VfSlg 10.412/1985: Briefwahl
 
Aus den Entscheidungsgründen
 
2.2. Zur Sache
2.2.1. Die Bundesregierung macht - kurz zusammengefasst - geltend, dass die angefochtene (Briefwahl-)Regelung zum einen dem Grundsatz der "geheimen" Wahl widerspreche, zum anderen das Prinzip der "persönlichen" Wahl verletze.
2.2.2. Sie ist nach beiden Richtungen hin im Recht.
(...)
2.2.2.3. 1. "Geheim" in der Bedeutung des Art 26 Abs 1 B-VG und der - in diesem Umfang inhaltsgleichen (s. VfSlg. 3426/1958, 6864/1972) - Norm des Art 117 Abs 2 Satz 1 B-VG ist ein Wahlrecht nur dann, wenn der Wähler seine Stimme derart abzugeben vermag, dass niemand, weder die Behörde noch sonst jemand, erkennen kann, wen er gewählt hat (...). Demgemäß verlangt der Grundsatz des geheimen Wahlrechts wirksame Vorkehrungen zur Geheimhaltung des Wahlverhaltens des einzelnen Wählers (...), der seinerseits zur geheimen Stimmabgabe verpflichtet und von der
Wahlbehörde dazu anzuhalten ist.
 
Der VfGH nahm bereits in seinem zur (Nö.) Gemeindewahlordnung ergangenen Erk. VfSlg. 3843/1960, bezogen auf das Wahlrecht im allgemeinen, den Standpunkt ein, von einer "freien" und "geheimen" Wahl könne nur gesprochen werden, wenn der Wähler die unbedingte Sicherheit empfinde, dass eine Feststellung (Beobachtung), welche Partei er wähle (oder ob er einen leeren Stimmzettel abgebe), unmöglich sei; nur der unbeobachtete Wähler vermöge sein Wahlrecht
frei und ohne Hemmung auszuüben. Des weiteren führte der VfGH erst jüngst in seinem Erk. vom 10. Oktober 1984, Z WI-7/83, aus, das Prinzip des geheimen Wahlrechts müsse dem Wähler Gewissheit geben, dass Dritten unbekannt bleibe, wie gewählt worden sei.
 
Die geheime Wahl soll den Wähler also nicht bloß vor unerwünschter Einflussnahme auf seine Willensbildung im Zug des Wahlvorgangs bewahren, sie soll ihm auch die Sorge und Furcht nehmen, dass er wegen seiner Stimmabgabe in bestimmter Richtung Vorwürfen und Nachteilen welcher Art immer ausgesetzt sei. 
 
Nur ein derartiges, schon in beiden zitierten Erk. des VfGH zum Ausdruck kommendes Verständnis des im B-VG geprägten Begriffs der "geheimen" Wahl wird dem überlieferten Sinn und Zweck dieses fundamentalen Wahlprinzips gerecht, nämlich der wirksamen Sicherung der Unabhängigkeit und Freiheit der in der Wahl gelegenen politischen Meinungsäußerung des Bundesvolks.
 

Wie schon eingangs hervorgehoben (...), bedeutet das aber zugleich, dass das Recht auf geheime Wahl - soll es nicht nur auf dem Papier stehen und ineffektiv sein - den Staat zu positiven Leistungen verpflichtet, und zwar zur Zurverfügungstellung aller notwendigen Einrichtungen, um die korrekte Abhaltung geheimer Wahlen zu gewährleisten und zu sichern (...).
 
Die angefochtene landesgesetzliche Briefwahlregelung wird diesen unabdingbaren verfassungsrechtlichen Voraussetzungen eines "geheimen" Wahlrechts nicht gerecht: Denn der Wähler, der sich zur Stimmabgabe mit Wahlbrief entschließt, bleibt, wenn er "geheim" wählen will,
kraft des vom nö. Landesgesetzgeber geschaffenen (Briefwahl-)Systems während des Wahlakts insofern vollkommen auf sich selbst gestellt, als er der Einflussnahme durch außenstehende Dritte zugunsten eines bestimmten Wahlverhaltens nur selbst begegnen kann. Mit anderen Worten ausgedrückt: Der Landesgesetzgeber wälzt die kraft Verfassungsrechtslage ihm selbst zukommende Aufgabe, dafür wirksam Sorge zu tragen, dass die Wahl (Stimmabgabe) geheim vor sich gehe,
einzig und allein auf den - vor unzulässiger Einflussnahme auf seine Wahlentscheidung zu schützenden - Wähler ab; es fehlt nämlich (...) an Sicherheitsvorkehrungen, die dem Wahlberechtigten eine "geheime", das ist die unbeeinflusste und unbeobachtete Ausfüllung des Stimmzettels garantieren. Das bedeutet aber, das es nach der STWO idF LGBl. 0360-2 durchaus offen und fraglich bleibt, ob der einzelne Wähler zu einer solchen (geheimen) Stimmabgabe nach seinen jeweiligen persönlichen Verhältnissen und Lebensumständen unter zumutbaren Bedingungen überhaupt imstande ist. Dass der Wähler nachträglich schriftlich bestätigen soll, er habe den Stimmzettel persönlich unbeobachtet ausgefüllt, ist aus der Sicht der Gewährleistung geheimer Wahlen im
bereits dargelegten Sinn ungenügend. Denn unterliegt der Wahlberechtigte bei der Ausfüllung des Stimmzettels mehr oder weniger massivem (psychischem) Druck, ist nicht auszuschließen, vielmehr eher naheliegend, dass sich diese Einflussnahme auch auf die Unterfertigung der Erklärung erstrecken kann und wird. Ebensowenig stellt die angefochtene Regelung ausreichend sicher, dass der Wähler - mag er auch keinem Druck ausgesetzt sein - im entscheidenden Zeitpunkt wirklich unbeobachtet handeln kann und so in der Lage ist, seine politische Überzeugung im Wahlakt vollkommen frei zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei Gefahr zu laufen, wegen Bekanntwerdens seines Stimmverhaltens persönliche, soziale oder wirtschaftliche Nachteile zu erleiden. (...)
 
Aus all dem folgt, dass die angefochtene Regelung das verfassungsrechtlich garantierte Prinzip der "geheimen" Wahl verletzt.
 
2.2.2.3.2. Im engsten Zusammenhang mit dem Grundsatz der "geheimen" Wahl steht das gleichfalls in Art117 Abs2 B-VG festgeschriebene Prinzip des "persönlichen" Wahlrechts. (...) Nach manchen Lehrmeinungen erschöpft sich die Verfassungsgarantie aber nicht im Verbot der Stellvertretung; vielmehr wird eine unverzichtbare zweite Wesenskomponente des "persönlichen" Wahlrechts
iS des B-VG in der persönlichen Anwesenheit des Wahlwilligen im Stimmlokal erblickt, also verlangt, dass der Wähler dort selbst zur Stimmabgabe erscheint:
 
Der VfGH nahm bisher zur Frage nicht ausdrücklich Stellung, (...). Er qualifizierte bestimmte Formen der Briefwahl aber schon in seiner bisherigen Rechtsprechung grundsätzlich als Wege der "nichtpersönlichen Stimmabgabe" (VfSlg. 4483/1963, 4713/1964) und hält an dieser Rechtsauffassung (...) auch weiterhin fest: Das im B-VG (Art 26 Abs 1, 95 Abs 1 und 117 Abs 2; 60 Abs 1) für Wahlen zu allgemeinen Vertretungskörpern expressis verbis verankerte Persönlichkeitsprinzip gebietet die Schaffung von Wahlordnungen, die zwingend sicherstellen, dass alle zu zählenden Stimmen wirklich von jenen Personen stammen, die sie abgaben. Das bedeutet folgerichtig, dass ein "persönliches"
Wahlrecht, wie es das B-VG festlegt, das persönliche Erscheinen, anders ausgedrückt: die physische Präsenz des Wählers, sei es im Stimmlokal, sei es vor einer sog. "fliegenden" oder sonst inner- oder
außerhalb des Wahlgebiets amtierenden Wahlkommission oder einem die Aufgaben einer solchen Kommission adäquat besorgenden Staatsorgan, zur Teilnahme an der Wahl notwendig voraussetzt. 
(...)
Abschließend bleibt festzuhalten, dass das in Rede stehende landesgesetzliche Briefwahlsystem darum (auch) das Verfassungsprinzip der "persönlichen" Wahl verletzt.