19.
April 2004
Es kann wohl nicht Sinn dieser Anhörung sein,
die „unendliche Geschichte“ der Grundrechtsreform in Österreich hier
auszubreiten. Auch auf die Gründe, die für eine Grundrechtsreform im
Allgemeinen und für die Aufnahme sozialer Grundrechte in einen neuen
Grundrechtskatalog sprechen, kann und will ich hier nicht näher eingehen.
Darüber ist bereits lange und ausführlich genug diskutiert worden, und die
Literatur dazu füllt schon Bibliotheken.
Ich möchte nur an die bisher letzte Phase der
„institutionalisierten Grundrechtsreformdiskussion“ (H. Neisser) anknüpfen, die
ich als Mitglied der sog „politischen Grundrechtskommission“ selbst mit erlebt
habe.
Ich knüpfe bewusst dort an, weil ich den
Eindruck hatte – und auch heute noch habe – dass ein politischer Konsens über
wichtige Fragen der Grundrechtsreform, insbesondere auch über die Aufnahme
sozialer Grundrechte in die Verfassung, damals so nahe war, wie nie zuvor.
Und ich meine, trotz der seither geänderten
innenpolitischen Situation und der Konsequenzen, die sich aus dem Beitritt
Österreichs zur EU ergeben, könnten die Entwürfe, die Ende der 80-er, Anfang
der 90-er Jahre der Öffentlichkeit vorgelegt wurden, auch für die Arbeit in
diesem Ausschuss immer noch eine gute Grundlage bilden.
Kurz zur Erinnerung:
Nachdem zwanzigjährige intensive Vorabeiten,
zunächst in einem hochkarätig besetzten „Expertenkollegium“ und anschließend in
einem „Redaktionskomitee“, letztlich doch nicht zu politisch verwertbaren
Ergebnissen geführt hatten, setzte der damalige Bundeskanzler Sinowatz Anfang 1985 eine „politische
Grundrechtskommission“ ein. Diese Kommission bestand aus Vertretern aller im
Nationalrat vertretenen politischen Parteien, der Sozialpartner und der Länder
und sollte auf der Grundlage der umfangreichen Expertenvorarbeiten nach Wegen
für eine konsensfähige Regierungsvorlage zu einem reformierten
Grundrechtskatalog einschließlich sozialer Grundrechte suchen.
Aufgrund der bisher negativen Erfahrungen nahm
die Kommission vom Versuch einer Gesamtreform der Grundrechte Abstand und
beschloß in Teilschritten vorzugehen. Das erste Ergebnis konnte mit der
Neufassung des Grundrechts der persönlichen Freiheit, also des „Herzstücks“ der
klassischen liberalen Grundrechte, durch das Bundesverfassungsgesetz vom 1988
erreicht werden.
Im Rahmen einer Enquete am 2. Juli 1987 wurde
der Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes über das Recht auf
Sozialversicherung und Sozialhilfe zur Diskussion gestellt, Dabei zeigte sich,
dass trotz heftiger Kontroversen im Detail ein hohes Maß an Übereinstimmung
über die grundsätzliche Berechtigung sozialer Grundrechte bestand.
Bei einer weiteren Enquete im Jahr 1991 wurde
dann der Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes über wirtschaftliche und
soziale Rechte öffentlich diskutiert und nach einem umfassenden
Begutachtungsverfahren Anfang 1992 von Bundeskanzler Vranitzky als Vortrag an
den Ministerrat eingebracht.
Alles schien darauf hinzudeuten, dass es
gelingen würde, die erforderliche parlamentarische Mehrheit für die
Beschlußfassung dieses Verfassungsgesetzes zustande zu bringen. Zur
Überraschung vieler, vor allem der Mitglieder der Grundrechtskommission,
scheiterte aber das Vorhaben „in letzter Minute“ am mangelnden Konsens der
Regierungsparteien. Ursache dafür waren nicht etwa Differenzen über
rechtsphilosophische, rechtsdogmatische oder rechtstechnische Fragen, wie sie
die Experten jahrzehntelang diskutiert hatten, sondern handfeste materielle
Gruppeninteressen, nämlich die Forderung, Zug um Zug mit sozialen Grundrechten
auch eine Einkommens- und Subventionsgarantie für die Landwirtschaft in der
Verfassung zu verankern !
Seither ist – abgesehen von einem unerledigt
gebliebenen Initiativantrag von Abgeordneten der SPÖ zur Verankerung sozialer
Grundrechte– die innerösterreichische Diskussion über die Grundrechtsreform zum
Stillstand gekommen und erst mit der Arbeit dieses Ausschusses wieder
aufgenommen worden.
Auf internationaler Ebene hat sich dagegen
eine beachtliche Weiterentwicklung ergeben:
Im Zusammenhang mit dem Vertrag von Nizza wurde
Ende 2000 eine „Europäische Grundrechtscharta“ beschlossen, die allerdings
zunächst als „rechtlich nicht verbindlich“ bezeichnet wurde. In weiterer Folge
wurde diese Grundrechtscharta dann aber in den vom EU-Konvent ausgearbeiteten
Entwurf für eine neue EU-Verfassung übernommen. Die Grundrechtscharta enthält unter dem Titel IV „Solidarität“
auch einen Katalog sozialer Grundrechte.
Wenn es bisher zu keiner Einigung über den
Verfassungsentwurf gekommen ist, so ist das an anderen Fragen als an der
Grundrechtscharta gelegen. Sollte es in absehbarer Zeit doch zu einer Einigung
kommen, kann man wohl davon ausgehen, dass die Grundrechtscharta in der vom
Konvent vorgeschlagenen Fassung Teil der neuen EU-Verfassung wird.
Vor diesem Hintergrund vertrete ich in der
aktuellen Diskussion folgende Position:
2. Ein neuer
Grundrechtskatalog muss neben den klassischen liberalen Grundrechten auch
soziale Grundrechte enthalten.
-
die angeblich mangelnde Justiziabilität,
-
das unauflösbare Spannungsverhältnis zu
den liberalen Grundrechten,
-
die Gefahr der Überfrachtung oder der
Erstarrung der Verfassung,
-
die Unvereinbarkeit mit einer
marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung
sind durch die
neuere Grundrechtsdogmatik weitgehend widerlegt und gehen bei entsprechender
Gestaltung der Grundrechte ins Leere.
Ø
Bei den sozialen Grundrechten geht es
nicht mehr um das Ob, sondern „nur“ noch um das Wie!
Und da gibt es eine breite Palette von
Gestaltungsmöglichkeiten.
Voraussetzung ist
allerdings
Ø
ein geändertes Verfassungsverständnis
und
Ø
ein geändertes Grundrechtsverständnis
4. Inhaltlich sollte sich ein
Katalog sozialer Grundrechte vor allem an den internationalen
Grundrechtsdokumenten orientieren, die Österreich zum Teil im
Verfassungsrang, zum Teil auf einfachgesetzlicher Ebene ratifiziert hat:
-
Die Europäische Menschenrechtskonvention
-
Die Europäische Sozialcharta
-
Die UNO-Menschenrechtspakte
Und natürlich auch
an der EU-Grundrechtscharta.
Es wäre allerdings
mE nicht ausreichend, den Titel IV des EU-Verfassungsentwurfs mehr oder weniger
unverändert in einen österreichischen Grundrechtskatalog zu übernehmen.
Nach Artikel II-51
des EU-Verfassungsentwurfs soll die Charta nur für die Institutionen der EU
unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten
ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gelten.
Nach Artikel II-53
sind die Bestimmungen der Charta nur als Mindeststandard anzusehen, der
durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten entsprechend ihrem innerstaatlichen
Sozialniveau ausgebaut werden kann, und das sollte in Österreich jedenfalls
geschehen.
Das
Instrumentarium reicht von
-
Staatszielbestimmungen,
-
Programmsätzen,
-
Einrichtungsgarantien
-
Gesetzgebungsaufträgen
-
Gewährleistungspflichten
bis hin zu
-
subjektiven Rechten.
Verfassungstext,
also auch Grundrechtstext, soll möglichst knapp, verständlich und so weit
wie möglich auch durchsetzbar sein.
Das schließt
allerdings nicht aus, dass an der Spitze eines Grundrechtskomplexes durchaus
auch ein Programmsatz stehen kann, der zumindest als Auslegungsrichtlinie
Bedeutung hat.
Das wäre im Übrigen
keineswegs eine Besonderheit sozialer Grundrechte, Programmsätze gibt es auch
bei den klassischen liberalen Grundrechten:
„Das Eigentum ist
unverletzlich“
„Die Wissenschaft
und ihre Lehre ist frei“
„Alle Bundesbürger
sind vor dem Gesetz gleich“
.....
Heinrich Neisser
hat im
Zusammenhang mit den sozialen Grundrechten geschrieben:
„Die Verfassung
soll auch gleichsam die Visitenkarte gesellschaftlicher Werte sein“
Ich stimme dem zu und meine, dass deshalb auch
Staatszielbestimmungen und Programmsätze in einem neuen Grundrechtskatalog durchaus
ihren Platz haben können.
Allerdings sollte
es nicht dabei bleiben:
Die Deklaration
gesellschaftlicher Werte sollte durch normative Inhalte so weit konkretisiert
werden, dass die Kontrolle und Durchsetzung der Grundrechte in einem
verfassungsgerichtlichen Verfahren möglich ist.
Ein Katalog
sozialer Grundrechte, der lediglich aus Gesetzgebungsaufträgen besteht, die
keinen unmittelbaren Anspruch auf Durchsetzung vor den Gerichten vermitteln,
könnte der Forderung nach Effektivität der Grundrechte nicht
entsprechen.
Die Möglichkeit der
Individualbeschwerde zur Geltendmachung eines subjektiven Rechts, wie wir sie
bei den klassischen Abwehrrechten kennen, kommt bei sozialen Grundrechten, die
ja auf ein positives Handeln des Staates gerichtet sind, nur sehr eingeschränkt
in Betracht. Sie müsste durch andere Instrumente zur Rechtsdurchsetzung ergänzt
werden, wie etwa
-
kollektive Klage- oder
Beschwerderechte, ähnlich der Kollektivbeschwerde nach
dem Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta oder – wenn man die
einfachgesetzliche innerstaatliche Rechtslage zum Vergleich heranzieht -
dem
Feststellungsverfahren nach § 54 ASGG.
-
Zur Durchsetzung von
Gesetzgebungsaufträgen und Gewährleistungspflichten des Staates käme ein „Staatshaftungsanspruch“
im Sinne der Rechtsprechung des EuGH bei Verletzung des Gemeinschaftsrechts in
Betracht.
Vorschläge und rechtstechnische Möglichkeiten
zur Aufnahme von sozialen Grundrechten in einen neuen Grundrechtskatalog gibt
es also genug. Dabei darf aber eines nicht übersehen werden:
Wie auch die Erfahrungen in Österreich
deutlich gezeigt haben, ist eine Grundrechtsreform nicht bloß eine Frage der
Rechtstechnik, die von Experten – und seien sie noch so qualifiziert – gelöst
werden könnte.
Ludwig Adamovich
hat es schon vor 20 Jahren bei einer Enquete auf den Punkt gebracht, indem er
kurz und klar sagte:
„Grundrechtsreform ist eine Frage der
Rechtspolitik“.
Ich möchte hinzufügen:
Grundrechtsreform ist eine Frage der
Gesellschaftspolitik und damit natürlich auch der Parteipolitik.
Ob es tatsächlich zu einer Reform des
Grundrechtskatalogs einschließlich sozialer Grundrechte kommt, hängt in erster
Linie davon ab, ob es gelingt, jenen breiten politischen Konsens zu erreichen,
der für eine Beschlußfassung im Parlament erforderlich.
Ich wünsche dem Ausschuss und dem Konvent
dabei viel Erfolg.