Theo Öhlinger
I.
Die
österreichische Neutralität ist im Jahre 2004 gewiss nicht mehr das, was sie
zwischen 1955 und 1990 war. Geändert haben sich zum einen die außenpolitischen
Rahmenbedingungen, vor allem durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und
des Warschauer Paktes. Verändert haben sich ferner rechtliche Überzeugungen wie
jene über das Verhältnis von UN-Mitgliedschaft und Neutralität: Während
die ältere österreichische Lehre im Sinne der so genannten Verdroß-Doktrin von
einem Vorrang der Neutralitätspflichten gegenüber den Pflichten aus der
UN-Satzung ausging, gilt heute unbestritten eine Teilnahme an vom
Sicherheitsrat legitimierten militärischen Aktionen als mit der Neutralität
vereinbar.
Eine markante
Änderung hat schließlich die EU-Mitgliedschaft bewirkt. Zu den Zielen
der EU gehört auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Diese
umfasst sämtliche Fragen der äußeren Sicherheit inklusive einer
"schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik …, die zu
einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, falls der Europäische Rat dies
beschließt" (Art 17 Abs 1 EUV). Dies schließt auch "Kampfeinsätze
bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen"
ein (Art 17 Abs 2 EUV). Ziel der GASP ist ua die "Wahrung der gemeinsamen
Werte, der grundlegenden Interessen, der Unabhängigkeit und der Unversehrtheit
der Union" sowie "die Wahrung des Friedens und die Stärkung der
internationalen Sicherheit", dies im Einklang mit den Grundsätzen der
Charta der Vereinten Nationen (Art 11 Abs 1 EUV). Damit ist – da sich
Neutralität und eine gemeinsame Verteidigungspolitik widersprechen – in die
"immerwährende" Neutralität Österreichs ein Ablauftermin eingebaut,
der nur noch kein festes Datum hat (certus quam, incertus quando).
Allerdings
lässt die Realität der GASP Spielräume für die Mitgliedstaaten offen.
Derzeit erscheint es noch durchaus möglich, innerhalb der EU so etwas wie eine
Neutralitätspolitik zu verfolgen. Zu beachten ist freilich auch die Gemeinsame
Erklärung Nr. 1 zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der
Schlussakte zum Beitrittsvertrag von 1994, wonach u.a.
-- die
neuen Mitgliedstaaten ab dem Zeitpunkt ihres Beitritts bereit und fähig sein
werden, sich in vollem Umfang und aktiv an der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik, so wie sie im Vertrag über die Europäische Union definiert
ist, zu beteiligen;
-- die
neuen Mitgliedstaaten mit dem Beitritt alle Ziele des Vertrags, die
Bestimmungen in Titel V des Vertrags und die ihm beigefügten einschlägigen
Erklärungen vollständig und vorbehaltlos übernehmen werden.
Auch im EUV selbst wird festgehalten, dass
die Mitgliedstaaten "die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und
vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität"
unterstützen (Art 11 Abs 2 EUV). Andererseits heißt es auch im Art 17 Abs 1
2. Unterabsatz EUV, dass die "Politik der Union nach diesem Artikel …
nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
bestimmter Mitgliedstaaten (berührt)" (sog. "Irische Klausel").
II.
Der
Bundesverfassungsgesetzgeber hat auf diese Entwicklung durch Art 23f B-VG
reagiert. Danach wirkt Österreich an der GASP mit, und zwar
einschließlich der Petersberger Aufgaben ("Aufgaben gemäß Art. 17 Abs.
2" EUV) sowie wirtschaftlicher Sanktionen gegenüber Drittstaaten. Art 23f
Abs 1 letzter Satz, Abs 2, Abs 3 und Abs 4 B-VG enthalten lediglich verfahrensrechtliche
Regelungen (Genehmigung gewisser Beschlüsse durch den Nationalrat mit
qualifizierter Mehrheit – was sich auch schon aus Art 50 Abs 3 B-VG ergeben
würde; Recht des Nationalrats zu verbindlichen Stellungnahmen gemäß Art 23e
B-VG; Einvernehmen zwischen Bundeskanzler und Außenminister bei einschlägigen
Beschlüssen der EU über friedenserhaltende und friedensschaffende Aufgaben
sowie den Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungspolitik; Mitwirkung des
Nationalrats bei Entsendung von Militärs). Er normiert aber expressis verbis
keine inhaltlichen Beschränkungen der im ersten Satz des Art 23f Abs 1 B-VG
proklamierten "Mitwirkung".
Inwieweit
dabei eine Bindung Österreichs an die dauernde Neutralität besteht, ist
strittig und wird von einem Teil der Lehre (im Einklang mit den Materialien
zu Art 23f B-VG) verneint. Eine Vereinbarkeit mit der österreichischen
Neutralität könnte allenfalls im Zusammenhang mit der in Art 11 Abs 1 EUV
normierten Bindung der EU an die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen
(siehe zuvor) argumentiert werden: Nur solche "friedensschaffende"
Einsätze mit Militärgewalt sind der EU erlaubt, die durch den Sicherheitsrat
legitimiert sind. Die Beteiligung an solchen Maßnahmen steht aber nach heutiger
Auffassung ohnehin nicht im Widerspruch zur Neutralität.
Weitgehend
unbestritten ist, dass gewisse "Kernelemente" der
ursprünglichen Neutralität für Österreich auch weiterhin – jedenfalls
innerstaatlich – verbindlich sind. Es ist dies zum einen die generelle
Verpflichtung eines Neutralen, nicht an einem "Krieg" teilzunehmen
(soweit militärische Aktionen nicht durch den Sicherheitsrat legitimiert sind).
Es sind dies ferner die im Art I Abs 2 NeutralitätsBVG angesprochenen
Verpflichtungen, nicht einem militärischen Bündnis beizutreten und die
Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf österreichischem
Territorium nicht zu dulden. Ungeachtet der Fraglichkeit der österreichischen
Neutralität aus internationaler und völkerrechtlicher Sicht bewirken diese
Bestimmungen des NeutralitätsBVG im innerstaatlichen Bereich, dass jede
weitere Einschränkung der Neutralität, vor allem auch der Beitritt zu einem
Verteidigungsbündnis, als verfassungsändernd zu qualifizieren ist und
daher einer Zweidrittelmehrheit im Nationalrat bedarf.
III.
Wie immer
man den Stellenwert der Neutralität für Österreichs Außenpolitik bewertet, er
ist jedenfalls innenpolitisch äußerst kontroversiell. Das ist erst jüngst im
Zusammenhang mit einer im EU-Verfassungsvertrag zur Diskussion gestellten
Beistandspflicht auf europäischer
Ebene deutlich geworden. Es stellt aber keine Aufgabe eines Ausschusses des
Konvents - dessen Arbeitsweise nach § 21 Abs 3
der Geschäftsordnung auf Konsens ausgerichtet ist - dar, dieses strittige Thema zu
entscheiden. Der Ausschuss 1 ist weder der geeignete Ort, die Neutralität zu
reanimieren noch sie zu entsorgen. Insofern empfiehlt es sich, inhaltlich am
bestehenden Verfassungsrecht vorerst festzuhalten.
Dies könnte
am einfachsten durch Aufrechterhaltung des geltenden NeutralitätsBVG
geschehen. Im Ausschuss 2 zeichnet sich die Auffassung ab, dass es auch in
Zukunft neben der Stammurkunde der Bundesverfassung einige weitere
Bundesverfassungsgesetze geben wird. Mehrere Mitglieder des Präsidiums haben
dies bereits vorgeschlagen. Im Ausschuss 2 wurde das NeutralitätsBVG als ein
Kandidat für ein solches außerhalb der Stammurkunde bestehendes
Bundesverfassungsgesetz genannt. Offen ist dabei noch die Frage, wie diese
Bundesverfassungsgesetze mit der Verfassungsurkunde verknüpft werden sollen.
Doch ist dies eine Frage, die im Ausschuss 2 zu klären sein wird.
Es handelt
sich auch um einen Kompromiss der Sache nach: Die Befürworter der Neutralität
verzichten damit auf deren Verankerung im Haupttext der (künftigen)
Bundesverfassung, ihre Kritiker auf die gänzliche Eliminierung aus dem
Verfassungsrecht.
Für diese
Lösung spricht weiters, dass die Entwicklung auf europäischer Ebene im Fluss
ist und eine Anpassung der Bundesverfassung zweckmäßigerweise zu jenem
Zeitpunkt erfolgen soll, an dem sich diese Entwicklung klarer konturiert.
Es wird
daher vorgeschlagen, das NeutralitätsBVG unverändert neben der künftigen
Verfassungsurkunde aufrecht zu erhalten und den Ausschuss 2 um die Klärung der Frage
zu ersuchen, wie dieses Nebeneinander legistisch zu gestalten wäre. Eine andere
Lösung scheint nicht konsensfähig zu sein.