Theo Öhlinger
Österreich wurde im Dezember 1955 in die Vereinte Nationen (VN) aufgenommen. Die Genehmigung durch den Nationalrat gemäß Art 50 B-VG erfolgte bereits im Jahr 1952 (siehe StenProtNR, 6. GP, 3634 ff; StenProtBR, 1635). Dieser Beitritt und seine parlamentarische Behandlung geschahen damit in einer Zeit, als das Theorem über den verfassungsändernden Gehalt der Übertragung von Hoheitsrechten auf Internationale Organisationen noch nicht bekannt war. (Dieses Theorem wurde erst im Zusammenhang mit der Errichtung der EFTA 1960 entwickelt; siehe 156 BlgNR 9. GP, S. 318). Die Satzung der VN wurde daher vom Nationalrat als gesetzändernder Staatsvertrag genehmigt und steht seitdem in der österreichischen Rechtsordnung auf der Rangstufe eines einfachen Bundesgesetzes.
Die merkwürdige Diskrepanz, dass in der österreichischen Rechtsordnung völkerrechtliche Verträge mit geringfügiger politischer Bedeutung partiell auf Verfassungsstufe stehen, dagegen nicht ein so zentraler völkerrechtlicher Vertrag wie die UN-Satzung, besteht seit den sechziger Jahren bis heute und konnte bekanntlich auch durch die 1981 geschaffene Ermächtigung des Art 9 Abs 2 B-VG nicht endgültig gelöst werden. Der Versuch, dieses Problem durch ein "Staatsverträge-Sanierungsgesetz" (1971, siehe die RV eines "Ersten Staatsverträge-Sanierungsgesetzes" 122 BlgNR 13. GP) zu bereinigen, kam nicht zustande (dazu ausführlicher Öhlinger, Der völkerrechtliche Vertrag im staatlichen Recht, 1973, 202 ff). Die UN-Satzung war allerdings in dieser RV – anders als noch im zur Begutachtung ausgesandten Entwurf des BKA-VD GZ 44.760-2d/7c vom 11.5.1971 – nicht enthalten (vermutlich wegen offener Neutralitätsfragen); sie sollte einem "Zweiten Staatsverträge-Sanierungsgesetz" vorbehalten bleiben (siehe 122 BlgNr 13. GP, S. 6).
Die VN nehmen heute unter allen weltweiten Internationalen Organisationen zweifellos eine herausragende Stellung ein. Ihre Satzung ist die Grundlage einer umfassenden Weltorganisation und einer neuen universellen Ordnung des Völkerrechts (siehe Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl 1984, 72). Diese Satzung hat daher in einem nicht nur ganz allgemeinen Sinn Verfassungscharakter. Sie bildet ein wesentliches Element in dem bereits oft konstatierten Prozess einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts. Sie enthält Verpflichtungen, die nicht nur zwischen den Mitgliedern bestehen, sondern einen Anspruch auf absolute Geltung gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft erheben. Dazu gehören das zwischenstaatliche Gewaltverbot (Art 2 Z 4 UN-Satzung) sowie die Achtung der sich aus der Würde des Menschen ergebenden grundlegenden Menschenrechte (siehe Verdross/Simma, aaO, 75 ff). Nach Art 103 UN-Satzung haben die Pflichten aus der Satzung Vorrang vor anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen.
Das Potential der UN-Satzung ist bislang – vor allem durch die wechselseitigen Blockaden der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und ihres Veto-Rechts – nicht vollständig ausgeschöpft worden. Potentiell bildet aber die UN-Satzung so etwas wie eine "Weltverfassung" (Tomuschat, Vereinte Nationen, in: Seidl-Hohenveldern (Hrsg), Völkerrecht, 3. Aufl. 2001, 454), auf deren Grundlage sich die VN aus einer weltweiten zwischenstaatlichen Organisation zu einem "Organ der Menschheit" (so Verdross/Simma, aaO, 79) entwickeln könnten (zur UN-Satzung als "Verfassung der Weltgemeinschaft" siehe auch Ress, in: Simma [Hrsg], Charta der Vereinten Nationen, Kommentar [1991] XLVII, LXIII).
Eine solche Entwicklung hätte durchaus auch Rückwirkungen auf die nationalen Verfassungen, die nicht ihrem Umfang, aber ihrer Qualität nach mit jenen der Mitgliedschaft Österreichs in der EU vergleichbar sind. So gibt es auch bereits in der völkerrechtlichen Literatur Ansätze, die den Beschlüssen des Sicherheitsrates unmittelbare Wirkung und Vorrang innerhalb der staatlichen Rechtsordnungen zuerkennen (vgl etwa Dicke, Erscheinungsformen und Wirkungen von Globalisierung in Struktur und Recht des internationalen Systems auf universaler und regionaler Ebene sowie gegenläufige Renationalisierungstendenzen, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Bd 39 (2000) 13 [36]; sehr weitgehend in diese Richtung und so zweifellos noch nicht konsensfähig A. Balthasar, Die österreichische bundesverfassungsrechtliche Grundordnung unter besonderer Berücksichtigung des demokratischen Prinzips, noch unveröffentlichte Wiener Habilitationsschrift [2004]).
Mit einer Verankerung der UN-Mitgliedschaft in der Bundesverfassung würde sich Österreich solchen Entwicklungen gegenüber öffnen. Potentielle Konflikte mit österreichischem Verfassungsrecht wären von vornherein reduziert und auf Interpretationsfragen eingegrenzt.
Ein spezifischer Zusammenhang besteht zwischen der Mitgliedschaft Österreichs in den VN und dem verfassungsrechtlichen Status eines dauernd neutralen Staates.
Der potentielle Widerspruch zwischen dauernder Neutralität und den in der UN-Satzung verankerten Pflichten der kollektiven Sicherheit wurde in Österreich zunächst im Sinne eines Vorrangs der Neutralitätspflichten gelöst, die von der VN mit der widerspruchslosen Aufnahme Österreichs als dauernd neutraler Staat im Sinne der sog. "Verdross-Doktrin" implizite anerkannt worden seien (vgl Verdross/Simma, aaO, 147): Die Organe der VN übernahmen mit dieser vorbehaltlosen Aufnahme Österreichs "die Verpflichtung, Österreich nie zu neutralitätswidrigen Zwangsmaßnahmen heranzuziehen" (Hummer, in: Neuhold/Hummer/Schreuer, Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd 1, Rz 2859). Anlässlich des ersten, auf einem Sicherheitsratsbeschluss basierenden Irakkrieges 1991 wurde diese Doktrin von der herrschenden Lehre und Praxis in Österreich mit unterschiedlichen, aber im Ergebnis einhelligen Begründungen "umgedreht": Die Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in den VN gehen den Neutralitätspflichten vor.
Eine Verankerung der UN-Mitgliedschaft in der Bundesverfassung und damit auf gleicher rechtlicher Ebene wie die Neutralität könnte diesem – aus verfassungsrechtlicher Sicht doch sehr überraschenden (siehe dazu Öhlinger, BVG Neutralität, in: Korinek/Holoubek (Hrsg), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, Rz 9) – Interpretationswandel eine verfassungsrechtliche Grundlage geben.
In rechtsvergleichender Sicht ist anzumerken, dass sich in europäischen Verfassungen explizite Hinweise auf die VN kaum finden. Ein seltenes Beispiel bildet Sektion 1 der Verfassung von Malta, das eine Ausnahme vom neutralitätsrechtlich bedingten Verbot der Nutzung militärischer Anlagen für Aktionen des Sicherheitsrates vorsieht.
Häufig sind jedoch Bekenntnisse zu Frieden und internationaler Zusammenarbeit. Siehe etwa folgende Beispiele:
Art 11 der Italienischen Verfassung:
Italien verwirft den Krieg als Mittel des Angriffs auf die Freiheit anderer Völker und als Mittel zur Lösung internationaler Streitfragen. Unter der Bedingung der Gleichstellung mit den anderen Staaten stimmt es Souveränitätsbeschränkungen zu, die für eine Ordnung notwendig sind, welche den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Nationen gewährleistet. Es fördert und begünstigt internationale Organisationen, die diesem Zweck dienen.
Art 2 Abs 2 der Griechischen Verfassung:
Griechenland ist bestrebt, unter Beachtung der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, den Frieden, die Gerechtigkeit und die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu fördern.
Art 29 Abs 1 der Irischen Verfassung:
Irland bekräftigt seine Ergebenheit gegenüber dem Ideal des Friedens und der freundschaftlichen Zusammenarbeit unter den Völkern auf der Grundlage internationaler Gerechtigkeit und Moral.
Art 7 Abs 2 der Portugiesischen Verfassung:
Portugal unterstützt die Abschaffung des Imperialismus, des Kolonialismus und jeglicher anderer Form der Aggression, der Beherrschung und der Ausbeutung unter den Völkern ebenso wie die allgemeine ausgewogene und kontrollierte Abrüstung, die Auflösung der militärisch-politischen Blöcke und die Einrichtung eines internationalen Sicherheitssystems zur Schaffung einer internationalen Ordnung, die den Frieden und die Gerechtigkeit in den Beziehungen zwischen den Völkern zu gewährleisten imstande ist.
Art 7
Abs 3 der Slowakischen Verfassung (idF 2002):
The Slovak Republic may for purpose
of maintaining peace, security and democratic order, under conditions
established by an international treaty, join an organization of mutual
collective security.
§ 1 Abs 2 der Finnischen Verfassung vom 11.6.1999:
Finnland beteiligt sich an der internationalen Zusammenarbeit in der Absicht, Frieden und Menschenrechte sicherzustellen, und in der Absicht, die Gesellschaft zu entwickeln.
Siehe ferner die Präambeln des Bonner Grundgesetzes und der Spanischen Verfassung.
Ein dringender Bedarf nach einer verfassungsgesetzlichen Verankerung der Mitgliedschaft in den VN lässt sich nicht feststellen, doch gibt es Argumente, die dafür sprechen (siehe zuvor 2. und 3.). Sollte eine solche Verankerung erfolgen, könnte die Formulierung lauten:
Österreich ist Mitglied der Vereinten Nationen und unterstützt deren Ziele, insbesondere der Erhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit sowie der weltweiten Achtung der Menschenrechte.
Oder:
Österreich bekennt sich zu den Verpflichtungen, die sich aus der Satzung der Vereinten Nationen ergeben, und unterstützt insbesondere die Ziele der Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit sowie der weltweiten Achtung der Menschenrechte.