumt zweitbeste Lösungen, weil sie über die prinzipiell richtige, beste Lösung streitet.

Ob der nur implizite ordnungspolitische Rahmen für den Gesetzgeber, den die österreichischen Verfassung enthält, auf die Wirtschaft eher als Vor- oder als Nachteil gewirkt hat, kann hier nicht entschieden werden. Die Entscheidung wird wohl auch kaum je exakt möglich sein. In bestimmten Situationen, unter konkreten internationalen Bedingungen, gegebenem konkreten Anpassungsbedarf, angesichts neuer Aufgaben oder Chancen, könnte die Diagnose recht unterschiedlich ausfallen. Die ausnahmslose Perhorreszierung staatlicher Interventionen mancher ordnungspolitischer Fundamentalisten ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht angebracht. Im Übrigen haben alle hochentwickelten Staaten Europas und darüber hinaus, immer wieder ordnungspolitisch mehr als lässliche Sünden begangen, auch diejenigen, die sich am lautesten zu den Prinzipien bekennen. Eine gewisse Flexibilität des Ordnungsrahmens ist auch nicht zu verachten, nicht von der Wirtschaft und schon gar nicht von den meisten Politikern.

Andererseits muss der Mangel an eindeutigerem Positionsbezug in der Verfassung sehr wohl als Risiko gesehen werden, falls sich die politischen Konstellationen im Land und um das Land herum einmal rasch und tiefgreifend verändern würden.

Das anzunehmen besteht derzeit wenig Anlass, namentlich nicht für ein Mitglied der Europäischen Union, das seinen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Ordnungsrahmen ohnehin weitgehend von dort bezieht. Vielfache Erfahrung mit österreichischer Wirtschaftspolitik ließe einen dennoch ein besseres Gefühl haben, wenn die wirtschafts- und sozialpolitischen Grundsätze, die im Rahmen der EU übernommen wurden und werden (übernommen werden mussten?) direkt in die österreichische Verfassung Eingang finden würden. Außerdem würde dieses Explizitmachen immer wieder aufbrechende Mißverständnisse im Grundsatz verringern.

Auch der Acquis Communautaire ist nicht unveränderlich. Gerade heute, wo das Verfassungsprojekt der Europäischen Union zur Diskussion steht und voranzutreiben ist und also die europäische Ebene umgekehrt von Österreich mitbeeinflusst werden kann und soll, wäre es nicht überflüssig, sich auch in Österreich etwas um die Klarstellung von Grundsatzproblemen zu bemühen.

Tatsächlich beklagt die verfassungsrechtliche Diskussion in Österreich seit langem, dass die mühsam zu versammelnden Bausteine einer Wirtschaftsverfassung ein "zersplittertes und ruinenhaftes", "rudimentäres" Bild ergeben (Schäffer, in: K.Korinek, 1983, S. 3). Dies wird umso augenfälliger, wenn man bedenkt, dass ja "in Österreich kein Zwang zur Inkorporierung verfassungsändernder oder verfassungsergänzender Bestimmungen in die 'Verfassungsurkunde' besteht" und daher "das Verfassungsrecht im formellen Sinn in eine Vielzahl von Gesetzen "verstreut" ist. (Schäffer, a.a.O. S. 8).

Das österreichische BVG weist somit wirtschafts- oder sozialpolitische Prinzipien- und Programmvorstellungen nur unsystematisch und verstreut, ansatzweise auf. Teilweise fanden solche durch Novellierung Eingang in das BVG. Am augenfälligsten und problematischsten im Art.13 (Abs.2) - aus der finanzverfassungsrechtlichen Novelle 1986 - , der die Gebietskörperschaften zu einer Finanzpolitik im Sinne des "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" verpflichtet.

Aus ökonomischer Sicht erscheint geboten, dass die marktwirtschaftliche Wirtschaftsverfassung in der Verfassung ausreichend gegen gravierende staatliche Interventionen und Ordnungswidrigkeiten gesichert wird. Es ist eine Hauptfrage der Konstitutionenökonomie, "to learn something about how constitutions credibly commit a state to markets." (Weingast, a.a.O., p.3). Das österreichische Verfassungsrecht beschränkt sich dabei auf die Garantie der wichtigsten wirtschaftlich bedeutsamen Grundfreiheiten des Privateigentums und der Erwerbstätigkeit, unterstützt durch eine Reihe anderer bürgerlicher Freiheitsrechte.

Eine explizite Deklaration des marktwirtschaftlichen Prinzips ist bei Vorhandensein dieser Verfassungsgarantien nicht unbedingt erforderlich. Dafür wäre es aber umso wünschenswerter, die wirtschaftlichen und sozialen Zielvorstellungen des Staates als programmatische Erklärungen darzustellen, was im österreichischen Verfassungsrecht vollständig fehlt. Der Ökonom würde dazu neigen, die wirtschaftspolitischen Kompetenzen des Staates an Hand der wohl etablierten Tradition der Finanztheorie Musgraves (1959) gedanklich in den drei "Abteilungen" Allokation, Distribution und Stabilisierung anzuordnen. Ergänzt müsste eine solche Anordnung durch Hinweise auf die Hierarchie oder die Optimierung wirtschaftspolitischen Zielsetzungen an Hand einer gesamtwirtschaftlichen Zielfunktion werden. Ein Versuch, das "gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht" des Art.13/2 zu definieren, wäre ein Ansatz dazu.

Ebenso läge nahe, die Art oder den Grad der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch den Staat in Regulierung, Gewährleistung und Eigenleistung zu unterscheiden. Dies würde die Frage der Abgrenzung von Staat und Privat wesentlich erleichtern und würde auch System in die alte verfassungsrechtliche Diskussion über die Privatwirtschaftsverwaltung des Staates (Korinek 1983, Walter,Mayer, 2000, S. 246ff) bringen.

Als Konsequenz knüpfen sich an solche Programmvorstellungen politische Festlegungen über die vom Staat wahrzunehmenden Aufgaben. Aufgabenkritik kann nicht oder bestenfalls zum Teil von der Wirtschaftswissenschaft ausgehen. Sie wird letztlich und im Detail mit politischen Wertvorstellungen geführt. Internationale Vergleiche der Verfassungspraxis vermögen Fingerzeige zu geben. Privatwirtschaftliche Organisation von bisher staatlichen Aufgaben oder umgekehrt die "Verstaatlichung" (Regulierung und auch "Re-Regulierung") privater Aktivitäten sind nach wie vor stark ideologisch umstritten. Die Gewichtung von ökonomischen Effizienzgesichtspunkten im Vergleich zu Äquivalenz- und Stabilitätszielen ist meist nicht wissenschaftlich untermauert.

Der Katalog der Staatsaufgaben und ihre Zuordnung an Bund oder Länder der Art. 10 bis 15 BVG erfüllt die Aufgabe der Abgrenzung der Staatstätigkeit von der Privatwirtschaft und vom privaten gesellschaftlichen und individuellen Leben nicht, denn er gibt nur ausnahmsweise die Kriterien und Grenzen für Staatseingriffe. Er genügt auch nicht als Absichtserklärung über die Hierarchie oder die Prioritäten der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik im Fall von Zielkonflikten, welche den Regelfall darstellen. Der "Vollbeschäftigungspolitik" wurden in Österreich lange Jahre hindurch nahezu alle anderen ökonomischen Zielsetzungen untergeordnet. Immerhin gab der frühere Bundeskanzler eine präzise Bestimmung seines Standorts auf der Phillips-Kurve (der Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Inflationsrate) als politische Meinung kund. Grundlegende programmatische Erklärungen der Verfassung könnten Orientierung, eine gewisse Bindung und einen gewissen Schutz gegen allzu abrupte und fundamentale Regimewechsel bieten.

Die verfassungsrechtliche, ebenso wie die politische Diskussion haben in Österreich wie in vielen anderen Ländern bisher strikte daran festgehalten, dass wirtschafts- und sozialpolitische Zielvorgaben in der Verfassung keine individuellen Rechtsansprüche (Recht auf Arbeit, Wohnung, Mindesteinkommen) begründen können. Dies vor allem deswegen nicht, weil es in der Regel nicht oder jedenfalls nicht allein im Einfluss des betreffenden Staates liegt, das Ziel zu erreichen. Dies kann eigentlich für nahezu alle wirtschafts- oder sozialpolitisch relevanten Zielsetzungen angenommen werden. Österreichs Verfassung enthält sich gänzlich aller wirtschafts- und sozialpolitischen Zielvorstellungen und Richtungsangaben. Der wirtschaftlich relevante Grundrechtskatalog beschränkt sich auf die Wahrung des Privateigentums und der Erwerbsfreiheit und dürfte damit genügen, das marktwirtschaftliche Prinzip haltbar zu verankern.

In einer Reihe von Staaten werden aber darüber hinaus soziale Grundrechte postuliert, und zwar als Leitlinie der Politik, nicht als individuelle Berechtigung von Bürgern in der Verfassung verankert. Das Deutsche Grundgesetz (Art.20/1)etwa definiert die Bundesrepublik als "demokratische und soziale Republik". Die Schweizerische Bundesverfassung 1999 wird (Art. 41/1a) noch deutlicher, wenn sie statuiert, dass "Bund und Kantone in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative sich dafür einsetzen, dass a) jede Person an der sozialen Sicherheit teilhat ....", um allerdings gleich (Art.41/4) zu präzisieren, dass "aus den Sozialzielen keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden können."

Die Prinzipien der Bundesverfassung sowie die meisten Menschen- und Grundrechte haben eminente gesellschaftliche und damit auch wirtschaftliche Bedeutung. Dies gilt für das demokratische (Art.1 BVG), das bundesstaatliche (Art.2 BVG) und das rechtsstaatliche Prinzip (Art.18/1), ähnlich für den Gleichheitsgrundsatz (Art.7 BVG) und für die Freiheiten der Versammlung und der Meinungsäußerung (Art.12 und Art.13 StGG).

Der sozial- und wirtschaftspolitische Interpretationsbedarf des Gleichheitsgrundsatzes, der vor allem dem Verfassungsgerichtshof zufällt, bewegt sich in einem ungeheuer weiten Rahmen von potentiell außerordentlicher wirtschaftlicher und finanzieller Bedeutung. Vor allem in steuer- und sozialpolitischen Problemstellungen kann die Interpretation der Gleichheit der Bundesbürger vor dem Gesetz, wie sich in jüngster Zeit mehrmals gezeigt hat (Berücksichtigung des Familienstandes, der Kinderzahl, des Einkommens, der öffentlichen Pensionsansprüche usw.), enorme wirtschaftliche, vor allem finanzielle Konsequenzen haben.

Das rechtsstaatliche Prinzip, dessen Kern von niemandem bestritten werden darf, hat in der Gesetzgebungs- und Verwaltungspraxis in Österreich zu einer wohlmeinenden jedoch zumindest wirtschaftlich suboptimalen Regulierungsdichte geführt.

Dabei soll nicht übersehen werden, dass die Ansprüche an den Staat in Bezug auf Sachgerechtheit, Effizienz, Gleichmäßigkeit wie Differenziertheit größer geworden sind: wichtige Triebfedern sind die Entwicklung neuer Technologien, das aufmerksamere Umweltbewußtsein, höhere Sozialstandards und allgemein der wirtschaftliche Fortschritt. Die oft schon undurchdringliche Regelungsdichte ist teilweise darauf zurückzuführen, dass der Gesetzgeber die Bereinigung alten Rechtsbestandes beim Erlass neuer Normen nicht immer konsequent durchführt, so dass eine Tendenz zur Anhäufung von in sich nicht immer systematischen, konsistenten oder adäquat strukturierten Normenballungen und obsoletes Recht formell bestehen bleibt. 

Es mag auch sein, dass föderale Staatswesen mit Gesetzgebern verschiedener Ebene zu solchen Tendenzen beitragen können. Dies könnte aus unzweckmäßiger Kompetenzabgrenzung oder schlicht aus Koordinationsmängeln resultieren. Ein grundsätzlicher Einwand gegen föderalen Staatsaufbau ist das Argument übertriebener Regelungsdichte jedoch nicht. Die Abgrenzung autonomer Gesetzgebungsbefugnisse auf unterschiedlichen Ebenen kann durchaus dem Prinzip der Effizienz und der Konsistenz entsprechen.

Wenn der Eindruck entsteht, die Normierungsdichte sei in Österreich - und in anderen Staaten mit ähnlicher Rechtstradition – schon problematisch geworden, so wäre das aus drei Gründen ökonomisch bedenklich:

·         weil sie Innovationen innerhalb der staatlichen Verwaltung hemmt,

·         weil sie allzu sehr der Illusion entspringt, alle denkbaren künftigen Anlassfälle vorweg beurteilen und regeln zu können, was im Fall unerwarteter Entwicklungen oft zu fragwürdigen Gesetzesauslegungen führt, und,

·         zuletzt, weil sie natürlich einen bedeutenden Aufwand an Ressourcen und Zeit verursacht.

Die Innovationsfähigkeit des staatlichen Systems in Österreich ist unter anderem durch den Umstand beeinträchtigt, dass die Organe der staatlichen Verwaltung auf Grund der traditionellen Interpretation des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit schon in der juristischen Ausbildung zu rechtspolitischer Initiative in der Regel kaum ausreichend befähigt werden – und sich auch in der Regel nicht berufen fühlen, rechtspolitische Initiativen zu ergreifen. (Dass dies nicht die alleinige Ursache ist, sei zugestanden. Mangelnde Leistungsanreize im öffentlichen Dienst und die strikte Beachtung hierarchischer Entscheidungs- und Kontrollstrukturen spielen gleichfalls eine wichtige Rolle). Das Selbstverständnis der Verwaltung ist vorgeprägt durch die Beachtung des Prinzips der Gewaltentrennung, das es ihren Organen zur Aufgabe macht, vorhandene Gesetze zu interpretieren und zu vollziehen. Umgekehrt verfügen jedoch die zur Rechtsentwicklung berufenen politischen Organe der Regierung und die Gesetzgeber oft nicht über ausreichende Erfahrung und Kenntnisse der Praxis, um Reformen und Innovationen sachgerecht ausformulieren zu können.

Eine Verfassungsreform sollte auf solche in zahlreichen Anläufen zur Verwaltungsreform immer wieder aufgegriffenen Beobachtungen eingehen, weil die begrenzte Fähigkeit des Staates zu einer endogenen Reform auf die Interpretation des Art.18 (1) zurückgeht und sich ein entsprechendes Selbstverständnis der öffentlichen Verwaltung darauf zurückführen lässt. Sich zur Weiterentwicklung von Normen (und der Praxis) berufen zu fühlen, ist eher ausnahmsweise anzutreffen.

Die Gewaltentrennung sollte nicht dazu führen, dass sich die Verwaltung von rechtspolitschen Initiativen entbunden fühlen kann - was wohl oder übel auch in der Praxis nicht der Fall ist. Die Formulierung der meisten Gesetzesvorschläge an das Parlament geht auf Beamtenentwürfe zurück. Nur hat gerade die leidige Erfahrung in jüngster Zeit hinlänglich dargetan, dass diese oft sachlich fehlerhaft, unprofessionell und mit mangelndem Verständnis für größere Zusammenhänge erarbeitet werden. Es geht nicht um die Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit und auch nicht um das Verwischen der Gewaltentrennung. Diese bedeutet Verantwortungstrennung, nicht ein Verbot an die Verwaltung, über den Sinn und die Verbesserung von Gesetzen nachzudenken.

Die Frage, ob bestimmte Regelungen noch immer gerechtfertigt sind, könnte im Prinzip in einem verfassungsmäßigen Vorgang systematisch gestellt werden. Die Normen der Bundesverfassung haben einen ausgeprägt statischen Charakter. Dies entspricht durchaus ihrer Funktion als verlässlicher Rahmen für die staatlichen Aufgaben und ihre Organisation. Auf der anderen Seite scheint es angebracht, für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Dynamik, auf die der Staat unvermeidlich und zum Vorteil von Wirtschaft und Gesellschaft reagieren muss, in der Verfassung Vorkehrungen zu treffen. Der einseitig statische Charakter der Zuordnung staatlicher Kompetenzen ist dem wachsenden Bedürfnis der Wirtschaft nach Flexibilität und Nutzung von Chancen hinderlich und auch rechtspolitisch nicht notwendig.

In der politischen und in der Verwaltungspraxis geht es nur ganz selten um einen Neubau, um die Neuerfindung von staatlichen Einrichtungen. Es geht in aller Regel um den Umbau, um die Reform.

Für das in ganz Europa beklagte Phänomen des Reformstaus bieten sich mehrere Erklärungen an, nicht zuletzt Mängel der öffentlichen Meinungsbildung. Aber auch die Funktionalität der Verfassung könnte ohne Einbußen am Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verbessert werden, wenn systematische Mechanismen der Veränderung als dynamische Verfassungselemente eingebaut werden. Diese Ansicht wird etwa von Thöni in Bezug auf Bundesstaatsreformen geteilt (Thöni, 1986, S. 16).

An einem Beispiel erläutert: weil die Prinzipien der Veränderung nicht feststehen, werden in Abständen von wenigen Jahren zwischen Bund, Ländern und Gemeinden Verhandlungen über die Neufassung des Finanzausgleichgesetzes (FAG) abgehalten, deren Grundlage die Erhaltung, Ausweitung oder Verteidigung der bisher vereinbarten Rechte ist, jedoch nicht unbedingt eine systematische Entscheidungsgrundlage, welche Veränderungen seit der letzten Beschlussfassung für eine Revision in Betracht zu ziehen sind. 

Ein Aspekt, dem der größere Teil dieser Studie gewidmet ist, ist die Ausgestaltung des vertikalen Stufenbaus des Staates in territorialer Hinsicht aus ökonomischer Sichtund die Zuordnung von Verantwortung, unter anderem für wirtschaftspolitische Zielsetzungen, zu diesen Ebenen.

 

3.  Wirtschaftspolitische Inhalte von Staatsverfassungen

Der Vergleich geltender Verfassungen in verschiedenen Ländern mit ähnlichem Entwicklungsstand und ähnlicher wirtschaftspolitischer Denkweise enthüllt dennoch frappierende Unterschiede im Grad des Eingehens auf wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen, Institutionen und Programme. Gelegentlich wird – wie immer dies gezählt wird – festgestellt, dass gegenwärtig die laufende Gesetzesproduktion eines hochentwickelten Staates bereits überwiegend wirtschafts- und sozialpolitische Inhalte aufweise. Das würde verständlich machen, dass wirtschaftspolitische Normen auch in den Verfassungen im Verlauf des letzten Jahrhunderts immer mehr Platz beanspruchten.

Ein eindrucksvolles Beispiel ist die neue Schweizerische Bundesverfassung aus 1999. Diese beschränkt sich nicht auf die üblichen Garantien der Wirtschaftsfreiheit und des Eigentums (Art. 26, 27, 94), nicht auf die Kompetenzverteilung im föderalen System und nicht auf institutionelle Ordnung der Staatsfinanzen, sondern sie enthält darüber hinaus drei Kategorien von Verfassungselementen, die in älteren Verfassungen nicht oder nicht systematisch anzutreffen sind: einmal Deklarationen zu den wirtschaftlichen und sozialen Zielen oder vielmehr Zwecken der Eidgenossenschaft (Art. 2 und insbesondere Art.41 zu den Sozialzielen).

Sie nimmt die große Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte über das Verhältnis von Wirtschaft und Umwelt unter dem Leitgedanken Nachhaltigkeit (Art.2/2 und 73 folgende) auf und bekennt sich in diesem Sinn zur Verantwortung gegenüber künftigen Generationen (Präambel, Abs.5). Nichts ist aktueller als dieser Gedanke, der Generationengerechtigkeit anvisiert und den Staat zum Hüter der Interessen noch nicht Geborener oder jedenfalls noch nicht an den politischen Entscheidungen Teilnehmender deklariert, zu Zeiten heftiger Debatten über Reformen am Pensionssystem und über Grenzen der Staatsverschuldung.

Darüber hinaus enthält die neue schweizerische Verfassung Grundsatzerklärungen zu makrökonomischen Fragen und Institutionen, vor allem zur Geld- und Währungspolitik (Art.99), zur Konjunkturpolitik (Art.100), zur Aussenwirtschaftspolitik (Art.101), zur Krisenvorsorge (Landesvorsorge, Art.102) und schließlich zur Strukturpolitik einschließlich der Agrarpolitik (Art.103 und 104).

Die zeitgemäße Verfassung der Schweiz und das ein halbes Jahrhundert ältere deutsche Grundgesetz (GG) weisen in ökonomischer Sicht natürlich große und bemerkenswerte Unterschiede auf. Insgesamt geht das GG weit weniger auf ökonomische Probleme ein. Es ähnelt in dieser Hinsicht viel mehr dem noch dreißig Jahre älteren österreichischen BVG. Mit zwei bemerkenswerten Unterschieden aus volkswirtschaftlicher Sicht: einmal durch die im Rahmen der Regeln für das Finanzwesen gezogene Grenze für die Neuverschuldung des Bundes (Art.115, Abs.1). Zur Abdeckung des Defizits aufgenommene Kredite "dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten" (golden rule der Fiskalpolitik).

Zum anderen, weil die vom Bund zu errichtende Zentralbank ausdrücklich auf das vorrangige Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet wird. Der diesbezügliche Artikel 88 GG wurde übrigens bereits an die Errichtung der Europäischen Zentralbank angepasst, ohne diese Zielvorgabe zu ändern.

Andere, insbesondere fiskalische Verhaltensweisen des Bundes und der anderen Gebietskörperschaften werden zur "Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" vorgeschrieben. Dieser Begriff wird im GG aber ebenso wenig näher definiert wie bei seiner etwas verloren wirkenden Einführung in das österreichische BVG im Artikel 13 anläßlich der Verfassungsnovelle 1986. Die staatliche Haushaltswirtschaft hat den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen (Art.109/2 GG) und "konjunkturgerecht" zu sein (109/3). Zur Abwehr von Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts können durch Bundesgesetz auch die Länder und andere öffentliche Körperschaften zu einer entsprechenden Staatsschuldenpolitik angehalten werden. Zum Konjunkturausgleich können Rücklagen gebildet werden (109/4).

Allfällige Konflikte zwischen Geld- und Finanzpolitik, zwischen Preisstabilität und konjunktureller Stabilisierung werden nicht angesprochen. Das Ziel der Mehrung der wirtschaftlichen Wohlfahrt wird ebenso wenig in den Katalog der Staatsziele aufgenommen wie jenes der längerfristigen Orientierung zum Wohle kommender Generationen, wie das in der Schweiz seit 1999 Verfassungsvorgabe ist.

Eine Präzisierung und Operationalisierung des Begriffs gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht erfolgte in Deutschland durch das (Bundes-) "Gesetz zur Wahrung der Stabilität und des Wachstums" aus dem Jahr 1967. Dieses lässt ein ähnlich ungebrochenes Vertrauen in die Machbarkeit dieser Staatsziele vor allem durch Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage über die staatlichen Fiszi - angesichts eines ersten heftigeren Konjunkturrückschlags im selben Jahr – erkennen, wie knapp dreißig Jahre später umgekehrt in die Wirksamkeit angebotsseitiger Rahmenbedingungen. Es waren die deutsche Bundesregierung und die Bundesbank, die eine ziemlich einseitige (angebotsorientierte) Wirtschaftsauffassung in die Formulierungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts der Europäischen Union hineinreklamierten. Die Laune der Geschichte wollte es, dass just jenes Land, dessen Vertrauen in – insbesondere quantitative - Regelbindungen der Wirtschaftspolitk immer besonders ausgeprägt war, diese Bindungen besonders rasch und eklatant brach oder brechen musste.

Das Maximieren einer gesamtwirtschaftlichen Zielfunktion im Rahmen und in den Randbedingungen (constraints) des "magischen Vielecks" der Ökonomie – Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und wirtschaftliches Wachstum – erfordert flexible Kombination verschiedener Ansätze und kann wohl nicht Inhalt von verfassungsgesetzlichen Vorgaben sein.

Für die Inhalte einer dem heutigen Erkenntnisstand der Wirtschaftswissenschaft entsprechenden Normierung durch die Verfassung sollte daraus der Schluss gezogen werden, dass sich Perfektionismus nicht nur als solcher bald widerlegt, sondern dass er fallweise gesamtwirtschaftlich schädliche Auswirkungen haben kann.

Wie verhält sich diese Erkenntnis zu dem Plädoyer für mehr ordnungspolitische Grundsatzbekenntnisse in Österreich?

Einmal wäre sie dann kein Widerspruch, wenn die Hauptziele der Wirtschaftspolitik ausdrücklich genannt würden, wenn die unabänderliche Tatsache, dass sie regelmäßig zueinander in einem variablen Konkurrenzverhältnis stehen, anerkannt würde und wenn die Verantwortung für die notwendige Koordination wirtschaftspolitischer Instrumente geregelt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Verantwortung für die Geldpolitik auf das gemeinsame und von den Regierungen unabhängige Europäische System der Zentralbanken (ESZB) übertragen wurde.

Der innerösterreichische Stabilitätspakt zwischen Bund, Ländern und Gemeinden auf Basis einer Art.15 a – Vereinbarung zur Einhaltung der stabilitätspolitischen Vorgaben der europäischen Pakte ist zweifellos ein Kern einer entsprechenden Verfassungsbestimmung in einer reformierten Bundesverfassung. Die Bundesländer bekundeten durch den Abschluss dieses Pakts, dass sie sich der höheren Effizienz einer gesamtwirtschaftlich orientierten Koordinierung aller Ebenen verplichtet fühlen, wobei die Kompetenz für die Initiative dazu und die Verantwortung nur beim Bund liegen können. In Österreich fehlt zur Bestätigung dieser auch hier anerkannten Situation im Großen und Ganzen eine Norm, die dem Art. 109 des deutschen GG sinngemäß entspräche. Das deutsche Grundgesetz sieht vor (109/3), dass durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Finanzwirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung aufgestellt werden können.

Wie weit die Aufnahme wirtschaftspolitischer und wirtschaftlicher Gesichtspunkte in einer Verfassung derzeit auseinanderklaffen können, macht ein Vergleich der französischen Verfassungsurkunde der De-Gaulle-Verfassung 1958 mit dem vorliegenden Verfassungsentwurf für die Europäische Union deutlich. Die französische Verfassung ist eine eigentliche Minimalverfassung mit nahezu ausschließlich institutionellen Kompetenzen und Verhaltensregeln für die Organe des Staates.

Der europäische Verfassungsentwurf – immerhin unter dem Vorsitz eines früheren französischen Staatspräsidenten erarbeitet – enthält hingegen, vor dem Hintergrund der Geschichte der Union seit der Montanbehörde und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der fünfziger Jahre, nach wie vor sehr viel mehr und präzisere Festlegungen zu den Prinzipien, Institutionen und Zielen der Wirtschaftspolitik – obwohl deren Platz im Verfassungsrahmen gegenüber ihrem absoluten Vorherrschen im bisherigen EG-Vertrag reduziert und besser proportioniert erscheint.

Ihr Schlüssel- und Programmbegriff ist die Sicherung und Entwicklung des "Europäischen Gesellschaftsmodells" (Art.9), das auf gemeinsam getragenen Wertvorstellungen der Mitglieder der Union und ihrer Prioritätsskalen beruht. Die Programmvorstellung eines "Raums der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit" hat durch Positionierung im Art.11 des Dokuments eine Art protokollarischen Vorrang vor den wirtschaftspolitischen Grundsätzen und Zielvorstellungen erhalten, die in den Artikeln 12 bis 24 auf den Fuß folgen und weit konkreter dargelegt werden.

Der gegenwärtige Stillstand der Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten der Union über die neue Europäische Verfassung wurde bemerkenswerter Weise nicht durch Divergenzen über die wirtschaftspolitischen Inhalte verursacht, sondern vor allem durch solche über die Stimmgewichtung im Rat. Man hätte erwarten können, dass auch die schwerwiegenden Differenzen, die über die Pflichten zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik zwischen den Mitgliedern aufgebrochen sind, das Projekt hätten verzögern müssen. Der im wesentlichen einzige Diskussionspunkt war jedoch die von der Europäischen Zentralbank (EZB) und nationalen Notenbanken, voran der Deutschen Bundesbank, vertretene Auffassung, das Ziel der Preisstabilität ausdrücklich in den Katalog der Ziele der Union aufzunehmen und die EZB nicht uniform wie andere Institutionen in den Unionsrahmen einzugliedern (Entwurf Art. 34/2), weil aus ihrer Sicht dadurch die Unabhängigkeit de facto beeinträchtigt werden könnte.

Das Ziel der Union sei gemäß Art.9(1) des Entwurfs das "Europäische Gesellschaftsmodell" durch "nachhaltige Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten, durch das Erblühen der Kulturen der Mitgliedsstaaten, durch einen hohen Grad an Umweltschutz und Solidarität zwischen den Regionen, gleich ob zentral, peripher oder insular gelegen." (Übers.d.Verf).

Dies weist auf zwei fundamentale Grundsätze von besonderer wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischer Bedeutung hin:

Der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung und des schonenden oder pflegenden Umgangs mit den natürlichen Lebensgrundlagen ist für eine moderne Verfassung nicht mehr entbehrlich. Er entspricht nicht nur ökologischen Zielvorstellungen, sondern verbunden damit auch dem Gesichtspunkt der Solidarität mit und der Rücksichtnahme auf künftige Generationen. Er hat nicht nur einen ökologischen Gehalt, sondern auch einen des sozialen Ausgleichs innerhalb und zwischen den Generationen, mit unmittelbaren Konsequenzen für die Wirtschafts- und Sozialpolitik, insbesondere als Rahmenbedingungen für die Staatsschuldenpolitik.

Die Solidarität und der Ausgleich der Finanzkraft zwischen den Regionen, die sich die europäische Politik schon bisher unter anderem in den Programmen der Strukturfonds und der Kohäsion zur Aufgabe gemacht hatte, ist tatsächlich eine prinzipielle Weichenstellung einer Verfassung. Sie ist Ausfluss einer Vorstellung von Gleichheit, die weit über die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz hinausreicht.

Die schweizerische Verfassung betont mehrere Aspekte dieser Solidarität: in Art.2/3, noch vor der Rechtsgleichheit (Art.8) die Chancengleichheit, die Verpflichtung des Staates zur sozialen Sicherheit aller Personen (!, nicht: Staatsbürger. Art. 41/1a), die Solidarität des Bundes mit der besonderen Situation der Städte und Agglomerationen sowie der Berggebiete (Art.50/3). die Rücksicht auf die kulturelle und sprachliche Vielfalt des Landes (Art.69) und, ganz zentral, den Finanzausgleich (Art.135), dessen zweiter Absatz den Bund bei der Gewährung von Bundesbeiträgen verpflichtet, die Finanzkraft der Kantone und der Berggebiete zu berücksichtigen.

Das Ausgleichen von wirtschaftlichen Ressourcen zwischen den Regionen eines Staates kann verschiedene Formen annehmen. Materiell handelt es sich jedoch regelmäßig um Formen eines Finanzausgleichs im weiteren Sinn, ob dieser nun durch die Bemessung von Ertragsanteilen, durch Finanz- und Bedarfszuschüsse, durch die Finanzierung von Infrastruktur oder durch fiskalische Begünstigungen zustande kommt.

Hier wird eine Thematik betreten, die in der Folge bei der Diskussion der Formen des Staatsaufbaus eine entscheidende Rolle spielen wird. Es sei hier nur angemerkt, dass die allgemeine Zielsetzung der Solidarität noch sehr wenig determiniert. Das deutsche Grundgesetz – "Herstellung gleicher Lebensgrundlagen" -geht hier wesentlich weiter als die prinzipiellen, aber quantitativ-finanziell unverbindlichen Zielvorgaben für den Bund und die Kantone in der Schweiz.

Ein Verfassungspostulat der Herstellung gleicher Lebensgrundlagen im Grundgesetz schränkt im Prinzip die Möglichkeiten und Potentiale des Wettbewerbs zwischen autonomen Regionen ein, wenn es einen solchen nicht überhaupt unmöglich macht. Die Diskussion des "Konkurrenzföderalismus" (fiscal federalism) wird versuchen, sinnvolle Grenzen für die Verpflichtung zur interregionalen Solidarität zu ziehen. Nicht zuletzt hängt die Beantwortung dieser schwierigen Frage davon ab, welche Indikatoren für die Angleichung der Lebensgrundlagen herangezogen werden sollen: die Strukturpolitik der EU beschränkt sich dabei im wesentlichen, auch um unvermeidlichen Diskussionen zwischen den Mitgliedern nicht allzu viel Nahrung zu geben, auf den Indikator des Brutto-Regionalprodukts je Einwohner im Vergleich zum Durchschnitt der EU und einen Indikator der Arbeitsmarktlage. Im Rahmen der Agrar- und spezieller regionaler Förderungsprogramme wird jedoch darüber hinaus eine Vielzahl an Indikatoren als Kriterien für die Gewährung von Förderungen herangezogen.


II. Moderne Wirtschaft und Verfassungsreform

Dass seit 1920 tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaft, der internationalen Politik und der Weltwirtschaft , die eine Revision der Verfassung früher oder später unumgehbar gemacht haben, wird von niemandem ernsthaft bestritten. Die Stellung Österreichs als Mitglied der Europäischen Union in der Bundesverfassung zu berücksichtigen, ist ein besonders augenfälliger Anlass dazu. Aber nicht nur das Verhältnis Österreichs zur EU hat eine gänzlich veränderte Grundlage, auch die Souveränität des Nationalstaats schlechthin als Grundannahme der Verfassung hat sich gewandelt, reduziert, wurde aufgeweicht. Das betrifft das Völkerrecht, die Neutralität, die äußere Sicherheit, aber auch nahezu alle anderen öffentlich- und privatrechtlichen Aspekte und Zielsetzungen eines modernen Staatswesens. 

 

1.      Effekte der Internationalisierung

Die wirtschaftliche und kulturelle (Informationsnetze, Wissenschaft) Verflechtung einer hochentwickelten Nation macht die uneingeschränkte Souveränität des Nationalstaates jedenfalls de facto zur Illusion. Die Effektivität einzelstaatlicher Instrumente hat stark eingebüßt und kann nur durch internationale Zusammenarbeit auf internationaler und auch schon globaler Ebene zu ersetzen versucht werden. De iure wird staatliche Souveränität durch internationale Vertragswerke, die innerstaatliches Recht schaffen oder die andernfalls "autonom" nachzuvollziehen sind, immer mehr an internationale und globale Rahmenvorgaben gebunden.

Die moderne Welt erlebt spätestens seit den historischen Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 einen raschen und tiefgreifenden Wandel. Nicht nur die politische Landschaft Europas wurde umgestaltet, sondern das Kräftesystem der Welt durch den Zusammenbruch einer der Supermächte. Wohin das globale System steuert, ist bestenfalls schemenhaft zu ahnen: der Aufstieg Chinas, die globale Klimaproblematik, die Entwicklung im islamischen und afrikanischen Raum und die Alterung der Bevölkerung – zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlicher Tragweite - sind absehbare und mit herkömmlichen Gewohnheiten und Institutionen kaum zu lösende Probleme. All dies wird von technologischen Entwicklungen angetrieben, die ihrerseits zwar zufriedenstellende Lösungen erleichtern mögen, aber diese nicht automatisch, ohne einen gelenkten politischen und sozialen Prozess garantieren.

Gesellschaftliche Innovationen hinken deutlich hinter den technologischen Möglichkeiten her. Die politischen Systeme scheinen von Technologien und von unternehmerischen Strategien überrollt zu werden. (Man kann Sorge darüber empfinden, dass der naturwissenschaftliche Forschung, die die Basis für die materielle Entwicklung sichern soll, angesichts des globalen Wettbewerbs konsequenter Weise hohe Priorität vor der politik-, wirtschafts- und sozialwissenschaflichen Forschung bekommt und sie augenfällig leistungsfähiger macht).

Verstärkte, vertiefte und erweiterte Integration Europas ist eine Antwort auf die Herausforderungen.

Die Teilnahme an der Europäischen Union hat für einen Staat und seine Volkswirtschaft zwei Effekte:

Erstens: sie öffnet sein Wirtschaftsgebiet und damit das Instrumentarium der Wirtschaftspolitik gegenüber seinen europäischen Partnern. Dort, wo noch wirtschaftlich relevante Unterschiede in der Rechtsordnung und insbesondere in der Regelung des wirtschaftlichen Wettbewerbs bestanden haben, werden diese beseitigt oder abgebaut. Die Wirtschaft erhält die Chance, uneingeschränkt am europäischen Wettbewerb teilzunehmen, muss sich diesem aber auch uneingeschränkt aussetzen. Die europäische Integration vertieft die Arbeitsteilung innerhalb Europas und verschärft den Wettbewerb auf den Güter-, Dienstleistungs-, Arbeits- und Kapitalmärkten.

Zweitens: die gemeinsamen europäischen Institutionen und die Koordinierung der nationalstaatlichen Politik stellen den Versuch dar, die sonst in der Globalisierung verloren gehenden Effektivität nationalstaatlicher Politik durch europäische Politik und europäischen Schutz zu ersetzen. Besonders deutlich wird dies auf den Agrarmärkten und auf den Arbeitsmärkten, die gegen den Weltmarkt an landwirtschaftlichen Erzeugnissen und gegen die Einwanderung aus bevölkerungsreichen, jungen, armen Ländern geschützt werden ("Festung Europa"). Auch der europäische Schutz ist nicht lückenlos effektiv, wie die off-shore-Veranlagung von Kapitalien auf Steuerinseln und die (gleichfalls "off-shore-") Katastrophen verzweifelter Kurden und Afrikaner im Mittelmeer täglich beweisen.

Auch die EU hat ein Interesse an der Teilnahme an den wirtschaftlichen Potentialen der Globalisierung und dies macht sie verhandlungs- und kompromißbereit, etwa im Rahmen der World Trade Organization (WTO). Auch die europäische Ebene ist allein nicht in der Lage, die potenziell öffentliche Interessen aushölenden Effekte der Globalisierung zu dämpfen oder zu stoppen. Kurzfristig verfügbares Kapital ist weltweit mobil. Es entzieht sich der nationalen und der europäischen gesellschaftlichen Solidarität und vermag nationale Besteuerung der Substanz und der Erträge zu vermeiden. Ähnliches gilt für mobile Unternehmenssitze und für hochqualifiziertes Personal. Die Folge ist, dass die wachsenden Sozialaufwendungen – insbesondere für eine künftig rasch alternde Bevölkerung – von der weniger mobilen Steuergrundlage der Arbeitseinkommen von Unselbständigen und Selbständigen getragen werden müssen und rasch ansteigen. Das kann zu einem Teufelskreis führen: wachsende Lasten auf den Einkommen der noch Seßhaften vertreiben weitere Menschen, die zur Mobilität fähig sind. Dies kann auch die Form einer inneren Emigration annehmen, indem Leistungsanreize durch immer höhere Steuer- und Soziallasten unterdrückt werden und die Freizeitpräferenz weiter zunimmt. Beides engt die Möglichkeiten, fundamentale wirtschaftliche und soziale Staatsziele zu erreichen, immer mehr ein und könnte – ohne internationale oder zumindest europäische Zusammenarbeit – fatale Folgen für die politische Stabilität und die materielle Wohlfahrt haben.

Die Probleme des herkömmlichen nationalen Verfassungsstaates in seiner internationalen Umgebung haben zwei wesentliche Ursachen:

Erstens die prinzipiell nahezu unbeschränkte Mobilität von Wirtschaftsgütern über die nationalen Grenzen, also über die Grenzen der nationalen Jurisdiktion hinweg.

Zweitens: die Situation und die Perspektiven wirtschaftlich hoch entwickelter Volkswirtschaften verlangen gebieterisch wirtschaftliche Entwicklung und generieren dabei immer differenziertere Ansprüche. Die gelegentlich vorgebrachte Option, mit dem erreichten Wohlstandsniveau zufrieden zu sein und weiteres Wachstum zu vermeiden, würde den Staat politisch destabilisieren und damit die ökologischen, sozialen und kulturellen Probleme nur verschärfen. Dies gilt umso mehr angesichts der wirtschaftlichen Ressourcen, die die bevorstehende demographische Alterung dieser Gesellschaften erforderlich machen wird, soll sie sozialverträglich und politisch einigermaßen reibungsfrei bewältigt werden. Es geht nicht um Wachstumsverzicht, sondern darum, das Wachstum in eine Richtung zu lenken, die eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft gewährleistet.

Das Einkommenswachstum wird den Bedarf an differenzierteren öffentlichen Leistungen verstärken und bewirken, dass "the 'one-size-fits-all' approach may increasingly fail to deliver a basket of public goods that is optimal for all citizens." (Joumard, Kongsrud, OECD, 2003, p.171).

Dieses Problem wird durch Grundsatzerklärungen der Verfassung zur internationalen Zusammenarbeit, zur Erhaltung der Lebensgrundlagen und zur Solidarität mit kommenden Generationen natürlich noch nicht ausreichend beantwortet. Es sind aber die Aspekte, die der Geist einer modernen zukunftstauglichen Verfassung jedenfalls atmen muss.

Die Situation und die Perspektiven haben aus verfassungspolitischer Sicht drei Konsequenzen:

Erstens: die Inhalte und die Bedingungen des europäischen Gesellschaftsmodells –  Bekenntnis zur Eigenverantwortlichkeit und Initiative, aber auch zur gesellschaftlichen Verpflichtung und Solidarität der Bürger und der Wirtschaft auch mit kommenden Generationen, sowie zum schonenden Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen und dem kulturellen Erbe und der kulturellen Vielfalt.

Zweitens: der Regierung diese Grundsätze als Staatsziele aufzuerlegen und sie zur aktiven internationalen (insbesondere europäischen) Zusammenarbeit zu verpflichten, wobei vor den schädlichen Konsequenzen einer egoistischen (populistischen) Interessenvertretung zu warnen ist. Unter anderem wird dieser Grundsatz eine Neuorientierung der österreichischen Sicherheitspolitik, des Auftrags des Österrreichischen Bundesheeres und jedenfalls eine akkordierte Eigenleistung Österreichs in der Sicherheitspolitik zu Folge haben. 

Drittens: die Differenziertheit und Innovationskapazität eines dezentralen, auf regionale Autonomie gestützten staatlichen Systems auszubauen. Länder und Gemeinden sind durch die Öffnung der Grenzen zur regionalen Zusammenarbeit über diese hinweg befähigt, selbstverständlich der Bundesverfassung verpflichtet, jedoch nicht mehr nur im Verhältnis zum Bund und zueinander zu definieren. Auf die Begründung dieser Schlußfolgerung wird in der folgenden Diskussion eines zeitgemäßen Föderalismus näher eingegangen.

 

2.  Mitgliedschaft in der Europäischen Union

Mit dem Beitritt zur Europäischen Union übernahm Österreich, gleich ob dies explizit in seiner Verfassung verankert ist, die Mitwirkung an den Aufgaben der Gemeinschaft, welche der Art. 2 EGV definiert. Die Aufgaben der Gemeinschaft sind im EGV weitestgehend wirtschaftspolitisch definiert. Sie strebt unter anderem eine "harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Niveau an sozialem Schutz ..." an.

Die Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union setzt die Übertragung von primär Bundes-, fallweise auch Landeskompetenzen (lawmaking power) an die übergeordnete Union voraus. So hat sie etwa das Gebot des einheitlichen Wirtschaftsraums von der nationalen auf die europäische Ebene angehoben, freilich noch nicht in jeder Hinsicht mit der letzten Konsequenz. Der Union steht etwa bisher keinerlei Kompetenz zur Einhebung von eigenen Steuern zu. Der Beitritt zur EU bewirkte in Österreich auch Verschiebungen der verbliebenen Kompetenzen zwischen der Länder- und der Bundesebene, Vereinbarungen zwischen ihnen über die innerstaatliche Umsetzung des europäischen Rechts durch Art. 15 a-Verträge und über die Vertretung und Ausübung der österreichischen Position (treaty making power) in "Brüssel".

Diese Arbeit befasst sich nicht mit den verfassungsrechtlichen Aspekten der Übertragung von Kompetenzen der Legislative, Exekutive und Gerichtsbarkeit auf die EU. Europäisches Recht hat, im Rahmen dieser Kompetenzen, unmittelbare Gültigkeit in den Mitgliedsstaaten (Art. 249 EGV, ex Art.189). Wie immer die Stellung europäischen Rechts an der Spitze der Rechtspyramide innerstaatlich fundiert oder erklärt wird, muss ein Mitgliedstaat diese Ordnung akzeptieren muss, um nicht vertragsbrüchig zu werden. "Meanwhile the doctrine of supremacy of community law has become one of the corner stones of community law, and the constitutional courts of the member-states have accepted that doctrine to a high degree, although they have not totally given up the doctrine of parallel jurisdictions according to which certain fields of national jurisdiction connot be invaded by community law." (Kirchner 1997, p. 73/74 gestützt auf Beutler et.al. 1994, p. 98-109).

Aus wirtschaftspolitischer Sicht wurden europäischen Institutionen wichtige Teile der makroökonomischen Politik übertragen oder zur Koordination anvertraut. Die weiteren Hauptelemente europäischer Kompetenz im Bereich der Wirtschaftspolitik bilden die Binnenmarkt- und Wettbewerbspolitik, die Außenwirtschafts-, die Agrar- und die europäische Strukturpolitik zur Förderung wirtschaftlich zurückgebliebener Regionen und der transeuropäischen Infrastruktur. Auf anderen wirtschaftspolitischen Gebieten liegen die Initiative für abgestimmtes, gemeinsames Vorgehen und die Formulierung von Richtlinien bei EU-Behörden, nicht aber deren innerstaatliche Ausformung auf der nationalen Ebene. Deren gesetzliche Regelungen werden, wenn richtlinienkonform, wechselseitig anerkannt.

Weitgehend in nationaler Kompetenz verblieben die konkreten Entscheidungen über die Struktur der staatlichen Budgets, die Steuern und die Sozial- und Arbeitsmarktsysteme. Allerdings sind bereits im Vertrag Elemente der Koordination auch für diese Bereiche vorgesehen, so etwa die Harmonisierung der Verbrauchssteuern.

In der Wirtschaftspolitik ist freilich auch in weiten Bereichen der eigentlich nationalen Kompetenz Abstimmung mit den europäischen Entscheidungen notwendig, weil die beiden Ebenen sachlich schwer zu trennen sind und die Koordination die Effizienz der europäischen Wirtschaftspolitik stärkt. "Die Mitgliedstaaten richten ihre Wirtschaftspolitik so aus, dass sie im Rahmen der in Art.99 Abs.2 genannten Grundzüge zur Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft im Sinne des Art.2 beitragen" (Art. 98 EGV). Art. 99 Abs.2 EGV beauftragt den Rat zu Empfehlungen über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik an die Mitgliedstaaten. Deren Nichtbefolgung hat politische und unter Umständen rechtliche Konsequenzen.

Wirtschaftspolitische Leitlinien (main economic policy guidelines) der EU für die Gestaltung der nationalen Wirtschaftspolitik, insbesondere der Budget- und zunehmend der Sozialpolitik, und für deren Überwachung und Beurteilung auf europäischer Ebene (Art. 99 Abs.3) schränken die nationale Souveränität auch auf Gebieten ein, die formell in nationaler Kompetenz verblieben sind. Sie waren aber eine Voraussetzung für die Errichtung der Währungsunion. In erster Linie betreffen sie die staatliche Finanzpolitik und jene wirtschafts- und sozialpolitischen Aufgaben, die starke Rückwirkungen auf diese haben.

Die europäische Budgetpolitik ist föderalistisch, ihre Geldpolitik hingegen zentralistisch. (Majocchi, 1999). Der Konflikt zwischen nationalen wirtschaftspolitischen Interessen mit den Verpflichtungen aus der Teilnahme an der Währungsunion ist jüngst akut geworden. Er entstand fast zwangsläufig aus der wirtschaftlichen und politischen Problematik des Stabilitäts- und Wachstumspakts aus 1997, einer Entschließung des Europäischen Rates gestützt auf die Vertragsänderung von Amsterdam aus dem gleichen Jahr. Die notwendige Sanierung dieses Pakts ist nicht anders vorstellbar, als dass Einschränkungen der nationalen budgetpolitischen Souveränität über die beiden Makrokriterien der Budgetpolitik (Neuverschuldung, Staatsschuldenquote) hinausgehen und andere sachgerechtere Indikatoren und Leitlinien einbeziehen. Dies könnte zwar eine Lockerung der Paktvorgaben für die nationale Budgetpolitik unter konjunkturpolitischen Gesichtspunkten bringen, würde aber auch präzisere Vorgaben für die Strukturierung der Staatsausgaben – etwa die Limitierung der Neuverschuldung an das Ausmaß der staatlichen Investitionen nach deutschem Vorbild –, für das Vermeiden von Defiziten infolge von Steuersenkungen, die Berücksichtigung langfristiger finanzieller Obligos des Staates aber auch strukturpoltische Fragen (Lissabon-Ziele!) bedeuten. Wahrscheinlich ist auch die Errichtujng einer unabhängigen Kontrollinstanz für die Beurteilung der nationalen Budgetpolitiken anzudenken.

Die europäischen Vorgaben können sinnvoll nur erfüllt werden, wenn alle Gebietskörperschaften zusammenwirken. Daher scheint eine Aufnahme dieses Prinzips, das auch dem innerösterreichischen Stabilitätspakts zugrunde liegt, ins Verfassungsrecht geboten.

Die verfassungsgemäß dem Bund allein zustehende Regelung des Geldwesens (Art.10, Abs. 1/5 BVG) wurde in Bezug auf Geld- und Währungspolitik an das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) übertragen. Die Oesterreichische Nationalbank nimmt an diesem System nach den Regeln der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion teil.

Gemäß Art.2 des Statuts "ist es das vorrangige Ziel des ESZB, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der in Artikel 2 dieses Vertrages (s.o. S. ....) festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen. Das ESZB handelt im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, und hält sich dabei an die in Artikel 3a (4) dieses Vertrags genannten Grundsätze."

Über die Unabhängigkeit des ESZB bzw. der Organe der EZB von den Regierungen der Mitgliedstaaten besteht zwar Einigkeit. Sie ist Voraussetzung für eine leistungsfähige und glaubhafte Politik zur Gewährleistung der Preisstabilität. Über die Publizität und Transparenz der Entscheidungen des Rates der EZB sowie über das Verhältnis der Geldpolitik zu den sonstigen Zielen der Wirtschaftspolitik sind jedoch nach wie vor erhebliche Auffassungsunterschiede zwischen einzelnen Regierungen und auch in der ökonomischen Wissenschaft erkennbar. Der Verfassungsentwurf für die Europäische Union könnte die Berücksichtigung der sonstigen Ziele der Wirtschaftspolitik durch die Geldbehörde und ihre Verantwortlichkeit gegenüber dem Rat etwas verstärken.

Es ist immerhin erstaunlich, dass die Unabhängigkeit der Zentralbank, die von enormer Tragweite für die wirtschaftliche Entwicklung ist, bisher in den Staatsverfassungen höchst unterschiedlich geregelt ist. Eine ausschließliche oder vorrangige Verankerung des Ziels der Preisstabilität, wie sie im Vorjahr in Vorstößen der EZB und der Deutschen Bundesbank gefordert wurde, wurde bisher im Europäischen Verfassungsentwurf unberücksichtigt gelassen.

Die Unabhängigkeit der Währungsbehörde ist eine Sache, ihre vorrangige Verpflichtung auf Preisstabilität eine andere. Weder die amerikanische noch die neue schweizerische Verfassung und auch nicht die Aufgabenstellung im früheren österreichischen Nationalbankgesetz enthalten eine solch strikte Orientierung. Eine Rangordnung der wirtschaftspolitischen Ziele, die diesem Ziel unbedingten Vorrang vor den anderen wirtschaftspolitischen Zielen des Art.2 EGV gäbe, wäre auch aus ökonomischer Sicht schwer zu vertreten.

Abschließend sei die Frage angeschnitten, weshalb sich im Prozess der europäischen Integration die nationale Wirtschaftspolitik gerade in makroökonomischen Fragen freiwillig die Hände binden lässt. Die Antworten der Constitutional Political Economy lauten, gestützt auf eine Studie von L. Quaglia (2003):

Erstens, weil dadurch auch die Hände der Politik der Partner gebunden werden, was Trittbrettfahrerverhalten und Gefangenendilemma vermeidet.

Zweitens, es ist für die Glaubwürdigkeit der Politik besser, sichtbar gebundene Hände zu haben, als scheinbar freie Hände, die de facto gebunden sind.

Drittens, um die selbst auferlegte externe Beschränkung im internen nationalen Bereich als Argument der Durchsetzung unangenehmer Politik nutzen zu können.

"Europeanisation has been a way to avoid checks and balances working in the domestic context. One reading of this is that the costs involved for governments in striking a constitutional bargain look as though they may still outweigh the perceived benefits of the bargains and compromises to be struck." (Vibert, 1999, p. 163).

 


III. Theorie von Föderalismus und Subsidiarität aus ökonomischer Sicht

Staatsverfassungen unterscheiden sich unter anderem darin, ob zur Ausübung öffentlicher Aufgaben eine einzige oder mehrere staatliche, territorial abgegrenzte Ebenen mit eigenen Zuständigkeiten eingerichtet werden. Zwischen rein unitarisch regierten Staaten und solchen mit starker Regionalautonomie gibt es ein Spektrum von Übergangsstufen. Föderalistisch ist ein Staatsmodell jedoch nicht schon dann, wenn die Verwaltung dezentral eingerichtet wird. Dies ist eine reine Frage der Zweckmäßigkeit und auch kleine Staaten kommen ohne dezentrale Einrichtungen der öffentlichen Dienste nicht aus.

Föderalismus setzt mehr voraus:

·         eine Hierarchie von Rechtssetzungsebenen und zwar im innerstaatlichen Bereich in der Regel eine zentrale, eine regionale und eine lokale Ebene,

·         Autonomie dieser Ebenen für definierte Bereiche innerhalb der gesamten Staatsaufgaben,

·         und eine verfassungsmäßige Garantie ihres Bestandes.

Das right to act genügt also nicht, Föderalismus setzt das right to decide voraus. (H. Keman, 2002, p. 197f)). Allerdings kommt die ökonomische Theorie des Fiskalföderalismus gewöhnlich ohne das Kriterium der formalen, konstitutionellen regionalen Autonomie der Gesetzgebung aus, sondern bezieht sich auf die wirtschaftlichen Effekte aller Formen der vertikalen Dezentralisierung staatlicher Aufgabenerfüllung. Wenn wir den auf Oates (1972) zurückgehenden Begriff Fiskalföderalismus (gleichbedeutend mit Wettbewerbs- oder Konkurrenzföderalismus) verwenden, sollte uns bewußt sein, wie es Oates, der den Begriff prägte, später (1999) bewußt wurde, dass diese Wortwahl etwas irreführend war: die Theorie handelt keineswegs nur von den budgetären Effekten des Föderalismus, wie der Name suggeriert. "The subject of fiscal federalism encompasses much more, namely the whole range of issues relating to the vertical structure of the public sector." (Oates, 1999, p.1121).

Damit Föderalismus die ihm von der Theorie des Fiskalföderalismus zugeschriebenen Vorzüge entfalten kann, müssen jedoch zusätzliche wirtschaftspolitische Bedingungen gegeben sein: unter anderem ein innerstaatlicher Binnenmarkt ohne Wirtschaftsschranken, Kompetenz der (regionalen) Gliedstaaten auch für Bereiche der Wirtschaftspolitik und "harte" Budgetgrenzen, d.h. den Ausschluss von Finanzhilfe durch den Zentralstaat oder durch die anderen Gliedstaaten im Fall von Budgetproblemen eines derselben( hard budget constraint, exclusion of bail out). (Weingast, 1995, p.4).

Das Interesse an dem zweckmäßigsten Stufenbau staatlicher Einrichtungen hat in jüngerer Zeit starken Auftrieb erfahren. Dies hat einmal damit zu tun, dass die früher zum kommunistischen Machtbereich zählenden Staaten, die dort auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht einem strikten Zentralismus unterworfen waren, sich neue freiheitlichere Staatsmodelle suchten.

Zum anderen – und für Österreich direkt von Bedeutung – wurde das Interesse stark angeregt, weil sich gerade in der EU die Fragen nach der Rolle des Föderalismus – also dem Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten und nach der Rolle des Subsidiaritätsprinzips in öffentlichen Angelegenheiten immer dringlicher stellte. Die Übertragung von wesentlichen Kompetenzen nicht zuletzt der Wirtschaftspolitik von der nationalen auf die Unionsebene machte die Frage nach der wirtschaftlich und politisch zweckmäßigsten, den Bedürfnissen der Unionsbürger am besten entsprechenden Verfassungsarchitektur Europas hoch aktuell.

Das Subsidiaritätsprinzip wurde im Unionsvertrag von Maastricht 1992 ausdrücklich festgeschrieben und ist nun im Art.5 des EGV verankert. In der Fassung dieses Artikels bedeutet es (Abs.2), dass "die Gemeinschaft ... nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können." Dabei ist klar, dass Föderalismus auf europäischer Ebene nicht Föderalismus im innerstaatlichen Bereich voraussetzt. Subsidiarität ist ein Prinzip, das auch in zentralistisch strukturierten Staaten beachtet werden kann. In der Fassung des EGV wird ja nicht entschieden, ob für das "Erreichen der Ziele" nicht auch eine zweckmäßig organisierte dezentrale Administration genügen würde.

Die Kunst des Föderalismus sei es, schrieb Alexis de Tocqueville (De la Démocratie en Amérique, 1838), die Vorzüge der Größe und der Kleinheit miteinander zu verbinden. Die Frage stellte sich historisch erst, als sich die neuzeitlichen Kleinstaaten Ende des 18. (USA!) und vor allem im 19. Jahrhundert zu größeren Nationalstaaten integrierten. Dieser Prozess verlief damals bei weitem nicht in allen Fällen zugunsten des Föderalismus. Zentralstaatliche Strukturen entstanden unter anderem in Großbritannien, Italien und den Niederlanden. Deutschland und die Schweiz führten ihre historischen föderalistischen Traditionen fort, wohl weniger aus Gründen der ökonomischen Effizienz als vielmehr aus Staatsraison. Das österreichische Kaisertum war zentralistisch, die Doppelmonarchie nach dem Ausgleich 1867 war der Typus eines föderalen Systems zweier Gliedstaaten, aus dem sich in mancher Hinsicht durchaus für die heutigen Verfassungsprobleme Europas Schlüsse ziehen lassen.

Man kann sich fragen, ob die Debatte über dezentrale und insbesondere föderale Staatsstrukturen heute, in einer Epoche globaler Wirtschaftsbeziehungen, weltweiter Mobilität und Netzwerke überhaupt relevante Antworten erwarten lässt. Ob der Grad der wirtschaftlichen Entwicklung nicht weltweite Koordination und Standards erforderlich macht und daher regionale Autonomie der Jurisdiktion einfach gegenstandslos und weggewischt wird.

Tatsächlich haben die Internationalisierung der Wirtschaft, des Informations- und Kulturaustauschs sowie der Umweltproblematik manche föderalen Sonderregelungen obsolet gemacht. Zunächst hat der Nationalstaat im europäischen Verbund und im globalen Konzert der Mächte viel von seinem Handlungsspielraum an die höheren Ebenen abtreten müssen. Seine uneingeschränkte Souveränität ist de facto ausgehölt.

Umso mehr, könnte man schließen, gilt das für die Leistungsfähigkeit der innerstaatlichen föderalen Strukturen. Tatsächlich haben auch die Gliedstaaten föderalistischer Republiken unmittelbar Kompetenzen an die internationale (sowohl die globale als noch mehr an die europäische) Ebene abgetreten und oft eifersüchtig gewahrte regionale Sonderrechte aufgeben müssen.

Umgekehrt hat aber die Globalisierung zwei Grundgedanken des Föderalismus nur noch aktualisiert: nämlich den der Identifikation mit und den der Beteiligung der Bürger an öffentlichen Angelegenheiten (siehe unten S. 97). Einerseits hat die Anonymität ferner Bürokratien in vielen Ländern zu eigentlichen Entwicklungs- und Staatskrisen geführt. Nicht zuletzt zeigen sich gerade die Unionsbürger der EU unzufrieden mit den Vorgängen und Erklärungen der europäischen Politik. Andererseits hat die Auflösung traditioneller kultureller und sozialer Bindungen, die durch den Wegfall nationaler Grenzbarrieren sowie stark verbesserte technologische und Reisemöglichkeiten bewirkt wurde, gleichzeitig den Wunsch nach Identifikation und Verwurzelung verstärkt. Gerade die höhere Mobilität lässt einen festen persönlichen Anker offenbar eher wünschenwert erscheinen.

Die europäische Integration hat darüber hinaus die Möglichkeiten (und Wirtschaftlichkeit) grenzüberschreitender Zusammenarbeit und wirtschaftlichen Austauschs ganz entscheidend verbessert. Regionen, die von Staatsgrenzen durchschnitten waren, beginnen sich nun der geographischen, kulturellen und wirtschaftlichen Potentiale, die bisher zu wenig genutzt wurden, zu besinnen. Besonders viel nachzuholen ist in dieser Hinsicht auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs der Nachkriegsära. Das bringt natürlich auch mit sich, dass sich die Bindungen solcher Regionen an den Nationalstaat in mancher Hinsicht lockern können. Regionale staatliche Kompetenzen erleichtern einen solchen Vorgang, sind aber gleichzeitig eine verfassungsmäßige Garantie gegen die Auflösung des Staates.

Für die Aktualität föderalistischer Staatsformen wird gelegentlich auch ins Treffen geführt, dass zwar nur eine Minderheit der Staatenwelt föderale Verfassungen aufweist, aber immerhin ein ziemlich großer Teil der Weltbevölkerung in solchen Staaten lebt. Das bedeutet, dass gerade eine Reihe der volkreichsten Staaten – Indien, die USA, Kanada, Brasilien, Deutschland, dazu auch Mexiko, Australien, Südafrika und andere – Bundesstaaten sind.

Weingast (a.a.O., S. 22) zählt mit nicht sehr plausiblen Argumenten China hinzu und schreibt auch dessen wirtschaftlichen Aufstieg der Dezentralisierung von wirtschaftlichen Kompetenzen zu. Man muss da wohl unterscheiden, ob wirtschaftliche Dynamik durch Dezentralisierung von überforderten Zentralstrukturen ausgelöst wird, oder die Dynamik die Folge von eigentlichem Föderalismus ist. Jedenfalls ist zu erwarten, dass mit zunehmender Größe eines Staates die Dezentralisierung von Staatsstrukturen  zunimmt und dass dieser Umstand  föderalistische Verfassungen nahelegt.

In sehr großen Flächenstaaten macht sich die abnehmende Effizienz staatlicher Regulierung und Administration (diseconomies of scale) bemerkbar. Umgekehrt können allzu kleinräumige föderale Strukturen neben engstirnigem "Kantönligeist" auch wirtschaftliche Nachteile aufweisen, wenn die technischen oder finanziellen Mindestgrößen für die effiziente Durchführung staatlicher Aufgaben unterschritten werden. Daher ist darauf zu achten, dass Skalenerträge durch regionsübergreifende Einrichtungen genutzt werden. Als Argumente für Föderalismus auch bei kleinen Nationen und dementprechend noch kleineren regionalen Teilstaaten bleiben noch immer Homogenität der  Wert- und Zielvorstellungen ("Sozialkapital") einschließlich wahrung von Minderheitenrechten , Bürgernähe, Eigenmotivation und  Eigenverantwortung, Effizienz der Informationsflüsse und der Entscheidungsfindung aufrecht.  

 

1.  Theoretische Grundlagen

Die Eigenschaften eines föderativen zum Unterschied von einem zentralistischen Staatsaufbau wurden und werden von Juristen, Politologen und Ökonomen eingehend untersucht. Wirtschaftliche, politologische und staatspolitische Argumente ergänzen sich und decken sich teilweise, wenngleich sie aus der spezifischen Sicht, Denkweise und Sprache dieser Disziplinen oft recht unterschiedlich formuliert sind.

Dezentrale Autonomie und die Möglichkeit des Eingehens auf spezifische regionale (oder lokale) Präferenzen und Informationen stellt sowohl einen ökonomischen wie einen politischen Vorzug des föderalistischen Staatsaufbaus dar. Einige wichtige dem Föderalismus zugeschriebene Vorzüge betreffen hingegen metaökonomische Vorstellungen, die nicht Gegenstand der ökonomischen Wissenschaft sind. Aus Sicht der Ökonomie ist Föderalismus nicht ein Wert per se, sondern muss gegen allfällige ökonomische und andere Nachteile abgewogen werden. Ökonomisch optimale Modelle andererseits müssen nicht unbedingt auch staatspolitisch wünschenswert oder realisierbar erscheinen. Etwa wurde das ökonomisch konsequent zu Ende gedachte Modell der funktional überlappenden, konkurrierenden Jurisdiktionen B.Frey's und R. Eichenbergers (1999) in dieser Hinsicht skeptisch aufgenommen.

Natürlich akzeptieren alle ernstzunehmenden Stimmen zum Thema Föderalismus oder Zentralismus, dass große und kleine staatliche Einheiten je spezifische Vor- und Nachteile haben. Und das gilt sicher auch für dezentrale staatliche Autonomie. Es geht um die Beurteilung des Gewichts der Vorzüge und Nachteile unter theoretisch modellhaften Bedingungen und – noch überzeugender - unter konkreten Bedingungen der Realität.

Der Kern der Auseinandersetzungen über wirtschaftlichen Föderalismus oder Zentralismus (Unitarismus) ist in unterschiedlichen staatsphilosophischen Auffassungen zu suchen. Die jeweilige Position in der Auseinandersetzung hängt davon ab, wie die Möglichkeiten und Gefahren von Staatsversagen eingeschätzt werden; Staatsversagen als Folge der Annahme, dass die Aktivitäten von Politikern und Politik regelmäßig nicht zu einem gesamtgesellschaftlich und gesamtwirtschaftlich optimalen Ergebnis führen, weil sie ähnlich wie andere Gruppen und Individuen eigennützig handeln, weil die Organe und Institutionen des Staates nicht uneingeschränkt als benevolente Wohltäter aufgefasst werden sollten. In der Theorie kann der Staat zwar rechtlich so konstruiert werden, dass diese Gefahr gebannt wäre. Doch menschliche Erfahrung spricht dafür, dass auch die Rechtsordnung keine lückenlose Gewähr dagegen bietet.

Wer in Zweifel zieht, dass staatliche Einrichtungen uneingeschränkt dem Wohl der Gesellschaft dienen, wird dazu tendieren, diese mit so wenigen Aufgaben wie möglich auszustatten und so nahe wie möglich beim Bürger einzurichten. Vor allem soll das staatliche System möglichst einem Wettbewerb ausgesetzt werden und soll eine Monopolstellung tunlichst vermieden werden. (Das bedeutet nicht, das Machtmonopol des Staates in Frage zu stellen). Die Vorteile von Wettbewerb sollen ähnlich wie auf einem Markt auch im Systemwettbewerb nutzbar sein. Hinter diesen Thesen stehen letztlich Zweifel an der Funktionsfähigkeit von Demokratie und Recht.

Wer hingegen betont, dass erfahrungsgemäß auch umgekehrt die freie Verfolgung von Einzelinteressen nicht zu einem gesamtgesellschaftlichen Optimum führt, wird staatliche Regelungen und Eingriffe befürworten und eher zentrale Entscheidungen empfehlen.

In der Realität sind Marktversagen und Marktunvollkommenheiten ebenso zu beobachten wie Phänomene des Staatsversagens und der Staatsunvollkommenheit. Die ideologische Auseinandersetzung kann nicht darüber geführt werden, ob es beide Phänomene gibt, sondern nur darüber, in welchem Ausmaß man mit ihnen rechnen muss und wie sie reduziert werden können.

Hinter der jeweils vertretenen Staatsphilosophie stehen unterschiedliche Menschenbilder: entsteht allgemeine Wohlfahrt eher durch Kooperation oder durch Wettbewerb? Sind Egoismus oder Altruismus der stärkere Anreiz für die individuellen Entscheidungen? Soll Effizienz oder sozialer Ausgleich den Vorrang besitzen? Lassen staatliche Einrichtungen die Privatinitiative und die Eigenverantwortung verkümmern, ja korrumpieren sie diese regelrecht? Oder beugen sie nicht viel eher unerträglichen sozialen Mißständen und Ungerechtigkeiten vor?

Betont die eine philosophische Richtung eher die Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen mit Eigenverantwortung und Eigeninitiative, so die andere seine Eigenschaften und Möglichkeiten als gesellschaftliches Wesen, dessen Interessen durch staatliche Einrichtungen außerhalb des Marktes unvermeidlich und am besten gedient wird. Die eine Richtung hebt eher die Eigenschaften des Staates etwa als "Österreich AG" hervor, die andere hält am Primat politischer Ziele über wirtschaftliche Grundsätze und Sachzwänge fest.

Die Anwendung des ökonomischen Modells des Wettbewerbs auf die Frage des optimalen Staatsaufbaus bedeutet nicht, dass die Ökonomie einseitig die Vorzüge föderaler Verfassungen betone. Die Ökonomie rechnet auch mit möglichen Nachteilen des föderalistischen Modells und lässt einige seiner bedeutenden ausserökonomischen Vorzüge ausser Ansatz. Insgesamt lassen sich jedoch auch mit ökonomischen Argumenten die Vorteile eines föderalen Staatsaufbaus argumentieren, zum größeren Teil in Erweiterungen des Modells des Systemwettbewerbs, die wir im Abschnitt V erörtern werden. 

 

Vorzüge

Dem föderalen System werden in der politischen Ökonomie eine Reihe meist miteinander verbundener Vorzüge zugeschrieben. Die Modelle des ökonomischen Föderalismus inkorporierten im Laufe der Zeit so bedeutende Beiträge wie jene von F.A.Hayek (1939, 1945), C. Tiebout (1956), M. Olson (1965), W.E. Oates (1972), G. Brennan und J. Buchanan (1980) und wieder M.Olson (1982). Das in den neunziger Jahren wieder erwachte Interesse an dem Thema brachte Überarbeitungen und Zusammenfassungen des Modells durch R. P. Inman und D.L.Rubinfeld (1997) und Oates (1999). Die ökonomische Theorie des Föderalismus ist jedenfalls ein eindrucksvolles Denkgebäude, mit einigen gut ableitbaren Konsequenzen, das freilich außerökonomische Aspekte weitgehend unberücksichtigt lassen muss. Zweifel an der Realitätsbezogenheit des Modells und an seinen praktischen Folgerungen sind angebracht und werden von Ökonomen und Politologen vorgetragen. Nicht nur wird mit ökonomischen Nachteilen föderalistischer Strukturen in Form höherer direkter Kosten argumentiert, es werden ihnen auch höhere Kosten der Entscheidungsfindung und Schwierigkeiten der Konsensfindung in Kooperationsfällen unterstellt.

Die verschiedenen Argumente sollen kurz analysiert werden. Eine eindeutige Pro- oder Contra-Position der Wirtschaftswissenschaft ergibt sich dabei nicht. Dies ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil es nicht so sehr um das Ob des Föderalismus geht, sondern um das konkrete Wie. Die Vorzüge eines föderativen Staatsaufbaus können verloren gehen, wenn die Kompetenzzuordnung und die notwendige Koordination der Ebenen nicht auf die politischen, rechtlichen oder wirtschaftlichen Gegebenheiten "passen". Umgekehrt können dezentrale Verwaltungseinrichtungen auch in nicht-föderativ strukturierten Staaten durch Bürgernähe einen Teil der Vorzüge eines föderativen Staates lukrieren.

Aus diesem Grund hat auch die empirische Analyse der ökonomischen und finanzwirtschaftlichen Ergebnisse keine sehr klare Bestätigung der Vorzüge föderativer Staaten erbracht. Ihre Ergebnisse hängen stark von den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen, von politischen, rechtlichen wie wirtschaftlichen, sowie von Traditionen und Kulturen und deren konkretem Niederschlag in der Verfassungs- und Verwaltungswirklichkeit ab.

Die Verlagerung von Staatsaufgaben auf die jeweils dazu taugliche niedrigste Ebene, das Prinzip der Subsidiarität, hat politische und ökonomische Begründungen. Es hat auch (im Vertrag von Amsterdam 1997) in die Grundgesetze der Europäischen Union (Art.5 EGV) Eingang gefunden. Subsidiarität bedeutet, dass regional unterschiedliche Präferenzstrukturen der Bevölkerung für die Erfüllung von Staatsaufgaben besser berücksichtigt werden, dass ein geringerer Anteil der Bevölkerung bei demokratischen Entscheidungen überstimmt werden muss (im Extremfall einhellige Entscheidungen fallen), dass die Nähe zum Bürger und seinen Präferenzen deren Interesse stärkt, ihre Kosten der Inanspruchnahme öffentlicher Dienste senkt und zu eher zu einer Art der automatischen Aufsicht der Staatstätigkeit durch die Bürger beiträgt. Die Mitwirkung der Bürger am Staat wird erleichtert. Sie identifizieren sich eher mit dem Staat, und dies sollte auch die Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge und die Eigenverantwortung fördern und die Eigeninitiative für öffentliche Aufgabenstellungen entfalten.

"It is helpful to bear in mind that those who value a federal system typically do so for some mix of three reasons: it encourages an efficient allocation of national resources; it fosters political participation and a sense of the democratic community; and it helps to protect basic liberties and freedoms." (Inman, Rubinfeld 1997, p. 44. Hervorhebungen im Original).

Wirtschaftlich spricht dafür, dass Bürgernähe bessere Informationen für politische Entscheidungen mit sich bringt und dass die Kongruenz zwischen den lokalen Präferenzen der Bevölkerung und deren Erfüllung durch den Staat Kosten spart, weil weniger nicht gefragte öffentliche Güter bereitgestellt werden müssen. Hayek hat diese Konsequenzen und ihre Bedingungen schon sehr früh (1939) formuliert und später vor allem die Ineffizienz der Informationsgewinnung und -verarbeitung durch zentrale öffentliche Einrichtungen betont (Hayek 1945).W.E.Oates (1999, p.1123) unterstreicht diesen Gedanken. "Because local governments and consumers have better information about local conditions and preferences they will make better decisions than national governments." (Tsebelis, 2002, p. 295).

Die ökonomischen Argumente zugunsten eines föderalen Staatsaufbaus gründen sich auf mehrere Annahmen:

·         Die Gewinnung und Verarbeitung von Informationen als Grundlage von Entscheidungen über öffentliche Anliegen nimmt mit wachsender Distanz vom Gegenstand an Qualität ab und an Kosten zu.

·         Bürger engagieren sich eher für öffentliche Anliegen. Eigeninitiative kann eher erwartet werden, wenn sie den unmittelbar überschaubaren Lebensbereich betrifft und sich von relativ gleichgelagerten Interessen umgeben fühlt. Sie muss dabei nicht unbedingt uneigennützig sein, doch ist auch Altruismus eher zu erwarten. Eigeninitiative verkümmert, wenn weit entfernt "anonyme" Entscheidungen fallen.

·         Bei relativ homogenen Präferenzen fallen Mehrheitsentscheidungen leichter und schneller.

·         Diese Vorzüge kommen einem föderalen System auch zu, wenn die Möglichkeit von Mobilität der Bürger oder von Produktionsfaktoren über die Grenzen der Region nicht angenommen wird. Nimmt man aber an, und diese Annahme ist heute realistischer als zur Zeit von Tiebouts Modell (1956), dass Bevölkerung und Unternehmer mobil sind, um eine ihren wirtschaftlichen Interessen und persönlichen Präferenzen eher gemäße regionale Umgebung zu suchen, dann können sie dieser Präferenz nicht nur durch den Stimmzettel, sondern auch durch Mobilität Ausdruck geben (adding 'exit' to 'voice', Hirschman 1970). Interregionale Mobilität erhöht den Druck auf die Qualität der regionalen Politik. Diese ist nun einem Standortwettbewerb ausgesetzt, der ähnlich wie in der Wirtschaft innovativer und effizienter macht.

Die konkurrierenden regionalen staatlichen Systeme bieten unterschiedliche "Menüs" an, die Bevölkerung kann zwischen diesen wählen. Die "Speisekarte" enthält nicht nur verschiedene Leistungen, sondern auch die Preise vor allem in Form von (regional unterschiedlichen, autonom festgelegten) Steuern. "Political competition means that jurisdictions must compete for capital, labour and economic activity by offering menus of public policies (e.g. levels of taxation, security of property rights, social amenities, public goods). Only those restrictions that citizens are willing to pay for will survive." (Weingast, a.a.O. p.5f). Die Bevölkerung kann dorthin wandern, dort investieren und vor allem dort Steuern zahlen, wo sie das beste Preis-Leistungsverhältnis vorfindet, wo sie das ihr am gemäßesten Menü vorfindet. Dieser Systemwettbewerb unterliegt ähnlichen Bedingungen wie der wirtschaftliche Wettbewerb auf den Märkten.

Seit Tiebouts Bahn brechenden Artikel wurden diese Hypothesen zur eigentlichen Theorie des Fiskalföderalismus ausgebaut.

 

Einwände

Die wichtigsten Einwände gegen diese Grundannahmen sind rasch bei der Hand.

·         Die Einrichtung einer zusätzlichen Ebene der Gesetzgebung und Verwaltung bringt in der Regel insgesamt höhere direkte Kosten der öffentlichen Einrichtungen, speziell für legislative und die obersten exekutiven Funktionen. ("political wastage of multiplying parlaments and politicians", Wachendorfer-Schmidt, 2000, p.3). In Anbetracht der Größenordnungen, um die es sich dabei in der Wirklichkeit (Österreichs) handelt, ist dieses in der Öffentlichkeit am lautesten vorgebrachte Argument zwar besonders leicht einsichtig, aber wohl am wenigsten gewichtig (s.u. S. 104).

·         Es gibt öffentliche Anliegen, die mit wachsender Größe des einbezogenen Territoriums oder der Bevölkerung effizienter realisiert werden können. "Skalenerträge" (economies of scale), also die kostengünstigere Bereitstellung öffentlicher Einrichtungen mit wachsendem Umfang der Inanspruchnahme, machen öffentliche Dienste in diesen billiger oder leistungsfähiger. Der Verlauf der Skalenkurve ist allerdings nach Art der öffentlichen Einrichtung verschieden. In der Landesverteidigung, der Außenpolitik und in makroökonomischen Aspekten der  Wirtschaftspolitik – Stabilitäts- und Geldpolitik, zssind positive Skaleneffekte besonders auffällig. Sie können bis zur praktischen Unteilbarkeit solcher Aufgaben gehen.

·         Zwischen den besseren lokalen Informationen, die dezentralen Entscheidungen zugrundeliegen, und der fehlenden oder mangelhaften Kompetenz der dezentralen Entscheidungen für gemeinschaftliche (zentrale) Anliegen besteht ein trade-off. "While the central level exhibits quality deficiencies because of scarce local knowledge, it may attract more qualified people because of better carreer opportunities and salaries and could therefore achieve a higher quality level. (Prud'homme 1994 und Thießen, 2000, zitiert in Breuss, Eller,2003, p.13). Dabei handelt es sich um ein Argument, das durchaus auch zur Befürwortung von Föderalismus eingesetzt werden könnte.

·         Dezentrale Autonomie vermag zwar besser auf die spezifisch regionalen oder kommunalen Anliegen besser einzugehen, könnte aber unter Umständen übergeordnete nationale bzw. regionale Interessen vernachlässigen ("contraints, federalism imposes on the national government in implementing their political projects", Wachendorfer-Schmidt, a.a.O., p.2. Joumard, Kongsrud, OECD, 2003, p. 177). Das bezieht sich nicht zuletzt auf die Zielsetzung sozial oder regional ausgeglichener Bedingungen im Gesamtstaat: "Federalism also seems to have a price, as it benefits those who can use constituent governments to enforce minority policies and punishes those who live in states and localities with sparce fiscal resources. (Peterson 1995, p. 180, zitiert in Wachendorfer-Schmidt, 2000, p.4).

·         Ganz im Gegensatz zur Hypothese, dass Föderalismus Veränderungen leichter durchzuführen in der Lage sei, weil diese eher auf Konsens der jeweiligen Bevölkerung gründen, steht die Behauptung, dass Föderalismus "a major obstacle to change" (F.Scharpf et al. 1976, p. 143, zitiert in: Wachendorfer-Schmidt, a.a.O., p.3). Das betrifft die gemeinschaftlichen Anliegen. "Federalism tends to have high decision costs and low external costs, whereas unitary systems generate lower decision costs but higher external costs. The implementation of laws may thus cause more problems than in federal states." (Wachendorfer-Schmidt, a.a.O. p.10). Konsens zu erreichen fällt auf zentraler Ebene – nämlich für gemeinschaftliche Anliegen - schwerer, weil die Zahl der "Veto Player" größer ist (Tsebelis, a.a.O.). 

·         Das Neben- oder Übereinander zentraler und regionaler Kompetenzen und Einrichtungen verursacht Abgrenzungsprobleme und unter Umständen Überlappungen mit unnötigen Kosten. Abgrenzungsaufgaben müssen zentral gelöst werden, andernfalls drohen positive wie negative Kompetenzkonflikte (Doppelgeleisigkeiten und Lücken).

·         Sehr häufig können die Leistungen kostspieliger öffentlicher Einrichtungen nicht auf die Angehörigen der regionalen Gebietskörperschaft beschränkt werden. Auch Angehöriger anderer regionaler Einheiten benutzen sie mit, weil die Inanspruchnahme entweder nicht beschränkt wird oder nicht beschränkt werden kann. Es entsteht "Budgetaufblähung auf Kosten anderer" (Blankart, 1999, S. 149), die freilich ökonomisch problematisch ist. Leistungsfähige siedeln sich dort an, wo sie die niedrigsten Steuern zahlen müssen, Hilfsbedürftige dort, wo sie die besten Sozialleistungen in Anspruch nehmen können. Daraus folgt, dass sich gute und schlechte "Risiken" polarisieren: ein Teufelskreis, der politisch inakzeptabel und wirtschaftlich fatal wäre. Das Vorhandensein solcher "externer Effekte" (externalities) muss in einer realistischen Verfassungsstruktur berücksichtigt werden.

·         Ganz entscheidend ist die jeweilige Ausstattung regionaler Autonomie. Bezieht sie sich nur auf die Festlegung und Erbringung öffentlicher Leistungen ohne ihr gleichzeitig auch die Autonomie über die Finanzierung derselben zuzuordnen (Steuerautonomie), so kann das zu kostentreibendem Aufwand und zur Dämpfung der Innovationsneigung verleiten. Definition, Durchführung und Finanzierung öffentlicher Aufgaben sollen auf der gleichen Ebene liegen und die Verantwortlichkeiten nicht auseinanderfallen (Konnexität).

·         Die Systemkonkurrenz kann gerade durch die Koordination der regionalen Autonomie zugunsten von einheitlichen Bedingungen eingeschränkt werden. Es kann zur Kartellierung und zu monopolistischen Verhaltensweisen  kommen, unter dem Vorwand, Externalitäten vermeiden zu müssen. Für die regionale Politik kann es recht attraktiv sein, sich mit den Repräsentanten auf gleicher Ebene zu einigen und etwa die Kosten dafür der zentralen Regierung und jedenfalls den Steuerzahlern zuzuschieben.

·         Solange die Repräsentanten der regionalen Gebietskörperschaften damit rechnen müssen, dass ihr Verhalten durch Abwahl oder Auswanderung sanktioniert ist, sind volkswirtschaftliche Vorteile absehbar, Wenn aber gerade auf dezentraler Ebene Tendenzen angenommen werden müssen in Richtung auf persönliches Prestige der handelnden Politiker ("sich Denkmäler setzen"), auf persönliche Netzwerke und "Establishment", dann können sich ganz im Gegenteil Defizite an Kontrolle aufbauen.

·         Innerstaatlicher Föderalismus macht die Mitwirkung an supranationalen Einrichtungen komplizierter. Dies gilt namentlich für die Festlegung nationaler Standpunkte im Rahmen der EU. Dort ist vor allem die Koordinierung der makroökonomischen Wirtschaftspolitik, speziell der Budgetpolitik, welche in Währungsunion notwendig ist, ein Prüfsein. (Joumard-Kongsrud, OECD, 2003, p. 198f.) Für Österreich wurde er mit dem Abschluss des innerstaatlichen Stabilitätspaktes fürs Erste überwunden.

 

2.  Kritische wissenschaftliche Diskussion

Befürworter und Kritiker des Systemwettbewerbs in föderalen Staatswesen diskutieren eine Reihe von möglichen Auswirkungen und die Bedingungen volkswirtschaftlich nützlichen Wettbewerbs:

a. Wettbewerb zwischen staatlichen Einheiten könnte statt zu Innovationen zur Schwächung staatlicher Leistungen führen. Dies gelte insbesondere im Fall von unkoordinierter Steuerpolitik. (Wettbewerbföderalismus gefährdet staatliche Leistungen).

b. Wettbewerb zwischen föderalen Teilstaaten habe im Fall von grenzüberschreitenden Kosten oder Nutzen (spill-overs) Unterausstattung gemeinsamer Anliegen, also suboptimales Angebot zur Folge. Er führe außerdem zur Vernachlässigung von gemeinschaftlichen, koordiniert oder zentral wahrzunehmenden Anliegen. Daher sei Koordination zwischen den verschiedenen staatlichen Einheiten und dem Zentralstaat notwendig. Sie erschwere jedoch die Entscheidungsfindung. (Koordinierungsbedarf).

c. Wettbewerb zwischen staatlichen Einheiten sei schon deshalb eine Illusion, weil Eigennutzstreben der Politiker, ähnlich wie auf freien Gütermärkten,  zur Kartellbildung für das Angebot staatlicher Leistungen führe. Viele Argumente für Wettbewerbsföderalismus fielen dann weg, oder verkehrte sich gar ins Gegenteil. (Wettbewerbsföderalismus tendiert zu Kartellföderalismus).

d. Dies und andere Kräfte führten zur tendenziellen Zentralisierung staatlicher Kompetenzen. Funktionierender Föderalismus sei ein Übergangsstadium. (Zentralisierungstendenz).

e. Von einer anderen Richtung wird dem entgegengehalten, dass kooperativer Föderalismus  nicht zu Rigidität und Suboptimalität führe, sondern im Gegenteil zu flexiblen und sparsamen Anpassungen an neue Herausforderungen (Wachendorfer-Schmidt, a.a.O., p. 8f). (dynamischer Föderalismus).

 

a.            Fiskalföderalismus und Systemwettbewerb

Nimmt man an, dass Wirtschaftssubjekte, insbesondere Steuerzahler, zwischen verschiedenen staatlichen Steuer- und Wohlfahrtssystemen wählen können, weil sie dorthin wandern könnten, wo sie die für sie günstigsten Bedingungen vorfinden, so könnte unter Umständen das Gemeinwohl schwer beeinträchtigt werden. Diese pessimistische Hypothese trägt das Etikett "race to the bottom".

Die Tendenz zu einem Konditionenwettlauf ist erst realistisch, seit weltweit die Märkte liberalisiert und die Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen enorm verbessert wurden. Viele Staaten sehen sich in dieser Situation veranlasst, ihre Konditionen für mobile Steuergrundlagen zu verbessern, um deren Abwanderung vorzubeugen oder um solche aus anderen Staaten anzulocken.

Ein Wettlauf um die in Frage kommenden Kapitalvermögen, Firmensitze und reale Investitionen hat tatsächlich eingesetzt. Zumindest in Europa ist die Tendenz zur Senkung der Steuerlast auf Körperschaftsgewinne und auf Kapitalerträge nicht mehr zu bezweifeln.

Diesen mobilen Besteuerungsgegenständen werden günstigere – vor allem fiskalisch attraktive - Konditionen angeboten, im Extremfall auch günstigere als den ansässigen Steuerzahlern. Darauf reagieren die betroffenen bisherigen Standorte und deren Steuerpolitik, in dem auch sie ihre Steuer- oder Beitragseinnahmen senken oder Privilegilen anbieten. Dieser Wettlauf führt tendenziell zur Anhebung der Steuern auf die weniger mobilen Steuergrundlagen oder zur Leistungskürzung. Beides verstärkt den Anreiz auf die Verbliebenen, ebenfalls auszuwandern. Es entsteht nicht nur eine unfaire Lastenverteilung, sondern auch eine Unterdotierung längerfristig sinnvoller Staatsanliegen.

Weltweit wäre der Wettlauf ein Nullsummenspiel, das letztlich niemanden etwas bringt. Tatsächlich gibt es jedoch Staaten, vor allem solche mit kleiner Bevölkerung, Infrastruktur und bescheidenen Sozialsystemen, die dabei die attraktivsten Bedingungen bieten können. Größere Staaten mit entsprechender Infrastruktur und mit einem anspruchsvollen Sozialniveau sind eher der Gefahr ausgesetzt, Kapital, Einkommen und Steuererträge dorthin abwandern sehen zu müssen, wo die effektive Steuerbelastung geringer ist. Wer Leistungen der sozialen Sicherheit benötigt, versucht vielleicht, diese dort zu erlangen, wo sie bessere Bedingungen bieten (adverse selection). So kommt es zur Konzentration von "guten" Risiken auf der einen, und von "schlechten" auf der anderen Seite, einer unhaltbaren Situation, die den sozialen Ausgleich verletzt, staatliche Leistungen unfinanzierbar macht und schließlich zur politischen Destabilisierung und zur Entliberalsierung führt.

Die Problematik hat unmittelbare Bedeutung für die Koordinierung der Wirtschafts-, vor allem aber der Steuerpolitik innerhalb der EU und, weil für Kapital und Unternehmensgewinne keine Außengrenzen der EU wirksam sind, auch weltweit.

Manche Befürworter des Systemwettbewerbs schätzen diese Gefahr gering ein und verweisen darauf, dass die innovativen Impulse des Konditionenwettbewerbs zwischen autonomen Gebietskörperschaften höher zu veranschlagen sind – und theoretisch auch für Redistribution aus sozialen Motiven zur Verfügung stünden. Skeptiker weisen darauf hin, dass in der Wirklichkeit Europas in den neunziger Jahren und zu Beginn des Jahrhunderts solche Entwicklungen, wie sie die Theorie erwarten lässt, bereits zweifelsfrei zu beobachten sind.

Die Mehrheit der Mitgliedstaaten der EU neigt zur Ansicht, dass der Systemwettbewerb Spielregeln benötigt; ähnlich wie der Wettbewerb auf den Gütermärkten nur dann volkswirtschaftliche Vorteile zeitigt, wenn sich die Teilnehmer an Wettbewerbsregeln halten und wenn deren Einhaltung überwacht wird. Auch auf Gütermärkten wirkt Wettbewerb nur dann volkswirtschaftlich vorteilhaft, wenn sein Funktionieren vom Staat gewährleistet und Sanktionen gegen unfairen Wettbewerb durchgesetzt werden können. (H.W.Sinn, 2003).

Dementsprechend hat die EU einen Kodex des fairen Steuerwetttbewerbs vorgeschlagen und in multilateralen Verhandlungsrunden den Abbau von unfairen Steuerprivilegien voranzutreiben begonnen. Dies soll verhindern, dass hauptsächlich zum Zwecke des Abwerbens mobiler Steuerquellen fiskalische und andere Privilegien angeboten werden. Es wäre eine volkswirtschaftliche Fehlallokation von Ressourcen mit noch dazu negativen externen Effekten für die ursprünglichen Standorte, wenn sich Steuergrundlagen und Firmensitze weitgehend infolge von Steuer- oder Beihilfenprivilegien an bestimmten Plätzen niederlassen.

Wirkt föderalistischer Steuerwettbewerb tatsächlich als Instrument zur Begrenzung staatlicher Aktivitäten aus Eigennutz der Politik?

"How tame will Leviathan become in institutional competition?" (Apolte 2001). Würde den autonomen Teilstaaten völlige Freiheit in der Wahl ihres individuellen Steuersystems gegeben, wären vermutlich nur die mobilen Steuerfaktoren gegen die Ansprüche des Staates geschützt und die immobilen könnten exzessiv besteuert werden. Aus diesem Grund führt das Brennan-Buchanan-Modell nicht zu einem gesamtwirtschaftlichen Optimum. Verfassungsrechtliche Schranken für die Wahl der Besteuerung sind daher notwendig. (Apolte, a.a.O., p.359).

Die Befürworter eines prinzipiell unbeschränkten Wettbewerbs zwischen autonomen Gebietskörperschaften, international wie innerstaatlich, wenden dagegen ein, dass das Außerkraftsetzen wichtiger Konkurrenzmechanismen, insbesondere jenes autonomer Steuerhoheit, einen erheblichen Teil der Vorzüge des Föderalismus wegfallen ließe. Nur wenn die Einheiten eines föderalen Systems daran gehindert werden, "Konditionenkartelle" der Finanzminister etwa durch "Harmonisierung der Steuersysteme" zu bilden, könnten vom Föderalismus innovative Impulse erwartet werden.

 

b.            Koordinierungsbedarf und Koordinierungsgefahren

Auch bei wettbewerblich ausgerichtetem Föderalismus ist Koordinierung erforderlich: einmal sind gemeinsame und für alle verbindliche Entscheidungen notwendig über die zentrale Wahrnehmung von gemeinsamen Aufgaben, die auf Ebene der Teilstaaten nicht oder nicht effizient wahrgenommen werden können. Zum anderen, weil der Kreis der Nutznießer teilstaatlicher Leistungen auch Personen, die nicht dauernd ansässig sind – und daher keine oder eingeschränkte Steuer- und Beitragspflichten haben - umfasst. Vor allem Teilstaaten mit zentralörtlichen Diensten würden bei unkoordiniertem Wettbewerb zu einem suboptimalen Angebot neigen.

"Durch immer mehr Mitspracheberechtigte steigen die Zahl der zur berücksichtigenden Interessen und die Konsensfindungskosten; die immer komplexeren Entscheidungsstrukturen der Zusammenarbeit werden schwerfällig, die Verantwortlichkeiten für konkrete Entscheidungsergebnisse sind für die Betroffenen kaum noch identifizierbar. Die Nachteile der Zentralisierung werden mit denjenigen der kooperativ-konsensualen Entscheidungsfindung kombiniert" (J. Adolf, 2000, S. 232).

Ist diese Tendenz ausweglos? Zur effizienten Koordination sind verschiedene institutionelle Kostruktionen denkbar. Gerade die Konstitutionenökonomie bietet Methoden, die Konstruktion der Entscheidungsfindungsverfahren auf ihre Effizienz hin zu untersuchen.

Außerdem muss nicht angenommen werden, dass die regionale Politik keinerlei Eigeninteresse am Zustandekommen zentralstaatlicher Leistungen hat. "Though the decision system generates a tendency to unterperform, the authors of the joint decision theory argue, it is not abolished mainly for two reasons. Positive and negative externalities of decentralized policy-making must be avoided through co-ordination, and the actors involved have a twofold gain out of this structure. Regional and national politicians can win more autonomy vis-a-vis both the voter-citizens and their respective parliaments. (Wachendorfer-Schmidt, a.a.O., p.8).

 

c.            Tendenz zum Kartellföderalismus?

Wettbewerb ist unbequem, auf für die Verantwortlichen autonomer Teilstaaten. Auch dort wird regelmäßig wenig Anreiz bestehen, mit den anderen Teilstaaten in einen Systemwettbewerb einzutreten. Zum einen erfordert dieser laufend Reformen, mit denen gewissen politischen Kosten verbunden sind, zum anderen setzt Wettbewerb die Fähigkeit und Bereitschaft zu Innovationen voraus und den Verzicht auf Monopolrenten. Natürlich ist es verlockend, die Verantwortung für die politischen wie  wirtschaftlichen Kosten der zentralen Regierung zu überlassen. Auch prinzipiell engagierte Vertreter des Föderalismus könnten sich in der politischen Wirklichkeit ohne weiteres damit abfinden, zwar die Ausgabenverantwortung, jedoch nicht die Finanzierungsverantwortung zu tragen. Föderalismus aus Eigeninteresse der politischen Klasse? (von Arnim, H.H., 1999, S.43). 

Überwiegende Nachteile des kooperativen Föderalismus mit eingeschränkter Wettbewerbsintensität werden von der Mehrzahl der Finanzwissenschafter in Deutschland und in der Schweiz angenommen. Kooperativer statt Konkurrenzföderalismus bedeute, seinen eigentlichen Vorteil zu verspielen. In Deutschland vertritt die Finanzwissenschaft die Auffassung, dass das Grundgesetz und seine Änderungen im Laufe der Zeit zur Ausschaltung des Wettbewerbs zwischen den Bundesländern geführt hätten, dass deren Mitsprache an der Bundesgesetzgebung andererseits effiziente Entscheidungen der Bundesregierung sehr erschwere.

Der "kooperative Föderalismus" - wenn nicht gleich die Etiketten "Kartellföderalismus"  oder das widersinnige "unitarischer Föderalismus " verwendet werden - wird als eine Ursache des viel zitierten Reformstaus in Deutschland festgemacht. Der Föderalismus büße seine eigentlichen Vorzüge, die im Wettbewerb liegen, ein, wenn der Steuerwettbewerb weitestgehend ausgeschaltet ist. Damit verliere er zumindest seine ökonomische Rechtfertigung. Die Reform des Föderalismus ist in Deutschland ein hochaktuelles Thema geworden, das sowohl auf Änderungen am Grundgesetz als auch an der Finanzverfassung abzielt (Morath 1999). Die Mehrheit der deutschen Ökonomen plädiert in dieser Situation für größere Steuerautonomie der Länder. (H.W. Arndt, Geske, Kerber, Lammers, Vaubel, H. Zimmermann). Andere (H.W.Sinn, T. Apolte, Huber) betonen hingegen eher die Gefahren verstärkten Systemwettbewerbs für die wirtschaftliche und vor allem soziale Wohlfahrt, oder sie bezweifeln die positiven Effekte des Steuerwettbewerbs an sich, weil er in der Realität nicht wirksam sei.

Die Schweiz sieht sich manchmal als Mutterland des Föderalismus. Einige Ökonomen argumentieren dort allerdings, dass der Föderalismus seine Vorteile nur unter der Voraussetzung der direkten Demokratie voll zum Tragen bringt. Erst die direkte Demokratie vermittle den Verantwortlichen eine exakte Vorstellung von den Präferenzen der Bevölkerung und beuge dem Eigennutz der Politiker vor. Daraus ergäbe sich auch ein insgesamt niedrigeres Niveau der Besteuerung und des Staatsanteils und ein effizienterer Einsatz von Ressourcen.

In der Schweiz besitzen die Kantone traditionell eine bedeutende und international außergewöhnlich starke Steuerhoheit, und sie nützen diese auch für die Tarifgestaltung vor allem der Einkommenssteuern aus. Damit ist allerdings ein ausgebauter Finanzausgleich zwischen den aufkommensstarken und den aufkommensschwachen Kantonen über die Bundesebene verbunden. Dennoch ziehen die niedrigen Tarife in einzelnen Kantonen (Zug, Glarus) nach wie vor die Ansiedelung von Firmensitzen an, während bevölkerungsreichere Kantone mit noch dazu hohen Infrastrukturkosten im Berggebiet (Wallis, Graubünden) höhere Steuersätze verrechnen und überdies ungünstigere Standortbedingungen aufweisen.

Doch auch in der Schweiz, wo Steuerwettbewerb im Gegensatz zu Deutschland und Österreich, existiert, ist eine Debatte über die Funktionsfähigkeit des Föderalismus in Gang gekommen. Zum einen führte das zu einer Neufassung des Finanzausgleichs (Frey, Schaltegger, 2001). Zum anderen hat jedoch auch hier, initiiert durch die schweizerische Zukunftsstiftung Avenir Suisse (U. Wagschal, H.Rentsch, Hrsg., 2002),t eine Diskussion darüber eingesetzt, welchen Preis der Föderalismus habe.

Die provokante Frage wird gestellt, ob der Steuerwettbewerb schädlich und ein "Auslaufmodell" sei. In der Diskussion kommen auch Stimmen zu Wort, die, sicher mit beeinflusst von ihrem parteipolitischen Hintergrund, argumentieren, der Föderalismus schweizerischer Prägung und insbesondere die bisherige Finanzverfassung seien ihren Preis nicht wert (R. Strahm, 2002). Trotz solcher Kritik neigt auch die Mehrzahl der schweizerischen Ökonomen (C.B. Blankart, Eichenberger, Feld, R.L.Frey, Kirchgässner u.a.) zur Befürwortung von Wettbewerbsföderalismus implementiert durch mehr als nur marginalen Steuerwettbewerb.

Die Diskussion über Wettbewerbs- oder kooperativen Föderalismus, ob der eine ein Auslaufmodell, der andere hingegen die Ursache von Reformstau seien, ist nicht abgeschlossen. "In collaborative federalism co-ordination is easier to achieve given the interdependence of the territorial units and the institutional provisions. However, co-operation among equals tends to generate other difficulties, like reaching agreement on controversial policies. The political actors in arm's length federalism can be made accountable by their voters. This is much more difficult in collaborative federalism, because it tends to obscure responsibilities for decisions and for expenditure." (Wachendorfer-Schmidt, 2000, p.10).

 

Die Diskussion der ökonomischen Aspekte des Föderalismus konzentriert sich vor allem in der finanzwissenschaftlichen Literatur etwas  einseitig auf das Kriterium funktionierenden Steuerwettbewerbs und seiner innovativen Wirkungen. Eine Reduktion auf diese Frage wird der Spannweite ökonomischer Überlegungen jedoch nicht gerecht. Einschränkungen des Steuerwettbewerbs sind nicht nur unter dem Gesichtspunkt mangelnder innovativer Anreize und der Tendenz zur Kartellbildung zu sehen. Kooperativer Föderalismus ist nicht mit einer Perversion des Konkurrenzprinzips gleichzusetzen. Über die fiskalischen Aspekte hinaus haben wir andere ökonomische Effekte föderalistischer Staatsstrukturen kennengelernt (Seite 40). Wir werden darauf zurückkommen, dass der erwünschte Wettbewerb zwischen autonomen Teilen eines Gesamtstaats durchaus auch andere Formen annehmen und andere Vorteile einsetzen kann als nur die autonome Festsetzung des Besteuerungsniveaus (S. 95).

 

d.            Zentralisierunghypothesen

Dass im Laufe der Entwicklung föderaler Staatswesen die demokratischen Kräfte auf Zentralisierung hinwirken, geht auf A.de Tocqueville (1838) zurück, der schreibt: "in the democratic ages which are opening upon us .....centralization will be the natural government." Und gegen Ende des neunzehnten Jahrhumnderts wägte J. Bryce zentrifugale und zentripetale Kräfte in Amerika ab. Während zentrifugale Kräfte "are likely, as far as we can see, to prove transitory ..... the centripetal forces are permanent and secular forces, working from age to age." (1888, Auflage 1901, p. 844, zitiert nach Oates, 1999, p.1145). 1927 formulierte J. Popitz dann eine Art Naturgesetz von der Anziehungskraft des übergeordneten Haushalts. Für dieses Popitz'sche Gesetz sprach nicht nur die empirische Beobachtung zunehmender zentralstaatlicher Aufgaben, namentlich durch den Aufwand für Militär und den Ausbau von Sozialsystemen, nicht nur die Vermutung, dass die Verantwortlichen für den Zentralstaat in der Regel ihre verfassungsmäßige Kompetenz-Kompetenz zu dieser Verschiebung einsetzen, sondern eben auch die Überlegung, dass die Teilstaaten bestrebt sein könnten, Steuer- und Ausgabenkartelle unter dem Schutz und der Durchsetzungskraft der Zentralregierung zu bilden.

Diese Hypothesen entsprachen noch bis in die frühen achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts durchaus auch der tatsächlichen Entwicklung in Europa. Vor allem die noch stärkere Ausweitung der Sozial- und Militäraufwendungen in den fünfziger und sechziger Jahren sowie die Ambitionen der makroökonomischen Konjunkturpolitik schienen die Hypothese zu bestätigen. Im letzten Vierteljahrhundert wurde diese Tendenz jdeoch von einer siginifikanten Gegenströmung zur Dezentralisierung abgelöst, die sich mühelos aus empirischen Analysen erkennen und die sich auch gut begründen lässt: In den aktuellen politischen Auseinandersetzungen wird dieser neue Trend freilich noch kaum wahrgenommen (siehe S.85f).

"Within a constitutionally designed federal structure, we would predict that there would be constant pressures by competitive lower-level governments to secure institutional rearrangements that would moderate competitive pressures." (Brennan-Buchanan, 1980, p.182). "Under centralized tax legislation the price of the government is the same for all tax payers for a given level of government services. Political discussion on taxation in one state as compared to another state is avoided. Moreover, tax-induced emigration to another state is made inattractive. Cartels among governments, however, need enforcement by federal legislation because they would be unstable under a decentralized organization on the state level. Insofar cartelization involves centralization." (Blankart, 2000, p.28).

Um diese Tendenzen zu brechen, empfehlen die Befürworter des Wettbewerbsföderalismus insbesondere die Einschränkung der zentralstaatlichen Steuerautonomie und ein Trennsystem, demgemäß bestimmte Steuerarten ausschließlich in die Zuständigkeit der regionalen Teilstaaten fallen würden. Dies impliziert, dass sie auch die Autonomie über den Zugang zu den Kapitalmärkten besitzen müssen.

Zentralisierungstendenzen direkt entgegen wirken soll das Subsidiaritätsprinzip. Es kann dann angewendet werden, wenn Zuständigkeiten nicht auf Grund anderer Kriterien einer Ebene ausschließlich zugeordnet werden können oder sollen (siehe S. 53f.).

 

e.            Dynamischer Föderalismus

In einem föderativen Staat sorge nicht Fiskalwettbewerb für die Optimierung der gesamtwirtschaftlichen Resultate, wie dies die Theorie des Fiskalföderalismus annimmt, sondern vielmehr die Regeln der Interessenabstimmung und Entscheidungsfindung. Die Aufgabenverteilung zwischen den einzelnen Ebenen des Staates sei ständig im Fluss, weil sich die Aufgaben änderten. Der Grad der kooperativen Entscheidungen sei nicht zugunsten dezentraler fiskalischer Autonomie und von Fiskalwettbewerb zu senken. "Not a new and supposedly ideal distribution of tasks in federalism is required, but a capacity for the system and its actors to learn and respond to new challenges." (Wachendorfer-Schmidt, 2000, p.9)

Die meisten Überlegungen über die optimale Struktur föderativer Staatswesen gehen davon aus, dass sich auf Grund ökonomischer Kriterien eine solche bestimmen ließe. Implizit wird eine völlige Neukonstruktion föderalistischer Strukturen angenommen. "Die Realität beschränkt vielmehr erstens die Diskussion auf den Umbau bzw. die Ergänzung bereits über längere Perioden bestehender föderalistischer Strukturen ("reassignment of functions", Breton-Scott, 1978). Zweitens beweist die Realität durchaus, dass ein bestimmtes föderalistisches Konzept auch als Ziel per se zu sehen ist, zu dessen Verwirklichung bzw. Erhaltung sonstige, u.a. auch ökonomische Instrumente dienen." (Thöni, 1986, S. 16. Hervorhebungen und Zitat im Original).

"Dabei ist zu bedenken, dass reale Systeme der Aufgabenverteilung Produkte komplexer historischer Entwicklungen darstellen. Der ständige Wandel im Nachfrageverhalten, aber auch die Änderungen in der Technologie der Aufgabenerfüllung würden zudem ständige Anpassungen der Organisationsstrukturen erforderlich machen." (Thöni, a.a.O., 130).

Politisch bedeutsam ist nicht das statische Abwägen von Vorzügen und Nachteilen alternativer Kompetenzen in föderalen Systemen, sondern sind die dynamischen Fragen des Übergangs von einem System (Struktur) zur anderen. Es geht nicht um das Ob des Föderalismus, sondern um das Wie von Zentralisierung oder Dezentralisierung. Der modellhafte Konkurrenzföderalismus ist nicht durchsetzbar, weil die Modellannahmen zu abstrakt sind und für die konkrete Realität daher nicht direkt anwendbare Schlüsse gestatten. Soll eine Verfassung seinen theoretischen Vorzügen jedoch möglichst nahe kommen, dann geht es um Institutionenreform (J.Adolf, a.a.O., S. 233).

 

3.  Kriterien für die Zuordnung von Kompetenzen im föderativen System

Aus den ökonomischen Überlegungen zum Föderalismus lassen sich Kriterien für die Zuordnung von Kompetenzen zu den verschiedenen Ebenen eines Bundesstaates (oder Staatenbundes) ableiten. Sie wurden gerade in jüngster Zeit angesichts der europäischen Integrationsschritte und der Bemühungen um eine europäische Verfassung neu herausgearbeitet.

 

a.        Das Subsidiaritätsprinzip

Dabei ist die Funktion des Subsidiaritätsprinzips zunächst klar zu stellen. Dieses dient – mittlerweile explizite Richtschnur im EGV Art.5/2 - als Kriterium für die Zuordnung von Kompetenzen auf die verschiedenen hierarchischen Ebenen, wenn die Wahrnehmung der betreffenden öffentlichen Aufgabe nicht vollständig einer Ebene zugeteilt ist. (Kirchner, 1997, p. 78ff.)

Das Subsidiaritätsprinzip wird häufig als Instrument zur Verhinderung von Zentralisierungstendenzen interpretiert, weil es den Vorrang der niedrigsten zur Erreichung der Ziele ausreichenden Ebene statuiert. Diese Interpretation ist oberflächlich, weil das Kriterium in beide Richtungen wirkt. Wenn festgestellt werden könnte, dass eine bestimmte, bisher von einer niedrigeren Ebene wahrgenomme Aufgabe "nicht ausreichend von dieser erreicht werden kann" (EGV, Art.5), dann kann nach dem Subsidiaritätsprinzip die höhere Ebene tätig werden.

Die entscheidenden Kriterien für die Effizienz des Tätigwerdens einer Ebene sind – gemäß der Formulierung im EGV - Skalenerträge ("Umfang" der Aufgaben) oder externe Wirkungen ("Wirkungen"). Im europäischen Recht könnte die Unionsebene eine Aufgabe an sich ziehen, wenn eine dieser beiden Bedingungen gegeben ist. Ob eine solche Situation vorliegt ist, ist freilich in der Realität nur sehr ungenau zu bestimmen. Unsicherheiten bringt auch mit sich, dass die Präferenzstrukturen der Bevölkerung der unteren Ebenen differieren können. Wenn die höhere Ebene dann gemäß den genannten Kriterien eine Aufgabe an sich zieht, hat dies die Einebnung der Leistungsstrukturen bei unterschiedlichen Präferenzsstrukturen zur Folge.

Eine weitere Schwäche des Subsidiaritätsprinzips herkömmlicher Interpretation ist, dass sich eben gerade Skaleneffekte und Externalitäten ändern können. Es ist jedoch statisch formuliert und enthält kein Verfahren für die Änderung der Kompetenzzuordnung auf Ebenen.

Das Subsidiaritätsprinzip genügt somit nicht, um die Kompetenzen in mehrstufigen Staatswesen einer Ebene zuzuordnen. Es muss ergänzt werden um einen Katalog der ausschließlich einer Ebene zustehenden Kompetenzen, der sich aus Kriterien wie Homogenität der teilstaatlichen Einheiten, Skalengrößen, externen Effekten und Mobilität oder Koordinierungsmöglichkeiten ergibt. 

"The principle of economic federalism prefers the most decentralized structure of government capable of internalizing all economic externalities, subject to the constitutional constraint that all central government policies be decided by an elected or appointed 'central planner'. The appropriate number of local (or lower-tier) governments is specified so that all economies of scale in the provision of public goods to households are just exhausted." (Inman, Rubinfeld, 1997, p. 45).

Die ökonomische Theorie des Föderalismus geht davon aus, daß unter gegebenen ökonomischen Zielsetzungen eines Staatswesens (optimale Allokation der Ressourcen, Stabilität und Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse) ein optimaler Grad an Dezentralisierung bestimmbar ist. "Der Föderalismus wird als Variable gutsspezifischer Kriterien aufgefaßt, deren Variation es erlauben würde, die vorgegebenen ökonomischen Zielsetzungen optimal zu verwirklichen. Man sieht den Föderalismus als Instrument zur Erreichung übergeordneter Zielsetzungen, beliebig variierbar und austauschbar." (Thöni, a.a.O., S. 15).

 

b.            Ökonomische Tests für die Zuordnung

Aus den theoretischen Überlegungen ergeben sich eine Reihe von Tests für die Zuordnung: zunächst die Vorfrage, ob eine bestimmte Aufgabe tatsächlich öffentlich wahrgenommen werden soll, oder ob sie nicht mit gleichem oder besseren gesellschaftlichem Resultat privat wahrgenommen werden kann (Privatisierungstest). Danach ist zu prüfen, ob die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe auf der höheren Ebene wirtschaftlich effizienter erfolgt, weil wachsende Skalenerträge vorliegen. Die niedrigeren Einheiten können zu klein sein, so dass sie bestimmte Aufgaben nicht wirkungsvoll und kostengünstig wahrnehmen können (Skalentest).

Weiters ist zu fragen, ob und in welchem Umfang eine Verlagerung von Kompetenzen auf eine andere Ebene Transaktionskosten spart (zum Beispiel Informationsbeschaffung, Verkehrswege). Das ist regelmäßig der Fall bei dezentraler Erbringung von direkten Leistungen an einzelne Bürger.

Nächster Schritt einer rationalen Zuordnung ist, die positiven und negativen externen Effekte dezentraler Autonomie zu prüfen. Positive Effekte bedeuten, dass andere Personen als die im betreffenden Staat Ansässigen in den Genuß von öffentlichen Diensten kommen, oder dass die anderen Teilstaaten oder der Zentralstaat von Aktivitäten des betreffenden Teilstaates Nutzen ziehen. Negative Effekte strahlen auf die Nachbarn oder den Gesamtstaat aus, wenn deren Aufgabenerfüllung durch die Wahrnehmung autonomer Kompetenzen eines Teilstaates erschwert wird.

Schließlich müßte die Frage beantwortet werden, ob durch Zentralisierung die Kontrolle der Bevölkerung über die Staatstätigkeit erschwert wird (principal-agent-Problem). Es können Kosten der governance entstehen, die auf der unteren Ebene durch das räumliche und kulturelle Naheverhältnis der Bevölkerung zur Politik oder durch die Konkurrenz gleichrangig autonomer Teilstaaten und deren Politik vermieden werden. (Kirchner, a.a.O., p. 80f, Joumard-Kongsrud, 2003, p. 168f.).

Die Zentralisierung einer Aufgabe ist dann nicht nur unter Skalengesichtspunkten zu beurteilen, wenn die regionalen Präferenzsstrukturen erhebliche Abweichungen voneinander haben. In diesem Fall müsste die zentrale Aufgabenerfüllung regional differenzierte Dienste leisten und würde damit wahrscheinlich Skalenerträge einbüßen, oder die Abweichungen der einheitlichen Leistungsstandards von den regionalen Präferenzen werden größer, die Leistungserbringung also weniger "treffsicher" und damit unökonomischer.

Nun lassen sich an Hand dieser Kriterien ohne weiteres große Bereiche öffentlicher Aufgaben ("Gesamtaufgabenbereiche", Thöni) feststellen, bei denen das eine oder andere Kriterium eher für zentrale oder für dezentrale Aufgabenwahrnehmung spricht. Große Skaleneffekte sind etwa bei der Landesverteidigung, der Außenpolitik, der überregionalen Infrastruktur und den Kommunikationsnetzwerke gegeben, bei welch letzteren überdies Spillovers entscheidend sind. Skalenerträge gibt es sicher auch bei den Kosten der obersten Organe einschließlich der Parlamente. Sie liegen auch bei hochwertigen, spezialisierten Diensten im Unterrichts-, Kultur- und Forschungswesen (Universitäten, Forschungsinstituten) und bei Spezialisierungen im Gesundheitswesen (Fachabteilungen, Spezialinstrumente) auf der Hand. Die Konzentration solcher Einrichtungen auf bestimmte Standorte bringt positive Spillovers und verlangt daher daher in irgendeiner Form Kostenteilung der Träger der Einrichtungen mit den nicht ansässigen Nutznießern.

Beachtliche externe Wirkungen liegen bei höheren und spezialisierten Einrichtungen im Unterrichtswesen und im Gesundheitsbereich (Spezialkliniken) vor. Die Inanspruchnahme von sozialen Diensten durch persönliche Mobilität (Wohnsitzverlagerung) wirft besondere Fragen auf. Regional unterschiedliche Regelungen für soziale Ansprüche, Sozialhilfe, Familienpolitik, Wohnbauförderung könnten ökonomisch sinnlose Wohnsitzverlegungen zur Folge haben und fiskalische Ungleichgewichte zwischen einzelnen autonomen Gebietskörperschaften noch verschärfen. Der Erwerb solcher Ansprüche kann, um dies zu vermeiden,  an eine länger Zeit der Anwesenheit am Wohnort gebunden oder eben durch interregionale Finanztransfers ausgeglichen werden.

Vorteile der näheren, niedrigeren Ebene sind ebenso einsichtig bei der Gestaltung der lokalen oder regionalen Infrastruktur, im Pflichtschulwesen, der Raumordnung, der Freizeitgestaltung und der Pflege von Kultur und Traditionen.

Ältere Kompetenzkataloge in staatlichen Verfassungen gingen nicht selten von der stark vereinfachenden Annahme aus, dass sich große Aufgabenbereiche ohne Verluste an Effizienz bestimmten Ebenen zuordnen lassen. Auch das BVG enthielt solche undifferenzierte Kompetenzzuordnungen, nicht zuletzt in der Generalklausel des Art. 15 (1). Neu auftretender Regelungsbedarf hat diese Generalklausel in der Regel durch Verfassungsbestimmung zugunsten der Bundeskompetenzen eingeengt.

Die starke Zunahme der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mobilität und Verflechtung hat vielfach die Homogenität der regionalen Präferenzstrukturen aufgelöst, sowie externe Effekte und Skalenerträge durch Arbeitsteilung hervorgebracht. Auch die Transaktionskosten sind infolge der Verbesserung und Verbilligung der Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen drastisch zurückgegangen. Dies spricht für Tendenzen der Verlagerung von wichtigen Kompetenzen auf die höhere innerstaatliche oder internationale (europäische) Ebene.

Und tatsächlich fanden solche Vorgänge statt: der augenfälligste war die Schaffung eines einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraums in der EU, der gemeinschaftlichen Regeln gehorcht und daher nahezu keinen Platz für nationale, regionale oder kommunale Sonderrechte etwa der Währungs-, Wettbewerbs-, Markt- oder der Berufsordnung läßt.

Andererseits haben sich aber mit der höheren wirtschaftlichen Leistungskraft die Präferenzen der Bevölkerung und die Anforderungen der Wirtschaft an den Standort stark differenziert. Sie sind jedenfalls auch anspruchsvoller geworden, so dass Einheitsstandards öffentlicher Aufgabenwahrnehmung ('one size fits all') nicht mehr genügen und nicht mehr akzeptiert werden. Diese Ausdifferenzierung im Lebensbereich der Bevölkerung, in ihren Freizeit- und Wohnansprüchen, in der Standortwahl von Betrieben spricht - ähnlich massiv wie die obigen Argumente für die Zentralisierung – für dezentrale Autonomie, für Differenzierung und Nähe der Leistungsdefinition und Erbringung öffentlicher Dienste (Seite 92 f.)

Überblicksdarstellungen der Zuordnung großer Aufgabenbereiche auf einzelne Ebenen insbesondere in der Europäischen Union auf Grund der theoretischen Überlegungen der Ökonomie wurden vor allem aus Anlass des europäischen Verfassungskonvents ausgearbeitet. (Pola, 1999, Breuss,Eller, 2003, p. 30f., Osterkamp, Eller, 2003, und EEAG, 2003, p. 76ff.)

In Wirklichkeit lässt sich kaum mehr ein großer Aufgabenbereich finden, dessen verschiedene Elemente nicht simultan und sinnvoll koordiniert auf allen Ebenen wahrgenommen werden sollten, freilich mit unterschiedlichem Grad an Abstraktion und Nähe zum konkreten Anlassfall. Auf der obersten Ebene werden daher die Prinzipien und Grundsätze der Erfüllung eines bestimmten Aufgabenbereichs anzusiedeln sein. Ihre Beachtung im gesamten Gebiet eines Staates oder eines Staatenbundes wäre einheitlich und obligatorisch. Darunter (auf der nationalen und der regionalen Ebene) werden Ausführungsbestimmungen mit nationalen oder regionalen Konkretisierungen und – in Grenzen, die die Grundsatzbestimmungen ziehen – nationalen oder regionalen Varianten, die aber innerhalb des Gesamtstaats (oder der Union) wechselseitig anerkannt werden, soferne sie den Grundsätzen entsprechen. Darunter werden regelmäßig regionale oder lokale Differenzierungen wünschenswert sein, die die spezifischen Gegebenheiten der Region oder des Ortes und der operationalen und organisatorischen Durchführung öffentlicher Aufgaben berücksichtigen.

Es ist unmittelbar einsichtig, dass sowohl die Skalenverläufe – also die Kostensenkung bei größerer Zahl der erbrachten Leistungen – und die Spillover-Effekte (Träger und Nutznießer einer öffentlichen Einrichtung decken sich nicht) nach Aufgabenbereichen differieren. Skaleneffekte sind bei öffentlichen Parkanlagen, bei Pflichtschulen, aber auch etwa bei dezentralen und lokalen Verwaltungseinrichtungen, lokalen Verkehrswegen, Organen der öffentlichen Sicherheit nicht sehr groß. Externalitäten dann nicht, wenn es sich um Leistungen handelt, die ihrer Natur nach in erster Linie der ansässigen Bevölkerung erbracht werden: abermals Pflichtschulen, Kindergärten, Freizeiteinrichtungen, medizinische Erstversorgung u.ä.

Andere, spezialisiertere öffentliche Aufgaben könnten beachtliche Skalenerträge aufweisen oder müssen mit starken Externalitäten rechnen: etwa die Einrichtung von kostspieligen Diagnose- und Therapiestationen, Universitäten, Forschungszentren, aber auch überregionale Kultureinrichtungen. Vor allem sind Skalenerträge bei Netzwerk-Diensten (Nachrichten, Energieversorgung, Wasserversorgung, Kläranlagen), Entsorgung, aber auch Pflege- und Schulungseinrichtungen für spezifische Behinderungen ausgeprägt.

Gewisse öffentliche Dienste können ohne zentrale Kompetenz jedenfalls nicht effizient erbracht werden: makroökonomische Wirtschafts- und Währungspolitik, Außenpolitik, Landesverteidigung.

Aus dem Umstand, dass es äußerst verschiedenartige Skalenverläufe und Externalitäten je nach Aufgabengebiet, operationaler Durchführung und Finanzierung geben kann, lässt sich erkennen, dass eine drei- oder vierstufige Hierarchie der Kompetenzen noch nicht ausreicht, um die Kompetenzen an Hand der spezifischen Skalen- und Externalitätenverläufe optimal zuzuordnen.

"Merging sub-national governments is one option to exploit scale economies and internalise spillovers. Amalgamations can also help to reduce the duplication of tasks, in particular administrative ones, and to balance intra-regional disparities in income levels with the needs of public services.(in particular between city-centers and suburban areas)". (Joumard, Kongsrud, p. 179). Wichtig ist, dass neben den Vorzügen dezentraler Autonomie auch die Mindestgröße (die "kritische Masse") für die effiziente Erfüllung öffentlicher Leistungen berücksichtigt wird. Diese Tendenz hat in großem Stil zu Gemeindezusammenlegungen geführt. Weitere Zusammenlegungen, nicht unbedingt von Gemeinden, aber von bestimmten Funktionsbereichen (Kläranlagen, Wasser- und Fernwärmeversorgung, Feuerwehr, Katastrophenschutz, öffentliche Bauhöfe und Strassenmeistereien, Schulen, Sport-, Sozial-, vor allem Pflegeeinrichtungen) müssen geprüft werden, um das Wuchern kostspieliger Prestigeprojekte, das den persönlichen Ambitionen lokaler "Kaiser" mehr als den öffentlichen Finanzen gut tut, zu verhindern.

c.            Funktionaler Föderalismus

Verfassungsregeln für die Einflussnahme der jeweils höheren Ebene der Gebietskörperschaft mit allenfalls fiskalischen Sanktionen für Zuwiderhandeln, wären eine naheliegende Lösung des Problems. B. Frey und Eichenberger entwickelten (1999) ein Modell für die Internalisierung der Externalitäten und die effiziente Arbeitsteilung zwischen Gebietskörperschaften, das prinzipiell auch die Verhältnisse der direkten Demokratie in der Schweiz einbezieht. (Modell der funktionellen, überlappenden und konkurrierenden Jurisdiktionen FOCJ). Sie gehen davon aus, dass wenige übereinander liegende Ebenen nicht genügen, die für spezielle Aufgaben optimale Skalengröße und die vollständige Internalisierung der Kosten zu erreichen. Deshalb schlagen sie einen funktionalen Föderalismus vor, in welchem sich eine Vielzahl von territorialen Zweckgemeinschaften von jeweils unterschiedlichem Umfang etablieren. Sie unterliegen der direkt-demokratischen Kontrolle der jeweiligen Interessenten. Die in manchen Staaten bestehenden Zweckverbände (vor allem benachbarter Gemeinden) sind nur eine Vorstufe zu einem umfassenderen System.

Der Vorschlag führt die Überlegungen zur ökonomischen Funktionalität der föderalen Organisation konsequent bis zur Grenze der Ökonomie. Nicht zu leugnen ist, dass vor allem beim Vorliegen von starken Skaleneffekten und individuell nicht zurechenbaren Externalitäten Ansätze in dieser Richtung organisatorisch sinnvoll sind und in der Wirklichkeit auch funktionieren (Wasserversorgungs- und Abwasserverbände, Schulgemeindeverbände).

Vermutlich leidet die Realisierbarkeit jedoch darunter, dass er dort, wo die Kostenvorteile der Kooperation oder Koordination nicht besonders ausgeprägt sind, große Probleme der vertikalen und horizontalen Koordination und eine ungenügende Transparenz der Vorgänge erwarten lässt, ganz besonders bei der Frage der Finanzierung. Jeder dieser Zweckverbände müßte entweder eine zweckgebundene Steuer- oder Gebührenhoheit besitzen. Die Finanzierung von Staatsaufgaben aus zweckgebundenen Abgaben ist längst als tendenziell besonders kostentreibend erkannt worden. Oder sie müßte sich eben doch in einem schwierigen Verhandlungsprozess gegen eine Vielzahl konkurrierender Verbände und Interessen durchsetzen. Davon drohen negative externe Effekte für alle anderen. Außerdem übersieht der Vorschlag, dass politische Identifizierung mit traditionsreichen territorialen Einheiten als Basis für politische Entscheidungen politisch tragfähig ist, nicht unbedingt aber die Identifizierung mit einer Vielzahl einander überlappender Zweckgemeinschaften (siehe dazu Breuss, Eller, p. 11).

 

4.            Fiskalische Aspekte des Föderalismus

"Entgegen finanzwissenschaftlicher Logik rangieren Fragen der Finanz- vor Fragen der Aufgabenverteilung" (Adolf, 2000, S. 231). Tatsächlich konzentriert sich eine sehr umfangreiche wissenschaftliche Diskussion auf die Gestaltung der Finanzverfassung eines föderalen Staatswesens. Deren Intensität wurde in jüngster Zeit durch die Probleme der Finanzierung der Europäischen Union noch intensiver.

Dennoch ist der Aussage Adolf's über den logischen Vorrang der (realen) Aufgabenverteilung nicht zuzustimmen. Es kann nicht um Vorrang der Finanzverfassung vor der Aufgabenverteilung gehen und auch nicht umgekehrt. Auch ein Ansatz, der zuerst die Fragen der Aufgabenverteilung lösen möchte und dann die Finanzierung bestimmt, wäre bedenklich. Beide Aspekte stehen in einem nahezu untrennbaren wechselseitigen Zusammenhang und müssen im Prinzip simultan gelöst werden.

In der ökonomischen Theorie des Wettbewerbsföderalismus spielt die regionale Steuerautonomie die zentrale Rolle. Fruchtbarer Wettbewerb zwischen regionalen Teilstaaten wird in erster Linie über regional differenzierte Steuern bzw. Steuersätze ausgetragen. Die Steuern sind der Preis, zu welchem der Staat ein Bündel an Leistungen anbietet. Unterschiedliche Staaten oder Gliedstaaten bieten unterschiedliche "Menus" staatlicher Dienste an und setzen dafür auch unterschiedliche Preise (Steuerbelastungen) für die Bewohner fest. Diese entscheiden über diese Angebote entweder anlässlich demokratischer Wahlen oder Referenden – in dem sie ein anderes Menu verlangen-- oder eben durch Verlegung ihrer Interessen (Wohn-, Betriebs- oder Kapitalanlageort) an einen Ort außerhalb der bisherigen Jurisdiktion.

Den "Nachfragern" sollte es dabei aber nicht allein darum gehen, den niedrigsten Preis zu suchen. Ökonomisch rational wäre das Kriterium des günstigsten Preis-Leistungsverhältnisses aus Sicht der individuellen Interessen. Die Attraktivität als Wohn- oder Wirtschaftsstandort hängt nicht allein vom Steuerniveau, sondern auch davon ab, welche Leistungen bei gegebenem Niveau fiskalischer Lasten vom Staat quantitativ und qualitativ erbracht werden.

Der die Innovationen und Effizienz steigernde Standortwettbewerb wird eingeschränkt oder ausgeschaltet, wenn die Besteuerung und/oder die staatlichen Leistungen in einem föderalen System vereinheitlicht ("harmonisiert", "koordiniert") werden, sei es durch Zentralisierung auf der höheren Ebene, sei es durch faktische Kartellierung zwischen autonomen Teilstaaten. Eine Tendenz in dieser Richtung ist ähnlich wie auf einem Gütermarkt sehr plausibel, wenn die Bedingungen des Wettbewerbs und sein Schutz nicht gewährleistet sind.

Ob durch einen Kodex des steuerlichen Wohlverhaltens fairer Wettbewerb erst ermöglicht wird oder – im Gegenteil – der Wettbewerb unerwünscht eingeschränkt wird, ist, wie geschildert, in der theoretischen Diskussion umstritten. Das geht in erster Linie auf unterschiedliche Staatsauffassungen zurück. Wer den Staat primär als unersättlichen Leviathan sieht, rechtfertigt die Flucht vor dem Fiskus als Notwehr. Wer ihn eher als dem Gemeinwohl dienend versteht, verurteilt diese Flucht (vor allem mobiler Steuergegenstände) als Illoyalität gegenüber der gesellschaftlichen Solidarität.

Die fiskalische Theorie setzt sich mit einigen Hauptproblemen gliedstaatlicher Steuerautonomie auseinander. Sie sind von den Überlegungen über die Zuordnung von Aufgabenbereichen logisch nicht zu trennen.

Die wichtigsten seien hier kurz diskutiert, ohne den Anspruch zu erheben, damit konkret verwertbare Aussagen über eine Neugestaltung der österreichischen Finanzverfassung gewinnen zu können.

 

a.            Konnexität

Bisher wurde die innerstaatliche Aufgabenverteilung in einem föderalen Staatswesen  grob vereinfachend "eindimensional" gesehen. In Wirklichkeit fallen die Gesetzgebungs-, die Leistungsverantwortung des Staates und deren Finanzierung nicht automatisch zusammen, weil den verschiedenen Staatsaufgaben auch innerhalb eines Aufgabenbereichs keine kongruenten und zweckgebundenen Kapazitäten, Ressourcen oder Finanzierungsquellen zugeordnet werden können.

Zum kleineren Teil werden Staatsausgaben durch Leistungsentgelte der sie in Anspruch nehmenden Bevölkerung finanziert, zum größeren Teil durch allgemeine Steuern. Dies trifft umso mehr zu, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die großen Staatsausgabenbereiche nur ausnahmsweise und im Sinne des Subsidiaritätsprinzips einer Ebene vollständig zugewiesen werden können. 

"Insbesondere geht es um die Frage, in welchem Sinn das Konnexitätsprinzip auf die Finanzierung von Aufgaben anzuwenden ist, bei denen Gesetzgebungszuständigkeit und Durchführungsverantwortung auseinanderfallen. Versteht man das Konnexitätsprinzip im Sinne der Ausführungskonnexität, so besagt es, dass diejenige Gebietskörperschaft, die die verwaltungsmäßige Durchführung übernimmt, auch die anfallenden Ausgaben zu tragen hat. Im Sinne der Veranlassungskonnexität besagt das Prinzip hingegen, dass die gesetzgebende und damit die veranlassende Gebietskörperschaft die Finanzierung übernehmen soll." (Baretti et.al., 2000a, S. 155f).

Ist jedoch der Konnex zwischen Gesetzgebungs-, Leistungs- und Finanzierungsverantwortung nicht gegeben, so provoziert das Ungleichgewichte und suboptimale Finanzverhältnisse.

Liegt etwa die Verfassung für die Erbringung von Unterrichtsleistungen beim Teilstaat, verantwortlich, hingegen jene für die Finanzierung des Unterrichtswesens beim  Zentralstaat,  so besteht für den Teilstaat wenig Anlass, mit den Ressourcen dafür sparsam umzugehen. Er kann ja die Kosten weiterwälzen,  ein klassischer Fall für das in der Ökonomie unter "principal-agent-Problem". Die in Österreich viel diskutierte unhaltbare Praxis der Besoldung der Landeslehrer scheint genau diesen Fehler aufzuweisen. Im österreichischen Fall wird allerdings der Postenplan der Länder mit dem Bund akkordiert.

In Wirklichkeit stellt sich der Fall jedoch noch komplexer dar, weil der Bund weitgehend die Unterrichtsstandards setzt, die die Kosten wesentlich mitbestimmen. Daher sind eigentlich vier Dimensionen der gleichen sachlichen Kompetenz zu unterscheiden:

Ähnlich wie regionale Steuerautonomie kann auch regionale Autonomie des Zugangs zur Kapitalmarktfinanzierung externe Effekte für den Zentralstaat, seine politischen (vor allem makroökonomischen) Ziele und für die anderen Teilstaaten haben, insbesondere, wenn deren Hilfestellung oder Kreditgarantie nicht glaubhaft ausgeschlossen ist. Selbst dann könnte übermäßige Verschuldung eines Teilstaats die anderen Gebietskörperschaften belasten, wenn diese das Zinsniveau für die Kreditaufnahme allgemein hinauftreibt. In der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion war diese Überlegung der Anlass für den Abschluss des Stabilitäts- und Wachstumspakts, um solche negativen externen Effekte und moral hazard zu Lasten der Partner auszuschließen.

Klarheit über das gesamte Konglomerat dieser Grundfragen und ihrer Beantwortung ist als Zielvorstellung für eine funktionsfähige Verfassung zu postulieren, um einen ständigen Streitanlass bei der Finanzierung des Kompetenzkatalogs, ineffiziente oder ungenügende Mittelbereitstellung und schließlich Blockaden wichtiger Staatsaufgaben zu vermeiden .

Ein Mangel der österreichischen Verfassungsordnung ist klarerweise, dass die Finanzverfassung in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang zur Aufgabenzuordnung des Kompetenzkatalogs steht, so dass eine politische Dauerauseinandersetzung und Ineffizienzen die notwendige Folge sind. Die Aufteilung der gemeinschaftlichen Abgaben erfolgt nach Schlüsseln, die in erster Linie politische Durchsetzungskraft und etablierte Traditionen verkörpern. Als Komplikation kommt hinzu, dass die Gesetzgebungskompetenz für gemeinsame Abgaben ausschließlich dem Bundesgesetzgeber zukommt, der sie für Veränderungen der Effekte der Schlüssel zu seinen Gunsten einsetzen kann.

 

b.            Ausgleich der wirtschaftlichen Lebensbedingungen

Dazu kommt, dass die österreichische Verfassungswirklichkeit zwar implizit einen gewissen Ausgleich der Lebensbedingungen annimmt – den man nicht zuletzt im Wege von fallweisen Interpretationen des Gleichheitsgrundsatzes durch den Verfassungsgerichtshof erkennen kann - , jedoch keinen Versuch unternimmt, den Grad des anzustrebenden Ausgleichs auch nur einigermaßen zu determinieren.

In der Regel sind in einem föderalen Staatswesen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Ausstattung regional unterschiedlich. Ein finanzieller Ausgleich der unterschiedlichen Ressourcenausstattung und Leistungsfähigkeit der Gliedstaaten kann zwei Anlässe haben: einmal die gemeinsame oder zentrale Entscheidung zugunsten einer Angleichung der regionalen und individuellen wirtschaftlichen Situation, zum anderen aber auch externe Effekte des regional unterschiedlichen Leistungsangebots oder der unterschiedlichen Besteuerung.

Ökonomisch gesehen besteht ein klarer Trade-off (Wagschal, 2002, S. 20 verwendet das Wort "Spagat") zwischen Umverteilung und Effizienz. In dem Maß, in dem das Anspruchsniveau an die innerstaatliche Umverteilung oder an die verteilungsorientierte Komponente des Finanzausgleichs steigt, nehmen die Effizienzwirkungen des föderalen Wettbewerbs ab. "Im Extremfall wird dieser Finanzausgleich mit dem Ziel 'einheitlicher Lebensverhältnisse', wie etwa in Deutschland begründet." (Wagschal, a.a.O.)

Die effizienzmindernden Wirkungen eines Finanzausgleichs können verringert werden, wenn die Finanzverfassung "objektivierbare", kalkulierbare Kriterien für das Ausmaß der Finanzausgleichsströme herstellt. "Trotzdem kann es zu einem Trittbrettfahrerdilemma kommen, wenn die Mehrheit der finanzschwachen Gebietskörperschaften die Minderheit der leistungsstärkeren majorisiert" (Wagschal, a.a.O.). Immerhin versprechen verbesserte und transparente ressourcenorientierte Kriterien (Ressourcenindizes wie im Neuen Finanzausgleich der Schweiz) eine politisch weniger umstrittene Praxis als dies die Einseitigkeit eines einfachen (wenn auch nach Gemeindegrößenklassen abgestuften) Bevölkerungsschlüssels – wie derzeit in Österreich – zur Folge haben muss.

Ein weiterer, damit zusammenhängender Anlass für die Einrichtung von finanziellem Ausgleich ergibt sich immer dann, wenn die Steuerautonomie der Gebietskörperschaften durch Mobilität umgangen werden kann. Wichtigster Fall ist die Mobilität von Steuerquellen, etwa derart, dass der Ort der wirtschaftlichen Aktivitäten oder der Wohnsitz vom Ort der Besteuerung abweichen. Bei unterschiedlichern Regeln und Tarifen für die Besteuerung kann dies Wanderungen auslösen. Hier gelten die gleichen Bedenken wie bei internationalem Steuerwettbewerb. Das Plädoyer für die vorteilhaften Effekte des Finanzföderalismus muss auch in Rechnung stellen, dass eine staatspolitisch unerwünschte Polarisierung zwischen reichen und armen Regionen und eine suboptimale Allokation von Ressourcen die Folge sein können.

Alltäglich ist der Fall, dass die Bewohner eines Teilstaates bestimmte, vor allem hochwertige, an wenigen Zentralorten konzentrierte öffentliche Dienste in einem anderen Teilstaat in Anspruch nehmen. Wenn diese nicht im Einzelfall dem Benützer individuell zugerechnet werden und dafür voll kostendeckernde Tarife verrechnet werden können, entsteht ein Anlass für Finanzausgleich. Dieser macht häufig Annahmen und Schätzungen erforderlich, wenn die individuelle Zurechenbarkeit nicht oder nur ansatzweise möglich ist. Andernfalls könnte die für die Leistungserbringung und Finanzierung verantwortliche Gebietskörperschaft den Zugang zu ihren Einrichtungen für Angehörige anderer Gebietskörperschaften beschränken, oder er könnte versucht sein, ihr Angebot quantitativ zu beschränken. Damit könnten volkswirtschaftliche Skalenerträge der optimalen Betriebsgröße verloren gehen. Diese Feststellungen gelten sowohl für den horizontalen Finanzausgleich auf der Ebene von Gemeinden oder Ländern untereinander, wie auch für den vertikalen zwischen verschiedenen Ebenen. Die Situation ist äußerst konfliktträchtig – Wohnsitz und Arbeitsort bzw. öffentliche Freizeiteinrichtungen, Schul- oder Krankenhausstandort und Wohnort fallen in aller Regel beträchtlich  auseinander. Großstädte weisen Universitäten und Kliniken auf, deren Leistungen auch von Studenten oder Patienten aus anderen Gemeinden oder anderen Ländern in Anspruch genommen werden, wobei keine voll kostendeckenden Gebühren verrechnet werden. Die Äquivalenz von Leistung und Finanzierung wird dadurch unterbrochen. Die Identität zwischen Kostenträgern (Steuerzahlern) und Nutzern ist nicht gegeben.

Die Finanztheorie hat dazu das Äquivalenzprinzip entwickelt. Es setzt der fiskalischen Autonomie von Gebietskörperschaften gewisse Grenzen. Eine eigene Finanzierungs- und Besteuerverantwortung wird nur insoweit empfohlen, als individuelle Leistungsinanspruchnahme über kostendeckende Tarife finanziert wird (Gebührenfinanzierung) oder aber regional immobile Steuerquellen ausschöpft, etwa die Besteuerung von Grund und Boden.  Äquivalenzfinanzierung drängt sich umso mehr auf, je weniger ein automatischer Ausgleich zwischen Regionen (Gemeinden) angenommen werden kann, also die Inanspruchnahme durch Wanderungsbewegungen in beiden Richtungen sich annähernd aufhebt.

Die Ansichten über die Notwendigkeit, das Äquivalenzprinzip bei regionaler Steuerautonomie zu beachten, gehen weit auseinander. Dabei kann beobachtet werden, dass Theoretiker eher dazu neigen, eine relativ weite Autonomie der Gebietskörperschaften anzunehmen, hingegen die Verantwortlichen für den Finanzausgleich und die empirischen Studien weit mehr Skepsis an den Tag legen  die autonome Steuergestaltung auf Äquivalenz und auf immobile Steuerquellen beschränken würden.

"Dazu kommt, dass im Nationalstaat die einzelnen Gebietskörperschaften entweder einheitliche Sozialleistungen erbringen müssen, die gerade strukturschwache Regionen relativ stärker belasten" (Deubel, 1999, S. 70f) oder dass ein  problematischer Wanderungsanreiz zu den besseren Sozialleistungen einsetzt. "Redistribution is intrinsically a national policy" (G.Stigler, 1957, p.217).

Die Praxis lässt erkennen, dass regional variable Steuersätze oder unterschiedliche Hebesätze auf ansonsten einheitlich definierten Steuerquellen "häufig nicht zur Erhöhung oder Senkung des kommunalen (oder regionalen) Leistungsangebots verwendet werden können, sondern zur Finanzierung steigender Soziallasten dienen müssen. Umgekehrt können sich gerade Gemeinden (Länder) mit geringeren Sozialproblemen trotz exzellenter Infrastruktur niedrigere Hebesätze leisten", was das wirtschaftliche Gefälle vergrößern muss. (Deubel, a.a. O., S. 71).

"Solange diese Konstellation besteht, muß eine stark nivellierende Verteilung der Gesamtsteuereinnahmen erfolgen. Dabei ist es relativ belanglos, ob die weitgehende Nivellierung durch Gemeinschaftssteuern oder in einem Trennsystem erfolgt. ..." Die Idealkonstellation wäre, wenn Veränderungen von Hebesätzen von ansonsten einheitlich konstruierten Steuern, "ausschießlich der Finanzierung höherer oder geringerer kommunaler oder regionaler Angebote an Infrastruktur und Dienstleistungen und damit zur Realisierung einer fiskalischen Äquivalenz genutzt würden." (Deubler, a.a.O., S. 71).

Weit positivere Beurteilung erfährt die regionale (oder kommunale) Steuerfindungsmöglichkeit bei deutschen und schweizerischen Finanzwissenschaftlern, die etwa auch negative Allokations- und Distributionswirkungen der unterschiedlichen Höhe der Einkommensbesteuerung nach Kantonen geringer schätzen als die Vorteile des Steuerwettbewerbs. B. Huber (1999, S. 60) fasst seine Überlegungen zusammen: "Auch der entstehende Steuerwettbewerb ist keineswegs nachteilig, vielmehr kann man sich davon sogar eine Verbesserung in der Versorgung mit regionalen öffentlichen Gütern versprechen. Dies gilt auf jeden Fall für öffentliche Leistungen, bei denen eine Finanzierung nach dem Äquivalenzprinzip möglich ist. Es ist nicht zu erwarten, dass es bei einem Ländersteuerwettbewerb zu einem Race-to-the-bottom kommt und dadurch die Besteuerungsspielräume auf eine reine Äquivalenzbesteuerung reduziert werden." (Huber, a.a.O.).

Wenn vor dem Hintergrund der Entwicklung des Steueraufkommens gegen die race-to-the-bottom-Hypothese angeführt wird, dass in Europa zwar die Sätze für die Besteuerung von Unternehmensgewinnen (Körperschaftssteuer) eine ausgeprägte Senkung erfahren hätten, dass diese aber durch Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen ausgeglichen worden sei und daher der Ertrag der Körperschaftssteuer gemessen am BIP nicht oder nicht signifikant gesunken sei, dann muss darauf verwiesen werden, dass sehr wohl eine massive Verlagerung der relativen Steuerlast von dieser mobilen Steuerquelle – und noch mehr von der Steuerquelle Kapitalerträge – auf die weniger mobile Steuerquelle Arbeits- und Unternehmereinkommen im Gang ist.

Für die Schweiz, wo die kantonale Steuerautonomie stärker ausgestattet ist als in jedem anderen Land Europas, ist eine Polarisierung der Einkommen und der Allokation von öffentlicher Infrastruktur zwischen reichen Niedrigsteuerkantonen und armen Hochsteuerkantonen erwartungsgemäß nicht auszuschließen ("Residence decisions are fiscally induced in Switzerland". P.Feld, 2000, p.149). Ausgeschlossen wird von Feld hingegen, dass die kantonale Steuerautonomie zu einer Aushöhlung der Finanzierung der sozialen Einrichtungen oder gar zur Gefahr eines Kollapses des Sozialstaates geführt hätte ("the aggregate results of income distribution and redistribution in Switzerland since the seventies do not in any way indicate that the welfare state has collapsed due to fiscally induced residence choice" Feld, a.a.O. p. 152f). Als Basis dafür gibt Feld die progressive Gestaltung der Bundeskomponente der Einkommensteuer, die Quellensteuer auf Zinseinkünfte, die dem Bund zusteht, und den Teil der gesetzlichen Altersvorsorge an, der durch Umlageprinzip finanziert wird. Dazu komme die für die Schweiz charakteristische Einrichtung der Heimatortzuständigkeit für die kommunale Sozialhilfe.

Die Theorie des Finanzausgleichs hat eine Reihe von gut gesicherten Erkenntnissen über dessen optimale Gestaltung geliefert. Sie betreffen die Definition der für die Autonomie in Frage kommenden Steuerquellen, die starre, flexible (unter Konditionalität festzulegende) Aufteilungsschlüssel für gemeinschaftliche Abgaben, ungebundene oder zweckgebundene Finanzzuweisungen, die Gestaltung von regional differenzierter Hebesätze und nicht zuletzt die Argumente für einen Ausbau der Gebührenfinanzierung und des Gebührenwettbewerbs.

"Decentralization of fiscal authority ... can impinge upon efficiency and equity in the national economy. These adverse effects can be mitigated by appropriate fiscal transfers, both equalizing and conditional, and suitable measures of policy harmonization" fasst R. Boadway (a.a.O, p. 93) zusammen. Daher sei nochmals betont, dass Fiskalautonomie der Entscheidungs- und Durchführungskompetenz entsprechen und dass diese unterschiedlichen Kompetenzebenen ökonomisch und politisch nicht unabhängig voneinander entschieden werden können. Diese Kongruenz und damit die ökonomische Effizienz und die Verantwortlichkeit der einzelnen Ebenen herzustellen, wäre eine grundlegende Herausforderung für die österreichische Bundesstaatsreform.

An den Schluß dieses Kapitels sei eine "Checklist für die Beurteilung der fiskalischen Beziehungen zwischen verschiedenen Ebenen des Staates" (leicht gekürzt gegenüber dem Original von Joumard und Kongsrud. a.a.O., p.158ff) gestellt.  Sie entspricht den Schlüssen, die auch hier aus den Überlegungen über die Aufgabenverteilung gewonnen werden konnten.

 

5.  Checklist für die Beurteilung fiskalischer Relationen zwischen verschiedenen Ebenen des Staates (nach Joumard, Kongsrud, 2003, p. 158-160).

Die Checklist ist ein Fragen-, nicht ein Antwortenkatalog. Sie ist für jeden Staat individuell zu beantworten, der sich Anhaltspunkte darüber verschaffen will, ob seine staatliche Organisation wirtschaftlich zufriedenstellend oder reformbedürftig ist.

 

a.            Zuordnung der Ausgabenverantwortung

Dezentralisierung. Wie sind die Aufgaben- und die Finanzierungsautonomie verschiedener Ebenen verteilt? Sind sie einander systematisch zugeordnet? In welchen Bereichen können sub-nationale Regierungen autonom ihr Leistungsangebot auf die die regionalen oder lokalen Prioritäten zuschneiden? Können in solchen Bereichen die höheren (zentralen) Instanzen qualitäts- und kostenwirksame Standards setzen? Kommt es zu "Aufträgen" an die sub-nationalen Instanzen, die nicht von entsprechender Finanzierung begleitet sind ("unfunded mandates")?

Größe der Gebietskörperschaften. Was wurde bisher unternommen um Skalenerträge auszunutzen und Externalitäten zu internalisieren? Welche Anreize bestehen für die horizontale Zusammenarbeit oder Zusammenlegung auf den unteren Ebenen in bestimmten Aufgabenbereichen? Gibt es für die Kostenzurechnung der Kooperationspartner verläßliche Regeln?

Überlappende Verantwortungen. Gibt es überlappende Ausgabenverpflichtungen in bestimmten Aufgabenbereichen? Welche Vorkehrungen gibt es, Strategien, die Kosten der nächsten (oberen oder unteren) Ebene zuzuschieben, zu verhindern?

Sozialtransfers und Instrumente der Umverteilung. In welchem Ausmaß sind subnationale Regierungen für das Bereitstellen von sozialen Diensten zuständig? Setzen sie selbst die Bedingungen für die Inanspruchnahme? Gibt es Beobachtungen über Sozialmigration innerhalb des Gesamtstaates? Werden regionale oder lokale soziale Dienste für nicht Einheimische gekürzt?

 

b.            Prinzipien der Finanzierung der subnationalen Gebietskörperschaften

Besteuerungsautonomie. Welche Steuerfindungsvollmachen haben die subnationalen Gebietskörperschaften, vor allem in Bezug auf die Definition der Steuerquelle und der Steuersätze? Könnten Besteuerung auf die niedrigere Ebene verlagert werden, ohne die Stabilität der Finanzierung dieser Ebene (weil lokale Steuern stärker volatil sind) und die Effizienz der Einhebung und Kontrolle zu beeinträchtigen?

Gebührenfinanzierung. In welchem Ausmaß besteht Spielraum für eine Ausweitung der Finanzierung durch Gebühren auf individuell zurechenbare staatliche Leistungen?

Steuerwettbewerb. Spielt lokaler oder regionaler Steuerwettbewerb eine Rolle und wurden positive und abträgliche Effekte untersucht und gegeneinander abgewogen?

Zweckgebundene Zuschüsse. Spielen zweckgebundene Zuschüsse an subnationale Gebietskörperschaften eine signifikante Rolle? Wie wird der Anteil des Zentralstaates bestimmt und gibt es einen Ausgleich für Spillovers? Werden die Zuschüsse bemessen nach den ex-post-Kosten oder nach ex-ante-Richtwerten?

Finanzausgleich. In welcher Form findet Finanzausgleich statt unter Einbeziehung der Wirkung der progressiven Steuern, der Sozialbeiträge bzw. Zuschüsse an die Sozialversicherungsträger und regionaler Förderungssysteme? Nach welchen Zielen und an Hand welcher Kriterien wird der Finanzausgleich festgelegt (tatsächliche oder potentielle lokale oder regionale Steuererträge, topographische und Siedlungsgegebenheiten, sozio-demographische Faktoren, sektorale Strukturen, Gemeindegröße) und liegen für diese Kriterien jeweils aktuelle empirische Messungen vor? Unterstützt oder behindert der Finanzausgleich die Entwicklung zurückgebliebener Gebiete?

 

c.            Makroökonomische Politik im dezentralen Staat

Innerstaatliche makroökonomische Konsistenz. Welche Mechanismen sind in Kraft oder sollten noch vorgesehen werden, um die Konsistenz zwischen der Finanzautonomie der Gebietskörperschaften und den makroökonomischen wirtschaftspolitischen Zielen sicherzustellen? Zeigen die subnationalen Haushalte signifikantes Konjunkturverhalten auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite?

Fiskalregeln. Wie wird in den Gebietskörperschaften eine solide Finanzlage sichergestellt? Gibt es Regeln für die Ausgabenausweitung, Defizithöhe und Grenzen der Verschuldung? Wie werden diese überwacht: durch Autoritäten der höheren staatlichen Ebene oder durch Peer-Rating, allenfalls auf kooperativer Basis?

 

d.            Transparenz der Information über die Tätigkeit der staatlichen Ebenen 

Gibt es einheitliche oder zumindest transparente vergleichbare Buchungs- und Berichts-Standards für die Finanzdispositionen, die Ausgaben und die Einnahmen aller staatlichen Ebenen? Liegen diese ex ante oder erst ex post vor? Gibt es ein Forum, in welchem subnationale Gebietskörperschaften ihre Erfahrungen mit Budgetpolitik und –praxis austauschen können? Erschwert die Dezentralisierung die Durchsetzung gesamtstaatlicher Regulierungen und hat sie die Korruptionsneigung erhöht?

 


IV. Staatsaufbau und Wirtschaftsleistung

Die umfangreiche theoretische Diskussion der wirtschaftlichen Wirkungen und Voraussetzungen einer optimalen Staatsarchitektur und die ideologischen Auseinandersetzungen, die dabei regelmäßig eine nicht geringe Rolle spielen, wären abzukürzen, wenn empirische Beobachtungen über die wirtschaftlichen Wirkungen von mehr oder weniger föderativer Autonomie eindeutige Ergebnisse brächten.

Tatsächlich hängen jedoch makroökonomische Entwicklungen nicht nur von der Verfassungskonstruktion, also dem Grad der Dezentralisierung von legislativer Autonomie ab, sondern von vielen anderen Einflüssen. Letztlich auch von Unwägbarkeiten, die sich einer ökonomischen Quantifizierung entziehen. Ist der Staatsaufwand in der Schweiz deshalb geringer als in einigen anderen Ländern, weil die Schweiz eine ausgeprägt föderalistische Verfassung praktiziert, oder weil die handelnden Personen eben Schweizer sind, also der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit einen höheren Wert beimessen als die Angehörigen anderer Länder?

Simultane Einflüsse gehen etwa von folgenden Umständen aus: 

·         Größe und  Einwohnerzahl einer Nation und ihrer Gliedstaaten,

·         Prinzipien der Rechts- und Verfassungsordnung (Gleichheit, demokratische Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit),

·         der schon erreichte wirtschaftliche und technologische Entwicklungsstand,

·         Schwerpunktsetzungen der Wirtschaftspolitik im Spannungsfeld zwischen Effizienz und wirtschaftlichem oder sozialen Ausgleich,

·         Tradition und der Effizienz von Verwaltungsabläufen, Bürokratie und Mentalität,

·         politische Machtverteilung. 

Vergleiche zwischen Staaten in unterschiedlicher Konjunktursituation können eher diesen Umstand als den Einfluss des Staatsaufbaus widerspiegeln. Ein Vergleich zwischen Österreich und den Vereinigten Staaten von Amerika, die beide eine föderalistische Verfassung aufweisen, ist wegen des Größenunterschieds weniger aufschlußreich als ein Vergleich mit Schweden, das zentralistisch organisiert ist.

Mehrere Anlässe haben Zahl und Aktualität von empirischen Nachprüfung des Einflusses des Staatsaufbaus auf die wirtschaftliche Leistung vergrößert: die ehemals kommunistischen Staaten mussten sich eine demokratische und marktwirtschaftliche Verfassung geben, ähnliche Anlässe gab und gibt es auch in der Dritten Welt. Ganz besonders aber haben die Arbeiten an einer Verfassung der Europäischen Union zu einer intensiven ökonomischen Literatur über die optimale Zuordnung von Kompetenzen auf die übereinander gelagerten Ebenen und deren Wirkung auf die Wirtschaft Anlass gegeben.

Von diesen historischen Prozessen abgesehen, sind wachsende Probleme der Staatsfinanzen und die Suche nach Konsolidierung der Budgetentwicklung wohl der wichtigste Anlass für solche, meist international vergleichende empirische Untersuchungen. Wie in Österreich, geriet dabei auch der Effekt des mehr oder minder föderativen Staatsaufbaus ins Visier der Überprüfungen. Er wurde unter Anderem von der OECD im Rahmen der jährlichen Examina der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer gezielt untersucht. Darüber liegt ein umfassender Überblick vor veröffentlicht (Joumard, Kongsrud 2003), dessen Publikation in gekürzter Form im Economic Outlook (2003) offiziellen Charakter bekommt. 

Wer auf die theoretischen Fragen eindeutige Antworten erwartet, wird von den empirischen Ergebnissen enttäuscht. 

Da jeder Staat, unabhängig von seinem Staatsaufbau, viele Besonderheiten aufweist, die sich im wirtschaftlichen Ergebnis niederschlagen, ist der Einfluss des föderativen Aufbaus schwer zu realisieren. Daher ist auch die Zahl  wirklich vergleichbarer Beobachtungen klein und lässt kaum gut gesicherte Schlußfolgerungen zu. Dazu kommt, dass sich föderalistische oder zentralistische Staatsform überwiegend nicht direkt in der Leistung einer Volkswirtschaft niederschlagen, sondern eher als ein indirekter Einfluss aus der Umgebung auf die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik wirken. Die Stabilität und Entscheidungsfähigkeit der Regierung kann – mit erheblichen wirtschaftlichen Folgen – vom Staatsaufbau abhängen und ihrerseits auf das volkswirtschaftliche Ergebnis wirken.

Die Bestätigung der Hypothesen über die wirtschaftlichen Wirkungen föderalistischen Wettbewerbs wird im Großen und Ganzen an Hand folgender makroökonomischer Aspekte gesucht:

·         In einer höheren gesamtwirtschaftlichen Leistung oder in dynamischerem und preisstabileren Wachstum einer Volkswirtschaft.

·         In einem geringeren Staatsanteil, einer niedrigeren Steuerbelastung oder geringeren Staatsverschuldung. Dabei wird oft auch ein Zusammenhang zwischen niedrigerer Steuerbelastung und höherer Wirtschaftsdynamik vermutet. Föderalistischer Wettbewerb wirke so indirekt über niedrigerer Steuern als Leistungsanreiz.

·         In der Gleichmäßigkeit oder Ungleichmäßigkeit der regionalen Wirtschaftsleistung und der persönlichen Einkommensverteilung. 

Die empirische Evidenz der genannten Hypothesen in verschiedenen Untersuchungen liefert zwiespältige Ergebnisse und ist in nahezu allen Fällen ziemlich weich. Es sei vorweggenommen, dass diese Feststellung keine klare empirische Bestätigung der Hypothese wirtschaftlicher Vorzüge eines föderativ aufgebauten Staatswesens erwarten lässt. Diese Zwiespältigkeit der vorliegenden empirischen Ergebnisse ist teilweise auf unzulängliche Analysemodelle zurückzuführen. Vor allem liefern "verkürzte" und zu abstrakten volkswirtschaftliche Modelle, in welchen eine direkte Korrelation zwischen dem Grad an regionaler Autonomie und der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit oder Dynamik gesucht wird, kaum befriedigende Ergebnisse. "There is no formalized theory of the relationship between fiscal decentralisation and economic growth" (Thießen, 2000, p.5). "That could really hamper the construction of valuable models and the delivery of satisfactory results" (Breuss, Eller, 2003, p. 19).

Befürworter des Föderalismus dürfen es sich nicht so einfach machen zu argumentieren, dass etwa das gegenwärtig hohe Wachstum der USA erwartungsgemäß auf die föderalistische Struktur dieses Staates zurückzuführen wäre. Umgekehrt disqualifiziert sich aber auch die populäre Argumentation, Föderalismus verteuere den Staat durch vervielfachte legislative und administrative Apparate und führe so zu verringerter wirtschaftlicher Dynamik. Diese Hypothese kann sich ebenso wenig auf empirische Belege berufen. 

1.  Wirtschaftliche Dynamik

Aus der Geschichte glaubt Weingast (a.a.O., p. 6f) zu entnehmen, dass erhöhte wirtschaftliche Dynamik regelmäßig mit föderalistischem Staatsaufbau oder zumindest mit faktischer dezentraler Autonomie zusammen fielen und folgert daraus, dass diese Form auch ursächlich für wirtschaftlichen Aufschwung war. Vor allem das England des 18. Jahrhunderts nach der Glorious Revolution (1688/89), von welchem die Industrialisierung ihren Ausgang nahm, sei de facto ein föderales System gewesen, obwohl dieser Ausdruck und diese Sichtweise dort selbst nicht vorkamen. Ähnliches gelte für die Vereinigten Staaten von Amerika, für die Niederlande, etwas nach dem Beginn des Industriezeitalters in England, aber auch für das gegenwärtige China, das durch wirtschaftliche Dezentralisierung (Sonderwirtschaftszonen an der Küste) einen historisch einzigartigen Aufstieg erlebe. Dabei geht es Weingast primär um die "market-preserving federal structure", die in erster Linie mit lokaler Regelungsautonomie zusammengebracht wird.

Dies ist freilich nur eine der Vorbedingungen dafür, dass von Föderalismus gesprochen werden kann. Autonome regionale und lokale Regelungen gab es auch im deutschen Staatensystem des frühen 19. Jahrhunderts, zahllose, und gerade darauf wird von der entgegengesetzten Hypothese das Zurückbleiben Deutschlands in dieser Phase hinter England zurückgeführt.

Weingasts Hypothese sieht auch von den ebenso entscheidenden außenwirtschaftlichen Verhältnissen ab. Damit muss ein stimulierender Einfluss regionaler Autonomie nicht geleugnet werden. Auch wenn man der historischen Korrelation Weingasts zu folgen bereit ist, muss man aber doch bei der Anwendung auf die Jetztzeit mit ihren in vieler Hinsicht veränderten Verhältnissen Vorsicht walten lassen.

Die moderne Theorie des Wirtschaftswachstums, welche den technischen und organisatorischen Fortschritt endogenisiert, führt nirgends den Grad des Föderalismus als erklärende Variable ein. Das könnte eher ein Mangel der Wachstumstheorie als einer des Föderalismus sein. "Growth has only a secondary relationship to decentralisation and the nature of this connection – growth-enhancing, growth-impeding, or growth-requiring – depends on what one sees as the primary effects of decentralisation. These primary effects, in turn, have much to do with the specific design of decentralisation policy" (Breuss, Eller, a.a.O.).

"The few empirical studies, which have directly examined the relationship between decentralization and growth, come up with ambiguous results", fahren Breuss und Eller resümierend fort (a.a.O., p.20). Dem ist zuzustimmen. Allerdings ist auch beim Vergleich empirischer Untersuchungen zu beachten, dass der Begriff 'decentralization' Staatsordnungen mit umfassen kann, die dem Begriff des "Föderalismus" nur teilweise entsprechen. Wegen der fundamental andersartigen Entwicklungsbedingungen ist auch der internationale Vergleich von Ländern auf sehr unterschiedlichem wirtschaftlichen Niveau, etwa in Davoodi und Zou (1998), wenig überzeugend.

Empirische Überprüfungen der dynamischen Wirkungen des Wettbewerbsföderalismus aus dem Vergleich von Staaten auf hoher Entwicklungsstufe (Westeuropa, Nordamerika, Australien) sind nicht sehr zahlreich. Die bisher vorliegenden verwendeten kaum angemessene Modell- und Analysestrukturen und ihre Ergebnisse waren überdies kaum sehr eindeutig. "Theoretical debate on linkages between decentralization and economic outcomes has only borne limited empirical fruit." (F.G.Castles, 2000, p. 178).

Lancaster, Hicks (2000) poolten die Zeitreihen von Ländern, die auf Grund ihrer formalen Verfassung, als föderalistisch (Australien, Österreich, Kanada, Deutschland, Schweiz und die USA) oder zentralistisch (die restlichen 12 OECD-Länder) anzusehen sind und berechneten den Einfluss dieses Umstands auf abhängige makroökonomische Variable wie Wirtschaftswachstum, Investitionen, Arbeitslosigkeit und Inflation. Zur Isolation von anderen Einflüssen wurden für diese Dummies in die Schätzung der Gleichungen eingesetzt. Es wurden fünf mittelfristige Zeiträume seit 1960 (bis 1994) so abgegrenzt, wodurch eine größere Zahl von Beobachtungen entstand und konjunkturelle Einflüsse möglichst ausgeschaltet werden konnten.

"Does federalism matter in the area of economic performance? We found that federalism does appear to have an influence on some fundamental areas of macro-economic performance such as income transfers and social wage. .... Variation in unitary-federal arrangements thus helps provide an explanation of social transfers, investment and economic growth." (Lancaster, Hicks, a.a.O. p. 238.) Die Autoren verweisen darauf, dass diese Ergebnisse gesicherter sind, wenn als zusätzliche erklärende Variable der Grad der korporatistischen Entscheidungsfindung eingeführt wird. Die beiden Einflüsse wirken in der gleichen Richtung und machen die Schätzungen "statistisch signifikant". Die empirische Evidenz, die Lancaster, Hicks vorfanden, ist aber in ihrer eigenen Interpretation nicht sonderlich hart.

Gegen ihre Modellannahmen könnte man auch vorbringen, dass gerade einer korporatistischen Wirtschaftspolitik die Beschränkung von Wettbewerb als Wachstumskraft unterstellt wird, dem Föderalismus hingegen die Stärkung von Wettbewerb. Auch, wer von der wirtschaftlichen Vorzügen einer föderalistischen Verfassung überzeugt ist, wird kaum argumentieren, dass der positive Einfluss auf direktem Wege die makroökonomische performance verbessert.

Castlles' Methode (2000), erscheint im Vergleich wesentlich eher vertrauenserweckend. Er stellt zunächst zwei einander widersprechende Wirkungshypothesen des Föderalismus vor: "one is a set of propositions emanating from public choice theory, which suggest, that, in order to contain the supposedly revenue-maximizing proclivities of national govenments, it is necessary that there be restraints on the capacity of the central state to take certain kinds of policy initiative." ( a.a.O., p. 177), also die Brennan-Buchanan-Argumentation, dass dezentrale Autonomie zu höheren Wachstumsraten, effizienterem Faktoreinsatz und geringerer Inflation führen.

Die andere nimmt im Gegensatz dazu an, dass die Kapazität der Zentralregierung, Nachfragemanagement (im keynesianischen Sinn) zu betreiben, darüber entscheidet, ob die Wachstumsraten hoch gehalten und Rezessionen vermieden werden können. Diese Position wäre nicht überrascht, wenn dies mit einer höheren Inflationsrate verbunden wäre. Sie wurde etwa von F. Scharpf (1991) vehement vertreten. "If the key to economic growth and full employment is central control of a large decentralized budget, then it will be federal states ... which are likely to perform least well." (Castles, a.a.O., p. 178). Castles' empirische Analyse weist die Hypothese Scharpfs zurück: ".. it would seem to suggest that decentralization was unlikely to be prominent in the list of the reasons  why Keynesian policy intervention has failed to rein in the growth of unemployment since the mid-1970s." (a.a.O., p. 193).

Castles' Überprüfung der beiden Hypothesen erhält ihr Gewicht durch die sorgfältige Definition des Grades an dezentraler Autonomie in den verglichenen Staaten Nationen an Hand einer Reihe von Indikatoren. Die formelle Verfassung, ob föderalistisch oder nicht, entscheidet nicht allein, sondern die Wirklichkeit der Politik gemessen an fünf Indikatoren, unter denen die föderative Verfassungsarchitektur nur einer ist. Zunächst gelangt Castles' zu einem dramatisch klaren Ergebnis: erklärt man die Wirtschaftsentwicklung der OECD-Staaten über einen langen Zeitraum – die Nachkriegsepoche bis in die frühen neunziger Jahre – so findet er "that fiscal centralization is significantly associated with a weaker record of post-war economic growth and with poorer inflation outcomes." (a.a.O., p. 193).

Das bestätigt  zwar die Hypothese des Wettbewerbsföderalismus, ist aber insoferne überraschend, als jene zwei der OECD-Staaten im Vergleich, die die ausgeprägteste föderalistische Verfassung aufweisen, nämlich die Schweiz und die USA, im Beobachtungszeitraum weit unterdurchschnittliches Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatten. Die Beobachtung der anderen 19 Staaten bringt dennoch das erwartete Ergebnis zustande, das damit aber weniger gut abgesichert ist. Castles begründet das mit dem hohen Ausgangsniveau dieser beiden Volkswirtschaften nach dem Krieg. Das ist plausibel, bestätigt jedoch, dass die spezifische wirtschaftliche Situation eines Landes neben allfälligen ökonomischen Konsequenzen der Staatsform einen gravierenden Einfluss hat.

Castles' ist so seriös (was nicht für alle empirischen Analysen gilt, es sich mit diesem Ergebnis nicht leicht zu machen und vor voreiligen politischen Schlüssen zu warnen. "But, the relevance for present-day policy-makers of our various findings will depend on whether the story told by reading the entrails of long-term outcomes is picking up on comtemporary effects or on ones long since dead and buried. So why a study of long-term aggregates, if long-term aggregates offer us little relevant in the way of immediate policy implications?"

Der wichtigste Nutzen eines solchen Ergebnisses sei, weitere und eingehendere Forschung zu stimulieren. (a.a.O. 193.)

 

2.  Umfang der Staatstätigkeit
(does federalism matter?)

Von der Antwort auf die Frage nach Zusammenhängen zwischen dem Grad staatlicher Aktivität in einer Volkswirtschaft und dem föderativen Aufbau des Staates wäre eher als von der Messung des Einflusses auf makroökonomischen Ziele der Wirtschaftspolitik ein klarer Zusammenhang zu erwarten. Die Ausgangshypothesen sind aber auch hier widersprüchlich:

·         Auf der einen Seite steht das Argument, dass Föderalismus unmittelbar zu einer Aufblähung (Vervielfachung) staatlicher Apparate und weiters zu Doppelgeleisigkeiten, Koordinations- und Abstimmungproblemen und zu schwer bewältigbaren externen Effekten führen könnte,

·         auf der anderen Seite stehen die Annahmen des Fiskalföderalismus, wonach dezentrale Autonomie, insbesondere wenn sie sich auf autonom wahrgenommene Steuerhoheit erstreckt, das Ausufern des Staates durch Systemwettbewerb hintanhalte, die Steuerbelastung senke und staatliche Aktivitäten stärker auf die Beldürfnisse der Bürger zuschneide.

Man möchte hoffen, dass genau diese Auseinandersetzung durch empirische Analyse und internationale Vergleiche entschieden werden kann. Leider sind die vorliegenden Untersuchungen auch in diesem Punkt nicht eindeutig. Wieder geht es darum, welche föderalen Systeme als vergleichbar angesehen werden, welche Indikatoren für mehr oder weniger Föderalismus gewählt werden, in welcher Phase seiner Entwicklung und in welcher internationalen Umgebung sich ein Land befindet.

Dazu kommt, dass in einzelnen Verfassungen eigentliche Schranken für die Staatstätigkeit institutionell eingebaut sind, etwa das Neuverschuldungslimit (bis zur Höhe der staatlichen Investitionen) in Art. 115 (1) des deutschen GG. Andere beschränken die Finanzautonomie des Bundes und/oder der Gliedstaaten durch verbindliche Ausgabenlimits oder durch Beschränkungen der Kapitalmarktfinanzierung. Sollte daher im internationalen Vergleich ein föderativ aufgebauter Staat eine besonders niedrige Staatsquote (am BIP) aufweisen, so könnte das auch auf institutionelle Schranken (Kirchgässner, 2001, p.3f) zurückgehen und nicht notwendiger Weise auf Systemwettbewerb.

Kirchgässner, ein überzeugter Verfechter des föderalistischen Prinzips, gelangt zu ähnlich wenig tragfähigen Schlussfolgerungen, wie die Arbeiten über Zusammenhänge mit makroökonomischen Leistungsdaten einer Volkswirtschaft,  und resümiert (Kirchgässner, 2002a, p. 86): "Nimmt man die gesamte, derzeit zur Frage nach dem Einfluss des fiskalischen Föderalismus auf den Staatsanteil verfügbare empirische Evidenz zusammen, kann man den Schluß ziehen, dass es gewisse Evidenz dafür gibt, dass fiskalischer Föderalismus – ceteris paribus – zu einem geringeren Staatsanteil führt. Aber diese Evidenz ist bei weitem nicht überzeugend. Es spricht andererseits empirisch kaum etwas dafür, dass ein positiver Einfluss besteht."

Kirchgässner betont, dass föderative Steuerautonomie nicht hinreichende Bedingung für ein Zurückdrängen des Leviathan Staat ist, sondern dass dies nur erwartet werden kann, wenn Föderalismus mit direkter Demokratie wie in der Schweiz einhergeht. Die Dikussion darüber würde zu weit führen. Aus Sicht der politischen Ökonomie könnte man dagegen einwenden, dass direkte Demokratie sehr leicht eine Schlagseite zur ineffizienten Unterausstattung öffentlicher Aufgaben bekommen kann, unter anderem, weil in einem Referendum die Zahl der Steuerzahler in aller Regel größer sein wird als die Zahl der durch ein öffentliches Vorhaben direkt Begünstigten.

Ähnlich skeptisch die Zusammenfassung Wachendorfer-Schmidts (2000, p. 4) zur Frage: "Does federalism matter? Is there a difference between federal and non-federal states in policy-making and political performance, and if so, to what extent does federalism make a difference?" Antwort: "There is considerable evidence that there are different policy outcomes worth nothing". Sie geht dann darauf ein, dass nicht jede föderalistische Verfassung, die sich dieses Attribut zuschreibt, und nicht jede zentralistische Struktur staatlicher Institutionen unterschiedliche Ergebnisse erwarten lassen. "Although it is a common claim in federalist studies that federal systems differ significantly from each other, comparative analyses of political institutions have raised doubt as to whether federalism exists at all, given that on the one hand formally federal constitutions coexist with centralized structure of decision-making and tax-raising, while on the other hand there are states that are both unitary and decentralized. These mixed types seem to blur the differences between federal and unitary state organizations. It is therefore important to define federalism before going on to inquire about the potential effects of different models of federalism on public policy." (a.a.O. p. 4f.)

Wirtschaftspolitik und Verfassungsreform können sich mit den widersprüchlichen Thesen der Theorie und den agnostischen Ergebnissen der Empirie nicht zufrieden geben. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass die tatsächlichen Wirkungen dezentraler Autonomie aus einem viel komplexeren System von politologischen, soziologischen, ökonomischen und anderen Interaktionen entspringen können. Einfache ökonomische Wachstumsmodelle genügen für eine klare Antwort ebenso wenig, wie die oft von ideologischen Grundannahmen bestimmten Aussagen der Theorie.

Es gibt eben in der Realität wirtschaftlich effizient strukturierte Staaten mit weitgehender zentraler Kompetenz und es gibt ebenso wirtschaftlich effiziente Staaten mit ausgeprägt föderativer Verfassungsstruktur.

Daher ist vor Reformüberlegungen zu warnen, die auf lupenreine fiskalische Autonomie und die Konnexität zwischen Gesetzesanliegen, Durchführung und Finanzierung abzielen. Wir neigen eher zur Ansicht von Joumard und Kongsrud (2003) oder von J. Adolf (2000) vertreten wird, dass es mehr um die Reorganisation der Entscheidungsverfahren geht als um die abstrakte Konstruktion von optimalen Modellen der public choice. Diese Ansicht teilen in der deutschen Diskussion über Föderalismus auch eher die Praktiker der Finanzpolitik, z.B. I. Deubel (1999, S. 70) oder K. Lichtblau (1999, S. 111), in  auffallendem Gegensatz zur Konsensmeinung der meisten Finanztheoretiker (im gleichen Band etwa vertreten durch C.B.Blankart (1999, S.145ff), van Suntum (1999, S.13ff) oder überwiegend auch B. Huber, (1999, S. 55).

Ideal und Wirklichkeit des Föderalismus können auseinander klaffen. An sich viel versprechende Erwartungen über positive wirtschaftliche Einflüsse eines föderativen Modells können durch institutionelle Konstruktionsfehler in der Verfassung, im Steuer- und Finanzausgleichssystem weitgehend aufgeschaltet werden. "Für ein stringentes Wettbewerbsmodell fehlen in Deutschland praktisch alle Voraussetzungen". (Deubel, a.a.O., S. 70). Ohne große Bedenken kann diesem Befund für Österreich zugestimmt werden.

Der Bedarf an verbesserter Erkenntnis über die tatsächlichen Zusammenhänge und ihre Gestaltbarkeit hat jüngst zu der schon zitierten Durchforstung und Querschnittsanalyse empirischer Erfahrungen in den 30 Mitgliedsstaaten der OECD geführt. Auf diese Arbeit stützen sich auch empirische Nachweise zu der hier vorgelegten Studie, die in einem statistischen Anhang wiedergegeben sind. Die Arbeit in der OECD zeichnet sich durch Pragmatismus in Bezug auf die tatsächlichen institutionellen und politischen Gegebenheiten aus. Sie idealisiert nicht die Ziele der einen oder anderen Auffassung, sondern schätzt nüchtern die in der Wirklichkeit zu beobachtenden Vorzüge und Probleme ab.

Insgesamt kommen Joumard und Kongsrud jedenfalls zu einem Ergebnis, das die geradlinige Argumentation der Tradition des fiscal federalism nicht bestätigt. In der Wirklichkeit gehe es nicht in erster Linie um Fragen des Prinzips, sondern um die adäquate Gestaltung der institutionellen Regeln, etwa für die Steuerhoheit, den Finanzausgleich und für die Abstimmung divergierender öffentlicher Interessen. Man kann diesen Schluss als technokratisch abtun. Er lässt aber unter der Annahme einer sorgfältigen und unvoreingenommen bedachten Gestaltung der Kompetenzen unter anderem nach den erörterten ökonomischen Gesichtspunkten tatsächlich bessere Ergebnisse föderativer Systeme erwarten.

3.  Einkommendisparitäten

Der Großteil der Theorie des Fiskalföderalismus konzentriert sich auf Einbußen an allokativer Effizienz, die ein zentralistisches Entscheidungssystem unter den gewählten Annahmen haben kann. Verteilungsaspekte bleiben vergleichsweise unterbelichtet. Allenfalls wird angenommen, dass sich die regionale Wirtschaftskraft bei Fiskalwettbewerb polarisieren könnte. In wirtschaftlich schwächeren Regionen werden mehr Sozialleistungen benötigt, deren Finanzierung ihrerseits wieder die regionale Steuerbelasstung hinauftreibt. Hier ist natürlich nicht auf das regionale Einkommensergebnis nach Umverteilung von Finanzkraft durch irgeneine Form des Finanzausgleichs zu achten, sondern auf die Entwicklung der primären Einkommensverteilung (bleibt die Wertschöpfung schwächerer Regionen relativ zurück?) oder die Entwicklung der effektiven Steuerbelastung (steigt diese in wirtschaftlich schwächeren Regionen im Vergleich zu reicheren?). Die regionale Streuung der persönlichen Einkommen hingegen wird vom Ausmaß der horizontalen und vertikalen Umverteilung durch Finanzausgleich mitbeeinflusst.

Empirische Evidenz über die Auswirkungen eines ausgeprägten Fiskalföderalismus liegt hauptsächlich aus der Schweiz und den USA vor. Namentlich Bruno S.Frey und dann Lars P. Feld (2000, 2002) haben sich um die analytische Auswertung der Schweizer Erfahrungen verdient gemacht. Die Untersuchungen kommen zum Ergebnis, dass der Steuerwettbewerb auf kantonaler Ebene zwar signifikante Allokationswirkungen mit sich gebracht hätte, dass aber die Hypothese vom finanziellen "Ausbluten" der schwächeren Kantone (race-to-the-bottom) verworfen werden kann, weil der Finanzausgleich entgegenwirke. Dessen Einrichtung auf Bundesebene  sei freilich notwendige Voraussetzung, weil der notwendige Umverteilungseffekt auf kantonaler Ebene nicht befriedigend erreichbar wäre.

Empirische Studien zum Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Ausgangsniveau (starke oder schwächere Region) und der relativen Wirtschaftsentwicklung seither liegen interessanter Weise nicht vor (Feld, 2002, S. 170). Feld vermutet jedoch aus einer einfachen Inspektion der Daten, dass "eine deutlich negative Beziehung zwischen den Wachstumsraten und dem Ausgangsniveau des Bruttoinlandsprodukts besteht", soferne man die drei Kantone mit städtischer Agglomeration Zürich, Basel Stadt und Zug aus der Korrelation ausklammert. Ob es freilich gerechtfertigt ist, gerade jene Kantone unberücksichtigt zu lassen, die den Steuerwettbewerb am aggressivsten betreiben können, weil weder ihr Sozial- noch ihr Infrastrukturaufwand so teuer sind wie in peripheren Landesteilen, kann bezweifelt werden.

Kritik an den bisher beruhigenden Auskünften der empirischen Untersuchungen zu den regionalen Wirkungen des Steuerwettbewerbs wurde unlängst von der Schweizerischen Studiengesellschaft für Raumordnung und Regionalpolitik (Rorep) vorgebracht (2003). Die Autoren dieser Studie kommen zum Ergebnis, dass das heute in der Schweiz etablierte System des interkantonalen Steuerwettbewerbs Schwächen und Defizite aufweise, die zu grossräumigen Verwerfungen und tendenziell zu einer Gefährdung der räumlichen Kohäsion der Schweiz führten. So wird aufgezeigt, dass zwar in der Periode 1930 – 1970 die interkantonalen Unterschiede in der Steuerbelastung auf Einkommen natürlicher Personen merklich abgenommen haben. Aber seit 1970 verlaufe die Entwicklung wieder in der Gegenrichtung, wobei sich vor allem das West-Ost-Gefälle akzentuiert habe. Es sei erstaunlich, dass ein auf den feststellbaren regionalen Disparitäten beruhende Unmut bisher keine grösseren politischen Reformaktivitäten nach sich gezogen habe.

Der Neue Finanzausgleich (NFA, siehe R.L.Frey, C.A.Schaltegger, 2001), den die Schweiz 2002 eingeführt hat, sei zwar notwendig, jedoch nicht hinreichend, um das Belastungsgefälle auf ein "erträgliches Mass " zu reduzieren. Die Fronten in dieser Frage verlaufen zwischen den politischen Parteien. Während sich die Sozialdemokratische Partei für einen Ausbau des Finanzausgleichs stark macht, reagieren bürgerliche Stimmen mit der Warnung, nicht mit "einem fiskalischen Einheitsbrei zu flirten".(NZZ, 3.12.03).

 

4.  Tendenz zur Dezentralisierung

Die erwähnte OECD-Studie (Joumard, Kongsrud, 2003) geht unter anderem auf einen seit längerem zu beobachtenden Trend zur Dezentralisierung der Staatsaktivitäten ein. "On the basis of aggregate revenue and spending data, sub-national spending and revenues display contrasting trends. The sub-national government share of public spending has increased in a majority of countries. However, central governments have increasingly countered this tendency by imposing norms and minimum quality standards on the public goods provided locally. And on the revenue side, the sub-national government share in general government revenues (excluding grants) has failed to follow pace with developments on the spending side and declined in several OECD countries" (a.a.O, p.157, 160).

Auch nach eigenen Berechnungen des Verfassers ist der Anteil des gesamten Staatsaufwandes, welchen die zentrale staatliche Ebene bestreitet, seit den sechziger Jahren in der Mehrzahl der Staaten Westeuropas laufend kleiner geworden. Mitte der sechziger Jahre bestritt die zentrale staatliche Ebene im Durchschnitt der heutigen EU-Staaten noch rund 56 Prozent der öffentlichen Mittel für laufenden Personal- und Sachaufwand sowie Investitionen. Im Jahr 2000 erreichte ihr Anteil nur mehr 35 Prozent. Die regionalen und kommunalen Gebietseinheiten haben ihren Ausgabenanteil entprechend ausgeweitet.

Diese empirische Beobachtung ist hängt unter anderem von der Definition des Staatsaufwands ab. Im Prinzip müsste dieser den gesamten Aufwand für laufende Kosten von Personal und Betrieb, für eigene Investitionen, für Subventionen, für Zinsen und für Transfers, sowohl an andere Gebietskörperschaften wie auch an andere Sektoren (Private Haushalte, Unternehmen, Ausland) umfassen. Da bei der Addition von Finanzzuweisungen zwischen Gebietskörperschaften Doppelzählungen auftreten würden, müssen diese bei gesamtstaatlicher Betrachtung ausgeklammert werden. (Die Verbuchung der Transferströme ist im internationalen Vergleich  mit großen statistischen Fehlern behaftet oder kann nicht lückenlos verfolgt werden).

Eine wichtige Beobachtung ist, dass der Aufwand des Zentralstaates für selbst erbrachte öffentliche Dienste, also Personalaufwand, Sachkosten und Investitionen, deutlich rascher abgenommen hat, als sein Aufwand zur Förderung oder Kofinanzierung von Leistungen, die von anderen Sektoren erbracht werden, plus seinem Aufwand für sozialpalpolitisch motivierte Transfers. Aber selbst unter Einbeziehung dieser wichtigen Ausgabenkategorien  ist der zentralstaatliche Anteil laufend rückläufig.

Eine zweite Feststellung aus österreichischer Sicht: diese europäische Dezentralisierungstendenz verlief in Österreich signifikant weniger schnell als in nahezu allen anderen Staaten Europas, ausgenommen Großbritannien, wo sich die Autonomie Schottlands noch nicht signifikant in den Budgetdaten niederschlägt.


Anteil der zentralen Ebene an den Ausgaben des Gesamtstaats

in Prozent

 

 

für laufende Personal-,

 Sach- und Investitionskosten

für den gesamten Aufwand einschl. Transfers, ohne Zuweisungen an andere Gebietskörperschaften

 

 

 

 

 

 

EU

Österreich

EU

Österreich

 

 

 

 

 

1965

55,9

47,5

-

-

1970

52,9

46,2

-

-

1975

49,4

37,5

38,6

-

1980

46,0

33,6

36,5

-

1985

44,3

38,9

36,5

-

1990

39,2

35,5

-

48,4

1995

36,5

37,2

33,9

-

2000

34,8

36,5

-

47,8

Quelle: eigene Berechnungen auf Basis OECD National Accounts, Detailed Tables, versch. Jg.

 

Dieser Trend geht auf drei gleichgerichtete Entwicklungstendenzen zurück:

Erstens, auf die "Föderalisierung" bisher zentralstaatlicher Verfassungsordnungen. In den letzten Jahren gilt das für Belgien, Großbritannien und Spanien.

Zweitens, auf die Zuweisung von bisher zentral wahrgenommenen Kompetenzen und auch von Steuerautonomie auf bestehende dezentrale Ebenen, deren Kompetenzen  früher eingeschränkter waren: etwa in Frankreich und in Italien, auch in Kanada und Mexiko.

Drittens, auf die rascher wachsende Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen, die von dezentralen Institutionen wahrgenommen werden, dies auch in Staaten, die keine ausgesprochene föderalistische Verfassungsstruktur aufweisen. Haupttriebfedern dieser Entwicklung waren die Aufgabenbereiche Gesundheit und Unterricht. Das relative Zurückbleiben zentralsstaatlicher Aufgabenbesorgung (auf der Ausgabenseite) hat auch mit dem seit den neunziger Jahren gebremsten Anstieg der Sozialleistungen und dem relativen Rückgang der Verteidigungsaufwendungen zu tun.

Der Anteil der subnationalen Körperschaften an den Staatseinnahmen hingegen ist überwiegend nicht gestiegen. Die OECD-Studie unterscheidet in der Realität ihrer nun 30 Mitgliedsstaaten nicht in föderalistisch oder zentralistisch auf Grund des verfassungsgemäßen Staatsaufbaus, sondern sie orientiert sich ähnlich wie die Studie Castells an einem Spektrum von Übergangsformen zwischen den Idealtypen. Es gibt föderalistisch konstituierte Staaten, die den Teilstaaten und auch den lokalen Gebietskörperschaften prinzipiell eine weitgehende Steuerautonomie einräumen, die jedoch nur in sehr geringem Umfang tatsächlich in Anspruch genommen wird (etwa Deutschland, Frankreich, Belgien, Mexiko, Spanien, Norwegen).

Österreich zählt zur Gruppe jener Staaten, wo die faktische Autonomie der Steuerfindung auf den unteren Ebenen am geringsten ist. Unter den OECD-Staaten ist die dezentrale Steuerautonomie nur in Portugal, der Tschechischen Republik, Ungarn, Norwegen und Mexiko geringer. Dieser Indikator korreliert mit dem formalen Staatsaufbau beinahe gar nicht, denn die Spitze der subzentralen Steuerautonomie nimmt überraschender Weise nicht die Schweiz ein, die in Europa erst an dritter Stelle nach Schweden und Dänemark liegt. Überdurchschnittliche Steuerautonomie im europäischen Vergleich nehmen auch die subzentralen (kommunalen) Gebietskörperschaften in Finnland, Belgien und Island wahr.

Umgekehrt gibt es formell unitarische Staaten, bei denen ein großer Teil der Staatsaufgaben auf der unteren, meist kommunalen Ebene erbracht wird und für diese, soferne sie individuell den Benützern zurechenbar sind, auch oft kostendeckende Gebühren eingehoben werden. Diese Form herrscht etwa in Skandinavien und in den Niederlanden vor. Dort gibt es zwar keine oder eine kaum mit Autonomie ausgestattete Ebene zwischen dem Zentralstaat und den kommunalen Einheiten (Provinzen in den Niederlanden), jedenfalls nicht mit Gesetzgebungskompetenz, aber der Grad der Dezentralisierung staatlicher Aufgabenerfüllung ist ausserordentlich hoch.

Unterschieden wird weiters zwischen Staaten mit regionaler oder kommunaler Autonomie und nach dem Grad der Beschränkung dieser Autonomie durch Vorgaben der zentralen oder Bundesgesetzgebung. Das skandinavische Modell hält an der ausschließlichen Grundsatz- oder Richtlinienkompetenz des Zentralstaats ("des Reichs") fest, gibt aber in der Ausführung den unteren Ebene (Gemeinden, Gemeindeverbände) viel Spielraum und Mitentscheidung in der Ausführung durch kommunale Ratsversammlungen.

Sehr wichtig ist, dass in einer Reihe von Staaten die gesetzlichen Qualitätsstandards öffentlicher Leistungen vom zentralen Gesetzgeber beschlossen werden, die unteren Gebietskörperschaften jedoch die Kompetenz für die Erbringung dieser Leistungen und die Diensthoheit über das Personal besitzen. Dies erfordert in aller Regel eine Berücksichtigung im vertikalen Finanzausgleich. "The effective power of sub-national governments to manage the programmes under their responsibility is often quite limited, with the central government increasingly engaged in setting standards and/or micromanaging sub-national government implementation of various sector policies." (a.a.O. p. 165). In diesem Zusammenhang werden Österreich, Dänemark, Deutschland, Norwegen als Beispiele genannt. "The education sector provides an illustration. Sub-national governments are responsible for providing non-tertiary education in an increasing number of countries. However, in many cases the central government sets the curriculum, trains teachers and/or sets wages (Italy, Mexico, Norway).

Die faktische Dezentralisierungstendenz seit den achtziger Jahren, welche in krassem Gegensatz zur älteren Hypothese von der automatischen Zentralisierung (im Gefolge von Popitz' 'Naturgesetz') und zu manchen populären Vorurteilen steht, ist das Ergebnis von Tendenzen, die sich zwar gegenläufig entwickelten, aber dennoch überwiegend in Richtung Dezentralisierung der Aufgabenerfüllung wirkten.

Die Internationalisierung und Globalisierung hat zentralisierende Wirkung gehabt (a.a.O. p. 169 f). Dies ist vor allem das Ergebnis der epochalen Marktöffnung von Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und auch Arbeitsmärkten, die jedenfalls nach einheitlichen oder reziprok angewendeten Regeln der Liberalisierung verlangten.

Ein weiterer Faktor, der Koordination zumindest auf nationalem, im Rahmen der EU sogar überwiegend auf europäischem Niveau erfordert, sind die höhere Ambitionen bei der Verfolgung makroökonomischer Ziele der Wirtschaftspolitik (Main Economic Policy Guidelines (Art.98 und 99 EGV). Die Koordination bezieht sich in erster Linie auf die Abstimmung der nationalen Budgetpolitik angesichts der zentralisierten Währungspolitik, greift jedoch auch auf die Prinzipien der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik aus.

Trotz des Drucks, regionale und kommunale Regulierungen von Märkten zugunsten der Öffnung zur Weltwirtschaftsordnung oder zum europäischen Binnenmarkt aufzugeben, sind die regionalen Disparitäten sehr ausgeprägt geblieben. Innerhalb Europas lässt sich das daran ablesen, dass der unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsstand innerhalb der EU auf nationaler Ebene signifikant konvergiert ist, sich aber auf der regionalen Ebene eher noch vergrößert hat. Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte, solche, die eine gewisse "kritische Masse" – deren Größenordnung jeweils auch von den anderen Determinanten abhängt - nicht erreichen, geographisch isoliert oder peripher gelegen sind oder in denen sich keine dynamischen politischen und kulturellen Kräfte durchsetzen können, bleiben weiter zurück. Regionen, die von sich aus aktive Entwicklungsstrategien betreiben und sich als Partner und Standort für internationale Wirtschaftsbeziehungen und für Innovationen anbieten, schließen zu den großen Agglomerationen auf. Dies weist auf die Zweckmäßigkeit regionaler Strategien und auf das Potential der Bündelung regionaler Initiativen hin.

Die verstärkten regionalen Disparitäten haben andererseits eine stärkere Rolle zentraler Regelungen beim Ausgleich unterschiedlicher Lebens- und Sozialbedingungen mit sich gebracht.

Ein weiterer historischer Faktor zugunsten der regionalen Selbstbestimmung rührt von gesellschaftlichen und politischen Tendenzen her. "Against a background where wider international considerations and bodies are increasingly shaping local economic conditions, the awareness of regional, local and civic identities has tended to grow, providing a momentum towards decentralization .... Empowering sub-national governments with more responsibilities, by bringing government closer to the people, is seen as strengthening the local democratic process following a period when civic involvement in decision-making tended to weaken or even declining." (Joumard, Kongsrud, 2003, p. 170). Dabei kommt zum Ausdruck, dass Übereinstimmung von Wertvorstellungen und das Bewußtsein von Identität wirtschaftlich relevante Kategorien werden( S.  98).

Schließlich ist es andererseits eine Tatsache, dass auch die Mobilität der Menschen über die Grenzen von Jurisdiktionen stark zugenommen hat. Dies bedeutet, dass Spill-over-Probleme zunehmen und nach Koordinierungseinrichtungen rufen. Föderalistische Konkurrenz und ihre vorteilhaften Impulse können nicht auf der Linie unbeschränkten Wettbewerbs, vor allem auch steuerlichen Wettbewerbs, gesucht werden, da dies angesichts der wachsenden Externalitäten riskante Prozesse auslösen kann. Er muss durch ein paktiertes System der Koordinierung von regionaler Autonomie geordnet werden. Der These, dass damit "regionaler Einheitsbrei" angerichtet werde und der Wettbewerb seiner eigentlichen Vorzüge beraubt werde, ist entgegenzutreten. Wettbewerb braucht, um seine optimalen Wirkungen zu entfalten und um sich nicht selbst schrittweise auszuschalten, allgemein anerkannte und durchsetzbare Wettbewerbsregeln (Joumard, Kongsrud, a.a.O. p. 171).


V.  Neuere Gesichtspunkte der Ökonomie zum Staatsaufbau

Ist das Resümé aus den Beiträgen der Ökonomie zum Verfassungsbau eines Staates wirklich so widersprüchlich und daher für die politische Aufgabe so wenig hilfreich, wie die anhaltenden Auseinandersetzungen theoretischer und ideologischer Natur suggerieren? Haben auch die empirischen Beobachtungen keine festere Entscheidungsgrundlage gebracht? Muss der Ökonom Reformer und Konvente auf die politische Einschätzung von föderativen oder unitarischen Architekturen weiterverweisen? Verbitten sich die Verfassungsjuristen  ganz zu Recht die Einmischung der Ökonomie in ihr "Geschäft" und warnen vor der Ökonomisierung der Verfassung?

Tatsächlich ist unbestritten, dass die Ökonomie, wenn sie nicht aus ideologischen Gründen überschätzt wird,  die entscheidenden Kriterien für Verfassungsreformen nicht allein  formulieren kann. Das Zusammenspiel und die Kontrolle der  verfassungsgemäßen Kräfteverteilung und die Festlegung der Entscheidungsmechanismen sind für die Verlässlichkeit der Aufgabenerfüllung eines Staates, seine Stabilität und für seine Reformfähigkeit vorrangig und daher auch für die wirtschaftliche Gesamtsituation entscheidend. Sie werden am besten von der Verfassungs- und Verwaltungswissenschaft zusammen mit der Politik- und der Wirtschaftswissenschaft entworfen.

Sie sollten, so viel kann die Ökonomie in der Tat leisten, an den Kriterien der politischen Ökonomie gemessen und allenfalls nachjustiert werden. Aus wirtschaftlicher Sicht ist dabei das Augenmerk vor allem auf die Frage der dynamischen Anpassung der Rahmenbedingungen zu richten, ohne welche die Wirtschaft ihr Potential nicht voll nützen kann. Eines der Kriterien aus wirtschaftlicher Sicht ist daher die nach den in der Verfassung eingebauten Mechanismen für Reformen, welche die Verfassung gleichzeitig verläßlich und berechenbar und dennoch auch anpassungsfähig machen. Reformstau ist ein politisches Phänomen, welches die Entwicklung der Wirtschaft verkümmern lässt.

Es hieße den Beitrag der Ökonomie krass unterschätzen, wenn man schließt, hier stünden abstrakte Modelle des (fiskalischen) Wettbewerbs staatlicher Einheiten und Modelle der Effizienz zentraler Entscheidungen unversöhnlich und unüberbrückbar einander gegenüber.

Diesem Schluss kann mit guten Argumenten entgegengetreten werden. Wir werden im Folgenden Überlegungen entwickeln, auf welche Weise sehr wohl auch ökonomische Überlegungen eine klare Orientierung bei der Festlegung des Staatsaufbaus bereitstellen. Es handelt sich dabei freilich um Gedanken, die bisher noch recht wenig in den Mainstream der theoretischen Diskussion über die ökonomisch angemessene Staatsform eingeflossen sind.

 

1.  Differenzierung der Wirtschaftsstrukturen und der Anforderungen an öffentliche Dienste

Die moderne Wirtschaft eines hoch entwickelten Staates wird von einer früher kaum vorstellbaren Spezialisierung und Differenzierung der Produkt- und Dienstleistungsstrukturen geprägt, die gravierende territoriale und regionale Konsequenzen hat. Die Steiermark wird nicht mehr von der Stahlindustrie, Vorarlberg nicht mehr von der Textilindustrie geprägt. Standard- und Massenprodukte werden in Niedriglohnländern gefertigt. In Europa werden hochwertige Dienstleistungen erbracht, die mit weltweiter Fertigung und Vertrieb, mit dem Ausbildungs- und dem Forschungssystem vernetzt sind. Sie bilden nicht selten untereinander Cluster zur Internalisierung von externen Effekten.

Vom Staat wird nicht mehr Strukturpolitik sondern Standortpolitik erwartet. Er hat die überbetrieblichen Rahmenbedingungen für hochspezialisierte Unternehmen so zu gestalten, dass der Standort attraktiv ist. Dazu zählt nicht nur die Erschließung von Flächen und Verkehrsanbindung, sondern auch ein hoch qualfizierendes Aus- und Weiterbildungssystem.

Attraktive Lebensbedingungen für national und international mobile Fachkräfte zählen dazu. Auch den Konsumenten steht eine unüberschaubare Güterpalette des Angebots zur Verfügung.

Eine solche öffentliche Umgebung zu schaffen, erfordert detaillierte Kenntnisse der Gegebenheiten und Potenziale vor Ort und rasche Entscheidungen. Zentralisierten Entscheidungsorganen und Verwaltungseinrichtungen fehlen oft die speziellen Informationen und die Flexibilität des Eingehens auf den spezifischen Fall.

"The potential benefits of, and issues related to, federalism may increase as economies develop. Several factors are at play. First, income growth may spur the demand for a more diversified basket of public goods or, put differently, the "one-size-fits-all" approach may increasingly fail to deliver a basket of public goods that is optimal for all citizens. Second, the rise of human capital (in particular higher education attainment) has raised the ability of local citizens and their representatives to manage efficiently local affairs and participate in the nation's decision process. Third, the spread of new information and communication technologies, together with more efficient transport modes, may increase the mobility of citizens across jurisdictions. Increased mobility of people may reinforce competitive pressures on sub-national government to deliver good public services, at a low cost. (Joumard, Kongsrud, p.171).

Föderalismus darf nicht statisch gesehen werden. Auch Kompetenzkataloge der Bundesverfassung müssen – in beiden Richtungen – in Frage gestellt werden. Föderalismus ist ein evolutionärer Prozess, "weil er eine differenzierte Entscheidungsstruktur anbietet, um dem Steuerungsbedarf der modernen komplexen Gesellschaften zu entsprechen" (Mayntz, 1995, zitiert nach Wachendorfer-Schmidt, a.a.O., p. 2)

"Gerade dank dem Netzcharakter vieler neuer Beziehungen, dank der Banalisierung von Raum und Zeit durch Informations- und Transporttechniken werten sich lokale Standorte auf. Unternehmensnahe Dienste sind dezentral erhältlich, Firmen und Individuen können sich von überall her in die netzvermittelten Wertschöpfungsketten einklinken." (Kappeler, 2002, p.349). Standortentwicklung und Höherqualifizierung der menschlichen Potentiale setzen zwar eine Reihe von europäischen und nationalen Standards voraus. Diese können aber ohne die Nähe zum Bürger und zum Standort nicht effizient konkretisiert werden.

 

2.  Qualitätswettbewerb

So fruchtbar die Modelle des fiskalischen Föderalismus für die Erkenntnis grundsätzlicher Optionen sind, so wenig scheinen sie in der Praxis der konkreten Politik ergiebig oder unproblematisch zu sein. Aus ökonomischer Sicht ist ihnen eine Vorwegabstraktion von möglichen und effizienten Formen des Wettbewerbs und die modellmäßige Einschränkung auf das Modell des reinen Preiswettbewerbs vorzuwerfen.

Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften muss nicht auf das Steuersystem und auf Steuersätze beschränkt bleiben. Steuerwettlauf könnte tatsächlich zu Fehlallokationen und zur Schwächung der gesellschaftlichen Kohäsion führen. Und auch wenn diese Gefahr nicht gegeben wäre, bliebe zweifelhaft, ob seine positiven Wettbewerbseffekte bei noch immer begrenzter Mobilität mancher Produktionsfaktoren wirklich so groß wäre wie ihnen der Fiskalföderalismus im Modell zumißt. "Auch sind Steuern und Kostenaspekte nicht die entscheidenden Standortfaktoren. Befragungen heben insbesondere die Verfügbarkeit von Fachkräften und Spezialisten hervor." (Kappeler, a.a.O., S.349f).

Die Ökonomie kennt neben dem klassischen Standardmodell des Preiswettbewerbs auch Modelle des Wettbewerbs mit "Nicht-Preis-Faktoren". Typischerweise tritt diese Form des Wettbewerbs am ehesten auf, wenn eine überschaubare Zahl von Anbietern auf einem Markt konkurriert (Oligopole). Auch regionale Gebietskörperschaften stehen in der Frage ihrer Attraktivität als Wohnort oder als Wirtschaftsstandort in einem oligopolistischen Wettbewerb mit einer Gruppe alternativer Wohn- oder Wirtschaftsstandorte. Sie konkurrieren mit diesen nicht notwendiger Weise über den Preis (=Steuer- und Hebesätze), sondern über Qualitätsmerkmale, die sich nicht direkt im "Preis" niederschlagen: Dienstleistungsbewußtsein statt Obrigkeitsdenken, persönliche Zurechenbarkeit der Leistung statt Anonymität, Innovationsanreize statt umfassende Vorsorge durch den Staat, Bürgernähe statt "Amtweg", speditive Erledigungen, explizite Zukunftsstrategien, Kooperationsbereitschaft sind die Faktoren, die die Früchte des Wettbewerbs hervorbringen, nicht unbedingt die Steuerautonomie.

"The introduction of competitive pressures across sub-national jurisdictions has thus increasingly come to be seen as dependent on information channels. Some countries (including Scandinavian countries) have developed high-quality information to enable citizens to benchmark the performance of their administration against others and to allow local governments to identify best practices." (Joumard, Kongsrud, p.168).

Diese Qualitätsmerkmale erleichtern auch in der Regel die Einhebung kostendeckender Gebühren für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen. Auf diese Weise wird die Steuerfinanzierung zurückgedrängt. "Greater reliance on user fees, by reinforcing market signals, could promote efficiency" (Joumard, Kongsrud, p.162). 

Natürlich sind damit Kosten verbunden, den öffentlich Dienst anspruchsvoller zu qualifizieren, die Innovationsbereitschaft, Kooperation und Motivation auch innerhalb des öffentlichen Dienstes zu stärken. Aber ein anonymer bürokratischer Apparat nach alten Obrigkeits- und Verwaltungsauffassungen kann die Steuerzahler ebenso viel oder mehr kosten, ohne die Vorzüge einer modernen Administration, die sich dem ettbewerb mit konkurrierenden Standorten und der Kooperationsmöglichkeit mit Partnern bewußt ist, anbieten zu können. 

 

3.      Wegfall nationaler Grenzen

Die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration hat die nationalen Binnengrenzen nicht nur leichter überwindbar gemacht, sondern auch die nationalen und regionalen Jurisdiktionen einander stark angeglichen und kompatibel gemacht, insbesondere bei allen Regeln, welche wirtschaftliche Märkte betreffen. Damit sind faktisch alte Grenzlinien, welche geographische und kulturelle Regionen trennten, weitgehend verschwunden. Wirtschaftliche, politische und kulturelle Potenzialen, die bisher nicht zugänglich waren, können genutzt werden. Diese bisher ungenutzten Möglichkeiten grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs sind eine Quelle jener positiven Integrationseffekte, die die ökonomische Theorie einhellig – jedenfalls auf etwas längere Sicht, weil Anpassungen kurzfristig auch Verlierer voraussetzt  – verspricht.

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit hat sich bereits rasch ausgeweitet, obwohl  entgegen den Prinzipien und Absichten der Binnenmarktspolitik  hier und da noch Restbestände eines administrativen Protektionismus festzustellen sind. Hier geht es auch auf der politischen Ebene um das Anknüpfen von Verbindungen, die Abstimmung von gemeinsamen Vorhaben und um die Regelung von externen grenzüberschreitenden Effekten. In aller Regel handelt es sich dabei nicht um Projekte und Auswirkungen von nationaler Bedeutung. Es ist daher folgerichtig, die politischen Entscheidung und deren Durchführung – im Einklang mit europäischen oder nationalen Richtlinien – auf die dezentrale, sach-, wirtschafts- und bürgernähere Ebene zu verlagern.

4.  Legitimationskrise des Staates und die Kraft der Identität

Die zunehmende Ineffektivität des Nationalstaates, rechtzeitig auf die wachsenden Herausforderungen zu antworten, weil seine Jurisdiktion, nicht aber die Probleme an den Staatsgrenzen endet, hat in vielfach ausgelöst, was Habermas "Legitimationskrise" nannte. "To overcome such a legitimation crisis, states decentralize some of their powers to local or regional political institutions. ...Letting lower levels of governance take responsibility for linking up with society by managing everyday life's issues, so to rebuild legitimacy through decentralization." (Castells, 1997, p. 271f.).

Auch die  Modelle der modernen ökonomischen Wachstumstheorie sind ziemlich ohnmächtig bei der Erklärung konkreter Entwicklungsphasen in vielen Ländern. Sie nehmen zwar nicht mehr an, wie ihre neoklassischen Vorläufer in den fünfziger Jahren, dass der technische Fortschritt  "vom Himmel falle". Er wird vielmehr durch materielle und immaterielle Investitionen erklärt. Der vertikale Staatsaufbau kommt als erklärende Variable nicht vor. Und auch die empirischen Schätzungen eines Einflusses dieses Faktors haben, wie dargestellt, die Rätsel kaum verkleinert. Beim Versuch der Erklärung von unterschiedlicher Wirtschaftsdynamik aus Menge und Qualität der Faktoren Arbeit und Kapital sowie dem in das Kapital eingebauten technischen Fortschritt bleiben nach wie vor bedeutende unerklärte Restgrößen.

Dennoch bietet ein Zweig der Wachstumsforschung Ansatzpunkte für die Erklärung dynamischer Entwicklungen. Dieser Zweig geht auf die Pionierarbeit von Sir Arthur Lewis über die Bedingungen der Entwicklung von Staaten zurück, für die ihm 1979  der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft 1979 verliehen wurde - ohne dass das besonderen Eindruck auf die Zunft der mathematischen Ökonomen gemacht hätte. Eher finden sich weiterführende Gedankengänge in den Schriften von Wirtschaftshistorikern. Diese weisen auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Organisation und ihrer Effizienz hin. Das betrifft soziologische, kulturelle und politische Prioritäten und Institutionen.

Seit den Arbeiten von Ohkawa, Rosovsky und Abramovitz trägt dieser im Mainstream der Standard-Wachstumstheorie fehlende, unerklärte Fortschrittsfaktor die Bezeichnung "social capability" und bezieht sich auf die Kompetenz, Bereitschaft und Geschwindigkeit, organisatorische und technische Verbesserungen in der Wirtschaft zu diffundieren. Diese Fähigkeit hänge, so diese Theorie, ihrerseits vom Grad der Homogenität der Werte und Zielvorstellungen einer territorialen Einheit ab. Dafür hat die Soziologie den Begriff Sozialkapital eingeführt. Sozialkapital ist in der Definition von Fukuyama (2002, S. 32) der "Bestand informeller Werte und Normen, die alle Mitglieder einer Gruppe teilen und die Kooperation zwischen den Mitgliedern der Gruppe ermöglichen". Das Vertrauen darin, dass innerhalb einer Gemeinschaft die meisten anderen die gleichen Vorstellungen teilen, reduziert ’die Transaktionskosten’, wie die Ökonomen dies nennen – die Kosten, die entstehen, wenn formelle Vereinbarungen geschlossen werden, ihre Einhaltung überwacht, gegebenenfalls gerichtlich durchgesetzt werden müssen." (Fukuyama, a.a.O., S. 32 und 34.).

Nun ist es nur noch ein kleiner Schritt zu schließen, dass kleinere regionale Einheiten eher über die Voraussetzungen homogener Wertvorstellungen und Interessen verfügen und daher eher in der Lage sein können, ihre Potentiale auszuschöpfen. 

Vorsichtig aber dennoch deutlich rät Wachendorfer-Schmidt, zu untersuchen, ob das Unbehagen weiter Kreise der Bevölkerung mit der Liberalisierung und Globalisierung, die Legitimationkrise der Politik, durch Stärkung der regionalen Identität überwunden werden kann: "In a world marked by continuing economic and political integration, which at the same time generates resistance in many people who fear losing their livelihood or their identity, it is imperative to inquire more systematically into the potential effects of the territorial division of power on peace, freedom, democracy, economic wealth and social security." (Wachendorfer-Schmidt, 2000, p.1).

 

5. Effekte der bevorstehenden demographischen Alterung

Zum Abschluss ein Ausblick: mit sehr großer Wahrscheinlichkeit werden nahezu alle europäischen Staaten in etwa 10 bis 15 Jahren mit den bedenklichen Wirkungen der demographischen Alterung zu tun bekommen. Die herkömmlichen staatlichen Netze der sozialen Sicherheit, die völlig zu Recht eine nationale Einrichtung sind, werden für die Größe dieser Probleme keine ausreichende Lösung bereithalten, auch wenn sie für die Grundsicherung haltbar gemacht werden. Ein Verlust an Wohlstand, an sozialer Wohlfahrt, an gesellschaftlichem Zusammenhalt droht.

Eine befriedigende Lösung des epochalen Problems setzt einerseits eine höhere Erwerbsbeteiligung (bis in höheres Alter, von Frauen, durch Immigration) voraus, andererseits auch eine umfassende Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Wichtigster Anlass dafür wird die Hauskrankenpflege sein. Außerdem werden die berufliche Qualifikation und die Leistungen von Menschen in einem Alter, in welchem sie bisher den Ruhestand antreten konnten, weiter entwickelt werden müssen, wobei wünschenswert ist, dass auf die individuelle Situation (Ausbildung, Gesundheit, Familienverhältnisse) flexibel eingegangen werden kann.

Für das Funktionieren der Zivilgesellschaft, der Eigeninitiative und der Solidarität, für die Bildung von nahräumlichen Verbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen kann der Nationalstaat bestenfalls strategische Standards und Leitlinien vorgeben. Die tatsächliche Unterstützung solcher Initiativen (die häufig die Form von private-public-partnerships in einem anderen als dem finanztechnischen Sinn annehmen dürften), kann von regionalen oder kommunalen Autoritäten wirkungsvoller erbracht werden.

 


VI.  Schlußfolgerungen

 

Ökonomisch relevante Verfassungsinhalte

1. Das BVG enthält, auch im Zusammenhalt mit dem Staatsgrundgesetz, den Torso einer Wirtschaftsverfassung. Wesentliche Aspekte in wirtschaftspolitischer Hinsicht wurden allerdings vor rund zehn Jahren in Form des Rechtsbestands der EU im österreichischen Recht rezipiert. Formell wurde damit zentralen Anforderungen an eine moderne Verfassung aus ökonomischer Sicht Genüge getan. Die logische Struktur dieses heterogenen Normenbündels ist jedoch recht unbefriedigend. Mängel an Transparenz erschweren politische Entscheidungen.  

2. Programmatische Erklärungen zu den wirtschaftlichen (und sozialen) Staatszielen würden den Staat zur Prüfung und zur Begründung der Konformität von Gesetzesvorhaben mit diesen Staatszielen verpflichten. Angesichts der weltwirtschaftlichen Realität und des Konkurrenzverhältnisses zwischen wirtschaftspolitischen Zielen können sie nicht individuelle Rechtsansprüche begründen. Sie sind aber als Leitlinien für die Politik zu empfehlen.

3. Der Kompetenzkatalog der Staatsaufgaben sollte durch eine auf das marktwirtschaftliche Prinzip abgestellte Norm eingeleitet werden, die dem Staat so viel Kompetenz wie notwendig, jedoch so wenig wie möglich zuspricht. Der Kompetenzkatalog soll nicht als Freibrief für jede Art von staatlicher Intervention in jeglichen wirtschaftlichen Sachverhalt mißverstanden werden können.

4. Besonderes Augenmerk sollte Erklärungen zukommen, welche

a) die Stellung Österreichs in der EU und die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips definieren,

b) das programmatische Ziel eines "europäischen Gesellschaftsmodells" im EU-Verfassungsentwurf (Art. 9/1) ausformen.

5. Die einschlägigen Formulierungen einer reformierten österreichischen Bundesverfassung sollten jedenfalls auf das Prinzip der Nachhaltigkeit und der längerfristigen Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen und für den Ausgleich der Interessen auch mit jenen kommender Generationen hinweisen.

6. Die Verpflichtung zur Beachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (derzeit Art.13 (2) BVG) sollte so formuliert sein, dass die simultane Optimierung von volkswirtschaftlicher Entwicklung, Teilnahme am Erwerbsleben, Stabilität des Preisniveaus, sozialem Ausgleich und Umweltschutz unter den gegebenen wirtschaftlichen Beschränkungen Prinzip der Politik ist.

7. Grenzen für das Ausmaß und die Ausweitung der Staatsverschuldung sind  zumindest qualitative zu ziehen. Für eine Ausformung solcher Verfassungsbestimmungen wird es sinnvoll sein, die anstehende Revision des Stabilitäts- und Wachstumspaktes der EU zu berücksichtigen. Das Augenmerk ist nicht nur auf Limits für die Neuverschuldung, sondern auch auf den Bestand und die absehbare Entwicklung der Staatsschuld zu legen. Jedenfalls sollte die "goldene Regel" des deutschen Grundgesetzes, welches Neuverschuldung bis zum Ausmaß der öffentlichen Investitionen zulässt, dergestalt ersetzt bzw. erweitert werden, dass als Investitionen auch solche in geistiges Kapital verstanden werden. Unter Verpflichtungen oder Schulden des Staates wären nicht nur die titrierten Finanzschulden, sondern auch absehbare künftige Finanzierungsverpflichtungen des Staates, etwa aus dem Obligo des staatlichen Pensionssystems, zu verstehen.

8. Aus der Erfahrung der Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes durch den Verfassungsgerichtshof scheinen sich einige Präzisierungen ableiten zu lassen. Es wäre wünschenswert, diese in den Verfassungstext aufzunehmen. Zu denken ist dabei an Aspekte wie Leistungsfähigkeit, Zumutbarkeit, Vertrauensgrundsatz im Zusammenhang mit ökonomischen Sachzwängen und Grenzen der Finanzierbarkeit.

9. Die rasch wechselnden Herausforderungen an die Volkswirtschaft und die Höhe der Steuerbelastung lassen es dringend wünschenswert erscheinen, dynamische Elemente in die Verfassung zu integrieren. Das ist dann nicht ein Widerspruch in sich, wenn Veränderungsprozesse verfassungsmäßig geregelt sind. Verfassungen zielen traditionell darauf ab, zu regeln, wann, wie und in welchem Umfang der Staat sich in die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft "einmischt". Es wäre im Sinne der Dynamik konsequent zu prüfen, welche "Exit-Regeln" verfassungsmäßig zu verankern wären.

Ökonomische Aspekte des Staatsaufbaus

10. Die optimale Architektur eines Staates ist in der ökonomischen Theorie und in Hinblick auf ökonomische Zielvorstellungen umstritten und empirisch gleichfalls nicht eindeutig beantwortbar. Dies bedeutet, dass die Konstruktion auch mit anderen als ökonomischen Argumenten – etwa mit der Teilnahme des Volkes am politischen Prozess und mit der Sicherstellung von individueller Freiheit und Initiative - begründet werden kann.

11. Einige Prinzipien der Zuordnung auf übereinander gelagerte hierarische staatliche Ebenen sind dennoch ableitbar. Grundprinzip muss sein, dass die Zuordnung von Gesetzgebungs- und Ausführungskompetenzen mit der simultanen Berücksichtigung der finanziellen Bedeckung und der Finanzierungsverantwortung korrelieren muss.

12. Das ökonomische Modell des föderalistischen Steuerwettbewerbs (fiscal federalism) hat problematische Kehrseiten. Um ökonomische Vorzüge eines föderativen Staatsaufbaus zu nützen, muss die Steuerautonomie der Gebietskörperschaften nicht unbedingt ausgeweitet werden.  Ein Ausbau der Autonomie von Bundesländern und Gemeinden erscheint am ehesten in Richtung auf individuelle Leistungsäquivalente  (Gebührenfinanzierung), allenfalls auch auf immobile Steuerquellen (Grundsteuer) empfehlenswert.

13. Aus diesen Gründen erscheint eine Stärkung des Qualitätswettbewerbs zwischen unterschiedlichen Gebietskörperschaften der gleichen Ebene wünschenswert, für welchen Standards (Benchmarks) transparenter und präziser festzulegen wären.

14. Die Vorzüge regionalen Wettbewerbs in einer föderativen Staatsstruktur werden durch die ökonomisch beachtlichen Impulse, die die Identifikation mit der naheliegenden politischen Ebene entstehen lässt, noch verstärkt. Diese könnten die vergleichsweise nicht sehr ins Gewicht fallenden Kosten einer mehrstufigen und regional parallelen Staatsstruktur ohne weiteres mehr als wettmachen.

15. Es ist eher die Ausnahme, wenn die Kompetenz für einen größeren Aufgabenbereich einer staatlichen Ebene gänzlich und dabei effizient zugeordnet werden kann. Insbesondere vor dem Hintergrund der EU-Mitgliedschaft und der intensiven Wirtschaftsverflechtung, der höheren Mobilität und den übernationalen und globalen Umweltphänomenen ergibt sich für nahezu jede öffentliche Aufgabe eine mehrstufige Verantwortung. Prinzipien und grundsätzliche Strategien auf der obersten, oft der europäischen Ebene, Ausformung und Präzisierung an Hand nationaler und regionaler Besonderheiten und operationale Durchführung auf regionaler bzw. lokaler Ebene.

16. Dies führt zum Prinzip der Grundsatzgesetzgebung und der (wechselseitig anerkannten) Ausführungsgesetzgebung, wie es in der EU ohnehin verankert ist.  Für viele Materien sind eine einheitliche Grundsatzregelung und die wechselseitige Anerkennung ihrer nationalen oder subnationalen Ausformung wünschenswert. Regionalen Besonderheiten, Präferenzen, "Kulturen", geografischen und klimatischen Gegebenheiten ist durch regionale Ausformung Rechnung zu tragen. Die dabei notwendige Koordination der subnationalen Ausführungsbestimmungen muss nicht notwendiger Weise von der höheren Ebene Bundesstaat erwartet werden, sondern kann auch durch Selbstorganisation der regionalen Ebenen zustande gebracht werden.  

17. Die Erbringung lokaler öffentlicher Dienste durch die autonomen Gemeinden lässt wegen des häufigen Auftretens von Skaleneffekten einen Ausbau der nahräumlichen Gemeindeverbände zweckmäßig erscheinen. Ihre Einrichtung ist von den Verfassungen des Bundes und der Länder zu unterstützen. Häufig verspricht die Auslagerung der operationalen Durchführung an privatwirtschaftliche Unternehmen und Organisationen beachtliche wirtschaftliche Vorteile. Dem möglichen Auftreten von Lokalegoismus und der Kollusion lokaler Interessen ist nicht nur aus ökonomischen Gründen Aufmerksamkeit zu schenken.

18. Der mittleren Ebene des föderalen Systems, in Österreich den Bundesländern, kommt in erster Linie die Initiative und Verantwortung für die Gestaltung und die Regelung der täglichen Lebensbedingungen und der kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung, die operationale Durchführung administrativer Aufgaben (auch solcher, für die Bundeskompetenz gegeben ist) sowie für die Raumordnung und Ansiedlung der Wirtschaft (Standortpolitik) zu. Diese Funktionen, die Effizienz und Qualität ihrer Ausführung gewinnen angesichts der Differenzierung der Ansprüche und der Spezialisierung der Wirtschaft ständig zunehmende Bedeutung.

19. In absehbarer Zukunft werden die Anforderungen an das System der Pflege älterer Menschen rapid ansteigen. Diese Aufgabe wird nicht allein von staatlichen Einrichtungen bewältigt werden können, sondern erfordert eine gezielte Mobilisierung der menschlichen Kapazitäten der Zivilgesellschaft. Die Verantwortung und Initiative dafür kann sinnvoll nicht von einer gesamtstaatlichen Einrichtung erwartet werden, sondern viel eher von autonomen bürgernahen Gebietskörperschaften.

20. Angesichts der zunehmenden Differenzierung der Ansprüche an staatliche Einrichtungen  und der gleichfalls stark zunehmenden regionalen Beziehungen über die im Binnenmarkt der EU abgebauten nationalen Grenzen hinweg, erscheint auch aus wirtschaftlicher Sicht das regionale Potential gestärkt. Dies umso mehr, wenn man die schleichende Entfremdung von Bevölkerung und Politik durch Zentralisierung (und Europäisierung) als bedenklich ansieht. Aus wirtschaftlicher Sicht ist zu bedenken, dass die Identifizierung mit einem überschaubaren Lebensumfeld eine höhere Kapazität (capability) für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt annehmen lässt.

21. Wenn das Prinzip des Fiskalwettbewerbs durch Übertragung der Steuerhoheit für wichtige Steuerquellen an die Länder oder Gemeinden als nicht unproblematisch angesehen werden muss, also das Modell des Fiskalföderalismus nur eingeschränkt zu befürworten ist, ist die Gestaltung der Einrichtungen für die Koordination von nationalen und regionalen Gesetzgebungskompetenzen eine zentrale verfassungsrechtliche Herausforderung. Die Regeln für die Koordination auf parlamentarischer und administrativer Ebene sind nicht primär als Gefahr für erwünschten Wettbewerb zu deuten. Ihre Effizienz ist freilich entscheidend und daher verfassungsrechtlich, politologisch und ökonomisch eingehend zu prüfen.


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Statistischer Anhang