Sozialstaatliche
Gewährleistungen und Soziale Grundrechte
Allgemeine
Erwägungen und Vorschläge zu deren Aufnahme
in
einen neuen Grundrechtskatalog
von Univ.Prof. Dr.
Bernd-Christian Funk
1. Eine erneuerte österreichische Bundesverfassung sollte sozialstaatliche
Gewährleistungen enthalten. Bereits die geltende Bundesverfassung ist keine
„Spielregelverfassung“, sondern enthält Leitwertbekenntnisse in Form von sog
Baugesetzen, Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträgen und vor allem
grundrechtlichen Garantien. Darunter finden sich auch Gewährleistungen
sozialpolitischen Inhalts und sozialpolitischer Relevanz in Form von
Diskriminierungsverboten, Gleichbehandlungspflichten und
Förderungsverpflichtungen. Die vorhandenen Regelungen sind allerdings
unsystematisch und unvollständig.
2. Vorschläge für eine Kombination von sozialstaatlichen Ziel- und
Aufgabenbestimmungen und individuellen Rechten sind bislang nicht angenommen
worden. Nach den Vorstellungen des für Staatsaufgaben und Staatsziele
zuständigen Konventsausschusses 1 soll eine etwaige verfassungsrechtliche
Verankerung sozialstaatlicher Verantwortung in einem neuen Grundrechtskatalog
in Form von individuell durchsetzbaren Gewährleistungen erfolgen.
3. Bei der Anhörung und Aussprache vom 19. April 2004 sind unter den
eingeladenen Experten zum Thema sozialstaatlicher Gewährleistungen unterschiedliche
Auffassungen vertreten worden. Der Bogen reicht von der dezidierten Forderung
nach sozialen Grundrechten bis zu einer zurückhaltenden Auffassung, die für
eine Parallelführung mit der europäischen Rechtsentwicklung eintritt. Eine
unbedingte Ablehnung solcher Verfassungsgarantien ist nicht vertreten worden.
4. Dem Ausschuss 4 sind verschiedene Vorschläge für sozialstaatliche
Gewährleistungen übermittelt worden. Die Vorschläge des Sozialdemokratischen
Grundrechtsforums und der Ökumenischen Expertengruppe enthalten Kataloge
subjektiver Rechte. Der Vorschlag Prof. Grabenwarter enthält staatliche
Gewährleistungspflichten im Arbeits- und Sozialrecht, die durch Gesetz
umzusetzen sind.
5. Der Ausschuss 4 hat sich mit allgemeinen Fragen der Verankerung sozialstaatlicher
Gewährleistungen in einer künftigen Bundesverfassung beschäftigt. Eine Spezialdebatte
über Einzelheiten konnte noch nicht geführt werden.
6. Der Ausschuss 4 ist der Auffassung, dass eine künftige Bundesverfassung
sozialstaatliche Gewährleistungen enthalten soll. Ein Rückschritt hinter die
europäische Verfassungsentwicklung (derzeit noch in Form der
EU-Grundrechte-Charta) sollte vermieden werden. Dazu kommt, dass nach
herrschender, durch die Rechtsprechung des EGMR und staatlicher Gerichte geprägter
Rechtsauffassung in Abwehr-Grundrechten staatliche Schutz- und
Gewährleistungspflichten eingeschlossen sind, durch welche die konfrontierende
Gegenüberstellung von (klassischen) Abwehrrechten und (neuen)
Leistungsansprüchen bereits nach geltender Verfassungsrechtslage relativiert
wird. Solche Ansprüche werden überdies durch Diskriminierungsverbote
garantiert, die schon jetzt Bestandteil der Verfassung sind und weiter
ausgebaut werden sollen.
7. Der Ausschuss 4 ist weiters der Auffassung, dass sozial- und
leistungsstaatliche Verfassungsgarantien in differenzierter und kombinierter
Form eingeführt werden sollten. In Betracht kommen Staatszielbestimmungen –
Gesetzgebungsaufträge – institutionelle Garantien – Grundrechte mit
individuellem und kollektivem Garantiegehalt. Ein künftiger Grundrechtskatalog
sollte für sämtliche Möglichkeiten offen sein. Vorschläge für die konkrete
Ausgestaltung wären in fortgesetzter Ausschussarbeit zu suchen. Ein solches Vorgehen
würde allerdings einen politischen Grundkonsens in diese Richtung voraussetzen,
der vom Ausschuss nicht erzeugt werden kann.
8. Entsprechend den Überlegungen und Vorschlägen von Prof. Holoubek tritt
der Ausschuss 4 für eine möglichst konkrete Fassung sozial- und
leistungsstaatlicher Verfassungsgarantien als Grundrechte „im technischen
Sinne“ ein. Sprachlich diffuse Formen, wie ein „Recht auf Gesundheit“ sollten
vermieden und in genaue, rechtlich geschützte Positionen, zB ein Recht auf
Zugang zur Gesundheitsvorsorge oder einen Anspruch auf medizinische
Notfallversorgung übersetzt werden.
9. Ein allgemeines Missbrauchsverbot sowie Gesetzesvorbehalte, die den
Staat davor schützen, zur Leistung von Unerfüllbarem verpflichtet zu sein,
wären als Schranken vorzusehen, jedoch so zu gestalten, dass Mindeststandards
nicht unter Berufung auf nicht vorhandene Mittel unterschritten werden können.
10. Nach Überzeugung des Ausschusses 4 sollte das rechtliche
Instrumentarium zur Durchsetzung sozial- und leistungsstaatlicher
Verfassungsgarantien ebenso differenziert gestaltet sein wie die Verankerung
solcher Garantien. Vorhandene Ansätze in der juristischen Dogmatik sind zu
nutzen, zu entwickeln und auszubauen, neue Instrumente bereit zu stellen. Eine
Rechtsdurchsetzung, die ausschließlich oder vorwiegend auf dem Wege der auf
individuelle Eingriffsabwehr zugeschnittenen Grundrechtsbeschwerde bei den UVS
und beim VfGH erfolgte, wäre unzureichend. Mechanismen kollektiver Rechtsdurchsetzung werden
zusätzlich zu schaffen sein. Der Gerichtsbarkeit in Zivil-, Arbeits-,
Sozialrechts- und Strafsachen wird wesentliche Funktionen bei der
Effektivierung sozial- und leistungsstaatlicher Verfassungsgarantien zufallen.
Hier besteht bereits ein flexibles dogmatisches Instrumentarium an
argumentativen Mustern, insbesondere in Form des Grundsatzes der
verfassungskonformen Gesetzesauslegung und von teleologischen Operationen
(Reduktion oder Extension). In einer neu zu schaffenden Verfassungsklausel
sollte die Grundrechtspflichtigkeit sämtlicher Staatsfunktionen ausdrücklich
klargestellt werden.
11. Nach Auffassung des Ausschusses 4 wird die Aufnahme von sozial- und leistungsstaatlichen Verfassungsgarantien Folgewirkungen in den Bereichen der Normenkontrolle und des Staatshaftungsrechts haben müssen. Das traditionelle Kassationsprinzip in der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle stößt schon jetzt auf Grenzen der Handhabbarkeit. Bei den neuen Gewährleistungen werden Überlegungen in die Richtung begrenzter Normsetzungsbefugnisse des VfGH anzustellen sein. Das bestehende Privileg des Ausschlusses von außervertraglicher Staatshaftung gegenüber rechtswidrigem Verhalten von Legislativorganen wird in Frage zu stellen sein.