Dr. Frank Schorkopf D-76131
Karlsruhe
WEBERSTRASSE 8
fschorko@mpil.de
Organstreitverfahren
in dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22.
November 2001 zum neuen Strategischen Konzept der NATO heißt es zur Funktion
des Organstreitverfahrens:
„Der Organstreit zielt auf die Auslegung des
Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten von
Verfassungsorganen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). Das Verfahren dient insoweit
maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen
oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon
losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten
Organhandelns (vgl. BVerfGE 68, 1 <69 ff.>). Das Organstreitverfahren
eröffnet den Verfassungsorganen die Möglichkeit, für einen bestimmten
Sachzusammenhang über die Zuordnung der in Betracht kommenden Kompetenzen im
System der Gewaltenteilung zu streiten.“ (BVerfGE 104, 151 <193 f.>)
Vor diesem
Hintergrund werden die Regelungen über die Parteifähigkeit im Organstreitverfahren,
d. h. die Fähigkeit Antragsteller
oder Antragsgegner in einem solchen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
zu sein (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, § 63 BVerfGG), ausgelegt.
Zu den in
Art. 93 Abs. 1 Nr. GG genannten obersten Bundesorganen (Verfassungsorganen)
gehören der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat und die
Bundesregierung, die ausdrücklich auch in § 63 BVerfGG aufgezählt werden.
Darüber hinaus zählen auch die Bundesversammlung (vgl. Art. 54 Abs. 1 GG) und
der Gemeinsame Ausschuss nach Art. 53a GG zu diesem Kreis. Umstritten und
in der Sache ungeklärt ist, ob der Bundesrechnungshof, die Bundesbank und der
Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages parteifähig sind. Dagegen hat das
Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Staatsvolk kein Beteiligter in
einem Organstreitverfahren sein kann (BVerfGE 13, 54 <85>).
Über diesen Kreis der „obersten Bundesorgane“ hinaus sieht Art. 93 Abs.
1 Nr. 1 GG die Parteifähigkeit „anderer Beteiligter, die durch dieses
Grundgesetz oder in den Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit
eigenen Rechten ausgestattet sind“ vor. Als Teile oberster Bundesorgane sind
als parteifähig anerkannt:
– Bundestag:
der Präsident (BVerfGE), die Ausschüsse des Bundestages (BVerfGE 2, 142
<160>), Fraktionen des Bundestages (100, 266 <268>; 70, 324
<350>, gerade auch hinsichtlich des Minderheitenschutzes), Fraktionen in
einem Untersuchungsausschuss (BVerfGE 67, 100 <124>); eine als Gruppe
anerkannte Zahl von Bundestagsabgeordneten (BVerfGE 84, 304 <318>; 96,
264 <276>) und einzelne Abgeordnete (vgl. BVerfGE 10, 4 <10>; 60,
374 <378>; 62, 1 <32>; 70, 324 <350> sowie das Urteil des
Zweiten Senats vom 30. Juli 2003 – 2 BvE 1/01). Diese letztgenannte
Entscheidung, die auf der Internetseite des Gerichts zugänglich ist, ist für
das Verständnis der Beteiligung am Organstreitverfahren sehr aufschlussreich,
weil Antragsgegner eine größere Zahl von Abgeordneten war und Antragsgegner der
Bundestagspräsident. In der Sache ging es um die Reichweite des Privilegs auf
Beschlagnahmefreiheit gemäß Art. 47 Abs. 2 GG;
– Bundesrat:
der Präsident, das Präsidium, die Ausschüsse, die Mitglieder des Bundesrates
(d. h. die von den Ländern entsandten natürlichen Personen);
– der
Vermittlungsausschuss (vgl. Art. 77 Abs. 2 GG);
– der
Bundeskanzler und die Bundesminister als Teile der Bundesregierung.
Schließlich
werden als sonstige „andere Beteiligte“ noch politische Parteien im Hinblick
auf ihre Stellung nach Art. 21 GG (BVerfGE 85, 264 <284>) anerkannt.
Beim
Bundesverfassungsgericht sind in dem Zeitraum von 1951 bis 2002 insgesamt 135
Organstreitverfahren anhängig gemacht worden. Davon wurden 72 durch eine
Entscheidung des für diese Verfahrensart allein zuständigen Zweiten Senats und
59 auf sonstige Weise (z.B. Antragsrücknahme) erledigt. Die Differenz erklärt
sich m.E. im Wesentlichen aus dem Umstand, dass noch eine Reihe von Verfahren
anhängig sind. Eine weitere Aufschlüsselung der Statistik ist nach Rücksprache
mit der Verwaltung leider nicht möglich. Insbesondere wird keine weitere
Spezifikation der Antragsteller und Antragsgegner vorgenommen.
Ich habe Ihnen aus der JURIS-Datenbank eine Liste mit insgesamt 82
Entscheidungen des Zweiten Senats in sogenannten BvE-Sachen – die Aktenzeichen
der Organstreitverfahren im Hause beginnen mit „2 BvE X/X“ – ausgedruckt und
als Anlage beigefügt. Auch in der Datenbankabfrage war es leider für die
Überblicksaufstellung keine Aufschlüsselung der Beteiligten möglich.
Der
Vollständigkeit halber möchte ich Sie noch auf das kaum bekannte Verfahren nach
Art. 99 GG aufmerksam machen, in dem das Bundesverfassungsgericht auf
Grund landesverfassungsrechtlicher Zuweisung als Landesverfassungsgericht tätig
wird. Diese prozessuale Besonderheit erklärt sich aus der neueren deutschen
Verfassungsgeschichte und ist derzeit noch für das Land Schleswig-Holstein
aktuell. Im Rahmen dieser Zuständigkeit werden immer wieder
Organstreitverfahren aus Schleswig-Holstein beim Bundesverfassungsgericht
anhängig, die jedoch meistens Verfassungsrechtfragen mit allgemeiner Bedeutung
aufwerfen (vgl. etwa BVerfGE 103, 164 ff.). Da die schleswig-holsteinische
Landesverfassung durch Reformen jüngeren Datums auch „moderne Rechtsinstitute“
wie beispielsweise Ansprüche des Parlaments gegen die Regierung auf
Informationen enthält, sind auch diese Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts sicherlich für Ihre Zwecke von Interesse. Eine
Aufstellung mit den bisher ergangenen Entscheidungen ist ebenfalls als Anlage
beigefügt. Ich verweise insbesondere auf den Beschluss vom 10. Oktober 2002 – 2
BvK 1/01 = BVerfGE 106, 51 ff. über ein von einer qualifizierten
Ausschussminderheit geltend gemachtes Recht auf Aktenvorlage.
Zum Organstreitverfahren gibt es eine Reihe von wissenschaftliche
Publikationen erschienen. Zu nennen sind insbesondere:
– E.
Benda / E. Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl., Heideberg 2001, Rdnr.
976 ff. (das Standardwerk zum Verfassungsprozessrecht. Der Autor Benda war
Präsident des BVerfG, der Autor Klein ist Professor für Staatsrecht und war
wiss. Mitarbeiter beim BVerfG);
– H.
Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz – Kommentar, Loseblatt, Stand Juli 2002,
München, § 63 BVerfGG (umfangreichste Kommentierung der einschlägigen
Verfahrensnormen mit nahezu vollständigen Literaturhinweisen),
– J.
Pietzcker, Organstreit, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50
Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, Tübingen 2001, S. 587 ff. (neueste
systematische Darstellung des Organstreits mit einer Würdigung der
Rechtsprechung des BVerfG),
– F.
Schorkopf, in: C. Umbach / T. Clemens / F.-W. Dollinger,
Bundesverfassungsgerichts – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Heidelberg 2004
(im Erscheinen), vor §§ 73 ff. BVerfGG, § 73 BVerfGG (Manuskriptfassung der
Kommentierung zu Verfahren nach Art. 99 GG).
Abschließend
muss ich noch erwähnen, dass dieses Schreiben keine offizielle Stellungnahme
des Bundesverfassungsgerichts ist, womit jedoch nicht angedeutet sein soll,
dass die obigen Ausführungen nicht nach bestem Wissen gemacht wurden.