Österreich-Konvent; Ausschuss 4

Anlage 1 zum Protokoll der 16. Sitzung

 

            19. April 2004

 

Hon.Prof. Dr. Josef Cerny

 

Statement beim Experten-Hearing im Ausschuss 4 des Ö-Konvents zum Thema „Soziale Grundrechte“

 

 

Es kann wohl nicht Sinn dieser Anhörung sein, die „unendliche Geschichte“ der Grundrechtsreform in Österreich hier auszubreiten. Auch auf die Gründe, die für eine Grundrechtsreform im Allgemeinen und für die Aufnahme sozialer Grundrechte in einen neuen Grundrechtskatalog sprechen, kann und will ich hier nicht näher eingehen. Darüber ist bereits lange und ausführlich genug diskutiert worden, und die Literatur dazu füllt schon Bibliotheken.

 

Ich möchte nur an die bisher letzte Phase der „institutionalisierten Grundrechtsreformdiskussion“ (H. Neisser) anknüpfen, die ich als Mitglied der sog „politischen Grundrechtskommission“ selbst mit erlebt habe.

 

Ich knüpfe bewusst dort an, weil ich den Eindruck hatte – und auch heute noch habe – dass ein politischer Konsens über wichtige Fragen der Grundrechtsreform, insbesondere auch über die Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung, damals so nahe war, wie nie zuvor.

Und ich meine, trotz der seither geänderten innenpolitischen Situation und der Konsequenzen, die sich aus dem Beitritt Österreichs zur EU ergeben, könnten die Entwürfe, die Ende der 80-er, Anfang der 90-er Jahre der Öffentlichkeit vorgelegt wurden, auch für die Arbeit in diesem Ausschuss immer noch eine gute Grundlage bilden.

 

Kurz zur Erinnerung:

 

Nachdem zwanzigjährige intensive Vorabeiten, zunächst in einem hochkarätig besetzten „Expertenkollegium“ und anschließend in einem „Redaktionskomitee“, letztlich doch nicht zu politisch verwertbaren Ergebnissen geführt hatten, setzte der damalige Bundeskanzler Sinowatz  Anfang 1985 eine „politische Grundrechtskommission“ ein. Diese Kommission bestand aus Vertretern aller im Nationalrat vertretenen politischen Parteien, der Sozialpartner und der Länder und sollte auf der Grundlage der umfangreichen Expertenvorarbeiten nach Wegen für eine konsensfähige Regierungsvorlage zu einem reformierten Grundrechtskatalog einschließlich sozialer Grundrechte suchen.

 

Aufgrund der bisher negativen Erfahrungen nahm die Kommission vom Versuch einer Gesamtreform der Grundrechte Abstand und beschloß in Teilschritten vorzugehen. Das erste Ergebnis konnte mit der Neufassung des Grundrechts der persönlichen Freiheit, also des „Herzstücks“ der klassischen liberalen Grundrechte, durch das Bundesverfassungsgesetz vom 1988 erreicht werden.

 

Im Rahmen einer Enquete am 2. Juli 1987 wurde der Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes über das Recht auf Sozialversicherung und Sozialhilfe zur Diskussion gestellt, Dabei zeigte sich, dass trotz heftiger Kontroversen im Detail ein hohes Maß an Übereinstimmung über die grundsätzliche Berechtigung sozialer Grundrechte bestand.

 

Bei einer weiteren Enquete im Jahr 1991 wurde dann der Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes über wirtschaftliche und soziale Rechte öffentlich diskutiert und nach einem umfassenden Begutachtungsverfahren Anfang 1992 von Bundeskanzler Vranitzky als Vortrag an den Ministerrat eingebracht.

 

Alles schien darauf hinzudeuten, dass es gelingen würde, die erforderliche parlamentarische Mehrheit für die Beschlußfassung dieses Verfassungsgesetzes zustande zu bringen. Zur Überraschung vieler, vor allem der Mitglieder der Grundrechtskommission, scheiterte aber das Vorhaben „in letzter Minute“ am mangelnden Konsens der Regierungsparteien. Ursache dafür waren nicht etwa Differenzen über rechtsphilosophische, rechtsdogmatische oder rechtstechnische Fragen, wie sie die Experten jahrzehntelang diskutiert hatten, sondern handfeste materielle Gruppeninteressen, nämlich die Forderung, Zug um Zug mit sozialen Grundrechten auch eine Einkommens- und Subventionsgarantie für die Landwirtschaft in der Verfassung zu verankern !

 

Seither ist – abgesehen von einem unerledigt gebliebenen Initiativantrag von Abgeordneten der SPÖ zur Verankerung sozialer Grundrechte– die innerösterreichische Diskussion über die Grundrechtsreform zum Stillstand gekommen und erst mit der Arbeit dieses Ausschusses wieder aufgenommen worden.

 

Auf internationaler Ebene hat sich dagegen eine beachtliche Weiterentwicklung ergeben:

 

Im Zusammenhang mit dem Vertrag von Nizza wurde Ende 2000 eine „Europäische Grundrechtscharta“ beschlossen, die allerdings zunächst als „rechtlich nicht verbindlich“ bezeichnet wurde. In weiterer Folge wurde diese Grundrechtscharta dann aber in den vom EU-Konvent ausgearbeiteten Entwurf für eine neue EU-Verfassung übernommen. Die  Grundrechtscharta enthält unter dem Titel IV „Solidarität“ auch einen Katalog sozialer Grundrechte.

 

Wenn es bisher zu keiner Einigung über den Verfassungsentwurf gekommen ist, so ist das an anderen Fragen als an der Grundrechtscharta gelegen. Sollte es in absehbarer Zeit doch zu einer Einigung kommen, kann man wohl davon ausgehen, dass die Grundrechtscharta in der vom Konvent vorgeschlagenen Fassung Teil der neuen EU-Verfassung wird.

 

Vor diesem Hintergrund vertrete ich in der aktuellen Diskussion folgende Position:

 

  1. Unabhängig davon, ob die Beratungen des Österreich-Konvents zu einer neuen Verfassung führen, ist eine Reform des Grundrechtskatalogs jedenfalls notwendig.

 

2.      Ein neuer Grundrechtskatalog muss neben den klassischen liberalen Grundrechten auch soziale Grundrechte enthalten.

 

  1. Die gegen die Verankerung von sozialen Grundrechten immer wieder vorgebrachten Argumente, wie

 

-          die angeblich mangelnde Justiziabilität,

-          das unauflösbare Spannungsverhältnis zu den liberalen Grundrechten,

-          die Gefahr der Überfrachtung oder der Erstarrung der Verfassung,

-          die Unvereinbarkeit mit einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung

 

sind durch die neuere Grundrechtsdogmatik weitgehend widerlegt und gehen bei entsprechender Gestaltung der Grundrechte ins Leere.

 

Ø     Bei den sozialen Grundrechten geht es nicht mehr um das Ob, sondern „nur“ noch um das Wie!

 

Und da gibt es eine breite Palette von Gestaltungsmöglichkeiten.

 

Voraussetzung ist allerdings

 

Ø     ein geändertes Verfassungsverständnis und

Ø     ein geändertes Grundrechtsverständnis

 

4.      Inhaltlich sollte sich ein Katalog sozialer Grundrechte vor allem an den internationalen Grundrechtsdokumenten orientieren, die Österreich zum Teil im Verfassungsrang, zum Teil auf einfachgesetzlicher Ebene ratifiziert hat:

 

-          Die Europäische Menschenrechtskonvention

-          Die Europäische Sozialcharta

-          Die UNO-Menschenrechtspakte

 

Und natürlich auch an der EU-Grundrechtscharta.

 

Es wäre allerdings mE nicht ausreichend, den Titel IV des EU-Verfassungsentwurfs mehr oder weniger unverändert in einen österreichischen Grundrechtskatalog zu übernehmen.

 

Nach Artikel II-51 des EU-Verfassungsentwurfs soll die Charta nur für die Institutionen der EU unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gelten.

 

Nach Artikel II-53 sind die Bestimmungen der Charta nur als Mindeststandard anzusehen, der durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten entsprechend ihrem innerstaatlichen Sozialniveau ausgebaut werden kann, und das sollte in Österreich jedenfalls geschehen.

 

  1. Rechtstechnisch gibt es für die Regelung sozialer Grundrechte – wie bereits erwähnt – eine Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten.

Das Instrumentarium reicht von

 

-          Staatszielbestimmungen,

-          Programmsätzen,

-          Einrichtungsgarantien

-          Gesetzgebungsaufträgen

-          Gewährleistungspflichten

 

bis hin zu

 

-          subjektiven Rechten.

 

  1. Ich stimme mit allen überein, die vor einer Überfrachtung der Verfassung durch langatmige, vielversprechende, aber letztlich nicht durchsetzbare Regelungen warnen.

 

Verfassungstext, also auch Grundrechtstext, soll möglichst knapp, verständlich und so weit wie möglich auch durchsetzbar sein.

 

Das schließt allerdings nicht aus, dass an der Spitze eines Grundrechtskomplexes durchaus auch ein Programmsatz stehen kann, der zumindest als Auslegungsrichtlinie Bedeutung hat.

 

Das wäre im Übrigen keineswegs eine Besonderheit sozialer Grundrechte, Programmsätze gibt es auch bei den klassischen liberalen Grundrechten:

 

„Das Eigentum ist unverletzlich“

 

„Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“

 

„Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetz gleich“

.....

 

Heinrich Neisser  hat im Zusammenhang mit den sozialen Grundrechten geschrieben:

 

Die Verfassung soll auch gleichsam die Visitenkarte gesellschaftlicher Werte sein“

 

Ich stimme dem zu und meine, dass deshalb auch Staatszielbestimmungen und Programmsätze in einem neuen Grundrechtskatalog durchaus ihren Platz haben können.

 

Allerdings sollte es nicht dabei bleiben:

 

Die Deklaration gesellschaftlicher Werte sollte durch normative Inhalte so weit konkretisiert werden, dass die Kontrolle und Durchsetzung der Grundrechte in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren möglich ist.

 

Ein Katalog sozialer Grundrechte, der lediglich aus Gesetzgebungsaufträgen besteht, die keinen unmittelbaren Anspruch auf Durchsetzung vor den Gerichten vermitteln, könnte der Forderung nach Effektivität der Grundrechte nicht entsprechen.

 

  1. Zur Verwirklichung dieser Forderung ist auch eine Reform der Rechtsdurchsetzung notwendig.

 

Die Möglichkeit der Individualbeschwerde zur Geltendmachung eines subjektiven Rechts, wie wir sie bei den klassischen Abwehrrechten kennen, kommt bei sozialen Grundrechten, die ja auf ein positives Handeln des Staates gerichtet sind, nur sehr eingeschränkt in Betracht. Sie müsste durch andere Instrumente zur Rechtsdurchsetzung ergänzt werden, wie etwa

 

-          kollektive Klage- oder Beschwerderechte, ähnlich der Kollektivbeschwerde nach dem Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta oder – wenn man die einfachgesetzliche innerstaatliche Rechtslage zum Vergleich heranzieht -

dem Feststellungsverfahren nach § 54 ASGG.

 

-          Zur Durchsetzung von Gesetzgebungsaufträgen und Gewährleistungspflichten des Staates käme ein „Staatshaftungsanspruch“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH bei Verletzung des Gemeinschaftsrechts in Betracht.

 

 

Vorschläge und rechtstechnische Möglichkeiten zur Aufnahme von sozialen Grundrechten in einen neuen Grundrechtskatalog gibt es also genug. Dabei darf aber eines nicht übersehen werden:

 

Wie auch die Erfahrungen in Österreich deutlich gezeigt haben, ist eine Grundrechtsreform nicht bloß eine Frage der Rechtstechnik, die von Experten – und seien sie noch so qualifiziert – gelöst werden könnte.

 

Ludwig Adamovich hat es schon vor 20 Jahren bei einer Enquete auf den Punkt gebracht, indem er kurz und klar sagte:

 

„Grundrechtsreform ist eine Frage der Rechtspolitik“.

 

Ich möchte hinzufügen:

 

Grundrechtsreform ist eine Frage der Gesellschaftspolitik und damit natürlich auch der Parteipolitik.

 

Ob es tatsächlich zu einer Reform des Grundrechtskatalogs einschließlich sozialer Grundrechte kommt, hängt in erster Linie davon ab, ob es gelingt, jenen breiten politischen Konsens zu erreichen, der für eine Beschlußfassung im Parlament erforderlich.

 

Ich wünsche dem Ausschuss und dem Konvent dabei viel Erfolg.