Vorschlag für soziale
Rechte in einer künftigen österreichischen Bundesverfassung
eingebracht im Ausschuss 4 des Österreich-Konvents
am 30. April 2004
von
Prof. Ing. Helmut Mader, Präsident des Landtags
von Tirol
Univ.Prof. Dr. Reinhard Rack MEP
Artikel 1
Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerschaft
im Unternehmen
Für die Organe der Arbeitnehmerschaft muss auf den geeigneten Ebenen eine
rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den
Voraussetzungen gewährleistet sein, die nach den gesetzlichen Bestimmungen
vorgesehen sind.
Artikel 2
Koalitionsfreiheit
(1)Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber haben das Recht, zum Schutze ihrer Interessen
Vereinigungen zu bilden und diesen beizutreten.
(2)Nach Maßgabe der Gesetze kommt Vereinigungen nach
Absatz 1 und gesetzlichen beruflichen Interessensvertretungen die
Kollektivvertragsfähigkeit zu.
Artikel 3
Recht auf Zugang zu einem
Arbeitsvermittlungsdienst
Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen
Arbeitsvermittlungsdienst.
Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat nach den gesetzlichen
Bestimmungen Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung.
Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
(1)
Jede
Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und
würdige Arbeitsbedingungen.
(2)
Jede
Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf Begrenzung der
Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten
Jahresurlaub.
Verbot der Kinderarbeit und Schutz der
Jugendlichen am Arbeitsplatz
(1) Kinderarbeit ist verboten. Unbeschadet günstigerer Vorschriften für
Jugendliche und abgesehen von begrenzten Ausnahmen darf das Mindestalter für
den Eintritt in das Arbeitsleben das Alter, in dem die Schulpflicht endet,
nicht unterschreiten.
(2)
Zur Arbeit
zugelassene Jugendliche müssen ihrem Alter angepasste Arbeitsbedingungen
erhalten und vor wirtschaftlicher Ausbeutung und vor jeder Arbeit geschützt
werden, die ihre Sicherheit, ihre Gesundheit, ihre körperliche, geistige,
sittliche oder soziale Entwicklung beeinträchtigen oder ihre Erziehung
gefährden könnte.
Familien- und Berufsleben
(1) Der rechtliche, wirtschaftliche und soziale Schutz von Ehe und Familie
wird gewährleistet.
(2)
Um Familien-
und Berufsleben miteinander in Einklang bringen zu können, hat jeder Mensch das
Recht auf Schutz vor Entlassung aus einem mit Schwangerschaft oder Geburt
zusammenhängenden Grund sowie den Anspruch auf Einhaltung von
Beschäftigungsverboten vor und nach der Geburt eines Kindes sowie auf Karenz
nach der Geburt oder Adoption eines Kindes.
Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung
(1) Die Republik anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den
Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen
wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter
sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten, nach Maßgabe der
gesetzlichen Bestimmungen.
(2)
Jeder
Mensch, der im Bundesgebiet seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat und seinen
Aufenthalt rechtmäßig wechselt, hat Anspruch auf die Leistungen der sozialen
Sicherheit und die sozialen Vergünstigungen nach den gesetzlichen Bestimmungen.
(3)
Um die
soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die
Republik das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für
die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein
menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen, nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen.
Gesundheitsschutz
Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zur
Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen. Die Republik bekennt sich zur Sicherung eines hohen
Gesundheitsschutzniveaus.
Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichen Interesse
Die Republik anerkennt und achtet den Zugang
zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, wie er durch
die gesetzlichen Bestimmungen im Einklang mit der Bundesverfassung geregelt
ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Republik zu fördern.
Rechtsschutz
Soweit in den
vorstehenden Artikeln Grundsätze festgelegt sind, sind diese durch Gesetz
umzusetzen. Sie können vor Gericht nur bei der Auslegung des Gesetzes bei
Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes herangezogen werden.
Erläuterungen:
I. Allgemeines
Im Hearing des Ausschusses 4 am 19. April 2004 wurde von der
Mehrzahl der Experten (Prof. Marhold, Prof. Schrammel, Prof. Winkler) dafür
plädiert, eine Normierung sozialer Rechte im österreichischen Verfassungsrecht
in Abstimmung mit der Rechtsentwicklung in der Europäischen Union vorzunehmen.
Prof. Holoubek schlug auf derselben Linie vor, die Grundrechte-Charta der
Europäischen Union zum Vorbild zu nehmen und insbesondere die Technik von
konkreten Gewährleistungen mit Gesetzesvorbehalten anstelle von allgemeinen
Programmsätzen zu wählen. Auf der Basis dieser Empfehlungen und des Entwurfs
eines allgemeinen Papiers des Ausschussvorsitzenden vom 25. April 2004 schlägt
der nachstehende Entwurf eine differenzierte Normierung sozialer Rechte mit
ebenso differenziertem Rechtsschutz vor.
II. Zu den einzelnen Artikeln
Im Einzelnen ist zu den Artikeln Folgendes zu bemerken:
Artikel 1:
Artikel 1 entspricht inhaltlich im Wesentlichen Art. 27 GRCh.
Soweit der Gesetzgeber tätig wird, hat er zu regeln, welche Unternehmen der
Pflicht zur Unterrichtung und Anhörung unterliegen, in welchem Umfang und unter
welchen Voraussetzungen Unterrichtungs- und Anhörungsrechte bestehen. Bei der
Festlegung hat der Gesetzgeber die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts (z.B.
Betriebsübergangsrichtlinie) zu berücksichtigen. Im Übrigen sind Schwellenwerte
für die Einrichtung bestimmter Organe oder Formen und Verfahren der
Unterrichtung und Anhörung, wie sie derzeit im Arbeitsverfassungsrecht
bestehen, mit dem Art. 1 nicht nur vereinbar, sondern determinieren sie den
Umfang der Gewährleistung näher (z.B. Beschäftigtenanzahl für die Einrichtung
eines Betriebsrates).
Artikel 2:
Artikel 2 Absatz 1 gewährleistet unter anderem die
Gewerkschaftsfreiheit, die in Art. 11 EMRK und in Art. 12 GRCh ausdrückliche
Erwähnung findet. Sie ist im Entwurf als Recht von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern bzw. Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern enthalten, zum Schutz
ihrer Interessen Vereinigungen zu bilden. Damit werden auch Ansprüche auf
Durchführung typischer Tätigkeiten solcher Vereinigungen geschützt, wie das
auch den gesetzlichen beruflichen Vertretungen zustehende Recht,
Kollektivverträge auszuhandeln und zu schließen (siehe auch Absatz 2), sowie
das Recht, bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer
Interessen zu ergreifen (vgl. auch Art. 28 GRCh).
Artikel 2 Absatz 2 verankert ausdrücklich die
Kollektivvertragsfähigkeit von Vereinigungen nach Absatz 1 und von gesetzlichen
beruflichen Vertretungen nach Maßgabe gesetzlicher Regelung.
Artikel 3:
Artikel 3 entspricht inhaltlich Art. 29 GRCh. Das Recht auf
Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst nach Art. 29
GRCh hat in erster Linie abwehrrechtlichen Charakter und enthält darüber hinaus
eine Schutzverpflichtung des Staates. Sie hat den Inhalt, dass der Staat keine
Maßnahmen ergreifen darf, die den Zugang zu einem unentgeltlichen
Arbeitsvermittlungsdienst gefährden. Ferner muss er den diskriminierungsfreien
Zugang dazu sicherstellen.
Artikel 4:
Artikel 4 entspricht inhaltlich Art. 30 GRCh. Danach ist der
Staat verpflichtet, Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung zu gewährleisten.
Unter „Entlassung“ ist die vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses aus
wichtigem Grund durch einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung des
Arbeitgebers zu verstehen. Eine ungerechtfertigte Entlassung ist entsprechend
der Europäischen Sozialcharta etwa anzunehmen, wenn diese aufgrund der
Gewerkschaftszugehörigkeit, wegen Mutterschafts- oder Elternurlaubs oder
aufgrund einer Diskriminierung erfolgte. In welcher Weise gesetzlich Schutz zu
gewährleisten ist, wird durch Art. 4 ebenso wenig wie durch Art. 30 GRCh
festgelegt.
Artikel 5:
Art. 5 entspricht inhaltlich Art. 31 GRCh. Zu den genannten
Arbeitsbedingungen zählen solche zur Arbeitssicherheit, zum Schutz der
Gesundheit in den Betrieben (insbesondere für besonders gefährdete Personen wie
Jugendliche, Schwangere und stillende Mütter). Ausdrücklich wird auf Höchstarbeitszeiten,
Ruhezeiten und Jahresurlaub Bezug genommen. Entsprechende gesetzliche
Regelungen dienen dem Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Artikel 6:
Artikel 6 entspricht inhaltlich Art. 32 GRCh. Neben dem
allgemeinen Verbot der Kinderarbeit muss ein Mindestalter festgelegt werden, ab
dem Jugendliche in das Berufsleben eintreten können. Dabei ist eine Regelung,
die nach täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeiten differenzierte
Altersgrenzen festlegt, zulässig. Ferner muss der Gesetzgeber zum Schutz
jugendlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besondere Regelungen treffen,
die eine Rücksichtnahme auf das Alter in den Betrieben gewährleisten. Die
geltenden gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen (z.B. KJBG, BAG,
Verordnungen zum ASchG) werden dieser Vorgabe gerecht und determinieren den
Schutzumfang des Art. 6.
Artikel 7:
Artikel 7 Absatz 1 enthält eine Schutzpflicht des Staates gegenüber
Ehe und Familie. Sie entspricht Art. 33 Abs. 1 GRCh sowie dem für diesen als
Vorbild herangezogenen Art. 6 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes. Eine solche
Schutzpflicht ist in der EMRK nicht ausdrücklich verankert, eine Reihe von
Aspekten wird jedoch sowohl durch den EGMR als auch den VfGH aus dem Schutz der
Familie gem. Art. 8 EMRK abgeleitet. Während der Begriff der Ehe sich
entsprechend Absatz 1 nur auf die Verbindung von Mann und Frau bezieht, werden
mit dem Begriff der Familie (entsprechend dem Familienbegriff des Art. 8
EMRK) neben der traditionellen Familie auch andere Lebensformen, insbesondere
uneheliche Lebensgemeinschaften und alleinerziehende Mütter oder Väter mit
ihren Kindern erfasst. Aus dieser Garantie folgen Pflichten des Staates, die
Situation von Erziehenden zu verbessern und damit der von Kinderlosen anzugleichen
(etwa durch Leistungen oder Berücksichtigungen im Steuerrecht). Einzelheiten
wird die Rechtsprechung zu klären haben.
Artikel 7 Abs 2
entspricht inhaltlich Art. 33 Abs. 2 GRCh. Es umfasst Anspruch
auf Einhaltung von Beschäftigungsverbote vor und nach der Geburt sowie das
Recht der Eltern auf Elternurlaub nach der Geburt oder Adoption eines Kindes
entsprechend Art. 33 Abs. 2 GRCh. Auch das ebenfalls in Art. 33
Abs. 2 GRCh gewährleistete Recht auf Schutz vor Entlassung aus einem mit
Schwangerschaft oder Geburt zusammenhängenden Grund ist verankert. Hinsichtlich
einer Adoption besteht der Anspruch nicht bei Adoption eines Volljährigen. Dies
kommt in der Wendung „eines Kindes“ zum Ausdruck.
Artikel 8:
Artikel 8 entspricht inhaltlich Art. 34 Abs. 1 und 2 GRCh.
Danach sind die entsprechenden Ansprüche gesetzlich zu verankern. Die
bestehenden Anspruchsvoraussetzungen bleiben unberührt. Unter welchen
Bedingungen und in welchem Umfang Ansprüche zu gewährleisten sind, wird durch
den Gesetzgebungsauftrag nicht vorgegeben, sondern fällt in den
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass
die betreffende Person ihren rechtmäßigen Wohnsitz in Österreich hat.
Artikel 9:
Artikel 9 dient der Bekämpfung der Armut und von sozialer
Ausgrenzung. Er entspricht inhaltlich Art. 34 GRCh, ist allerdings auf die
innerstaatliche Situation bezogen. Unter welchen Bedingungen und in welchem
Umfang dieser Anspruch zu gewährleisten ist, fällt in den Gestaltungsspielraum
des Gesetzgebers.
Artikel 10:
Artikel 10 entspricht im Wesentlichen Art. 35 GRCh. Die konkrete
Ausgestaltung des Rechts fällt in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.
Artikel 11:
Artikel 11 etabliert analog zu Art. II-52 Abs. 5 des Vertrags über
eine Verfassung für Europa im Zusammenhalt mit dem heutigen Artikel 144 B-VG
ein differenziertes Rechtsschutzsystem. Soweit in den Art. 1 bis 10 Grundsätze
aufgestellt werden, sind diese für die verfassungskonforme Interpretation und
für Normenkontrollverfahren maßgeblich. Soweit subjektive Rechte eingeräumt
werden, kann im Bereich der Verwaltung im Wege einer Beschwerde nach Art. 144
B-VG bzw. im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Wege eines
Subsidiarantrags die Verletzung des Rechts geltend gemacht werden.