Sehr geehrter Herr
Vorsitzender!
Ich darf versuchen,
meine Überlegungen zur Konkretisierung von Staatszielen und –aufgaben weiter zu
präzisieren:
(1) Tatsächlich wurde anlässlich der Ausschusssitzung vom 08. 10. 2003
lediglich oberflächlich Konsens erzielt, sich nicht an einem umfassenden
Katalog von Staatszielen und –aufgaben zu versuchen. Ich sehe in einem – selbst
taxativen – Katalog derartiger Ziele und Aufgaben mehr eine Verengung denn eine
Erweiterung des Prozesses der Formulierung neuer und der inhaltlichen
Gestaltung bestehender Staatsziele. Die bereits normierten Staatsziele und
–aufgaben sollten jedoch in einer Norm zusammengefasst werden, mit dem Verweis,
dass als solche festgestellte Staatsziele und –aufgaben verpflichtend für
Gesetzgebung und Vollziehung sind.
(2) Daher plädiere ich weiters für den Versuch, Staatsziele und –aufgaben
allgemein anzusprechen, deren Wahrung und Realisierung der gesamten Vollziehung
(Verwaltung und Gerichtsbarkeit) auf zu tragen und die Gesetzgebung in diesem
Sinne zu verpflichten.
(3) Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielen und –aufgaben alleine unter
dem Gesichtspunkt der Sanktionierung von Behördenverhalten anzustellen, hieße,
lediglich einen Aspekt des Problems zu reflektieren. Einerseits finden im Wege
des Gemeinschaftsrechts – welches, soweit unmittelbar anzuwenden, bereits
derzeit (etwa) von der Verwaltung zu vollziehen ist, wenn eine gesetzliche
Grundlage iSd Art 18 B-VG fehlt – Zielvorstellungen (die Grundfreiheiten)
Eingang in die Rechtsordnung und binden die Vollziehung. Derartige
Zielvorstellungen konditionieren den politischen Prozess, sie binden den
Gesetzgeber und die Vollziehung. Die Konkretisierung obliegt – derzeit – vor
allem dem Europäischen Gerichtshof.
(4) Im Wege der Ziele der EU und konkretisiert durch den EuGH verlieren
traditionelle Unterscheidungen – etwa zwischen Verwaltung und Gerichtsbarkeit;
oder zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht – zusehends an Schärfe.
Beispielsweise verweise ich auf die derzeitige Diskussion über Eingriffsnormen
im Privatrecht im Gefolge der Ingmar-Entscheidung [EuGH, Urt. v. 09. 11. 2000 –
Rs. C-381/98 (Ingmar GB Ltd. v. Eaton Leonhard Technologies Inc.)]. Diese
Diskussion kristallisiert um den Ausspruch des Gerichtshofes, die
Handelsvertreter-Richtlinie (RL 85/653/EWG vom 18.12. 1986) ziele auf den
Schutz der Niederlassungsfreiheit und des unverfälschten Wettbewerbs.
Die
an dieses Urteil anknüpfende Diskussion hält mittlerweile bei Folgendem: (a)
die Anwendung von Eingriffsnormen verlange die Beachtung „rechtlicher policies“
(Staudinger, Kommentar des BGB, 13. Aufl. 2002, RZ 36 zu Art 34 EGBGB); (b) Art
34 EGBGB normiere eine „grundrechtsspezifische Eingriffsnorm“ der unterlegenen
Partei in einer Situation gestörter Vertragsparität (Reich, „Grundgesetz und internationales
Vertragsrecht“, NJW 1994, Heft 33); (c) „internrechtliche Abgrenzungen von
öffentlichem Recht und Privatrecht“ seien nicht geeignet, das Phänomen der
Eingriffsnormen zu erfassen. Trotzdem verschwimmen Eingriffsnormen nicht zu
einer „nebulöse(n) Masse von Rechtsnormen, die nur formal durch die
Unverzichtbarkeit ihrer Anwendung (....) oder durch ihre Zugehörigkeit zum
öffentlichen Recht umschrieben werden können. Vielmehr ist man sich überwiegend
einig, dass eine Definition nur anhand materieller Kriterien in Betracht kommt:
Die Bestimmung erfolgt auf Grund der Sachnormzwecke.“ (Sonnenberger, „Das
trojanische Pferd im IPR oder notwendige Ergänzung?“, IPRax 2003, Heft 2).
(5) Die Alternative zur Formulierung eines Kataloges von Zielen und Aufgaben
ist in der Erarbeitung von Vorgaben zu sehen. Das von Funk angesprochene
Koordinatensystem aus Grundsätzen unterschiedlicher Ordnung erscheint mir eine
erste Annäherung an die Lösung der Frage, wie ein offenes Verfahren der
Konkretisierung und (normativen) Kristallisierung von Staatszielen und
–aufgaben gefasst werden kann. Allgemeine Bestimmungen von Zielen und Aufgaben
des Staates (besser: Anforderungen an das Gemeinwesen) – im politischen Prozess
– und die normative Fassung – verfassungsgesetzlich – vorgegebene Prinzipien
werden durch die Erfordernisse jeweiliger Sachverhalte – im Wege von Verfahren
und, wenn notwendig, in Entscheidungen – konkretisiert. Derartige Prinzipien –
Ziele „zweiter Ordnung“? – können beispielsweise sein: Legalität, Nachhaltigkeit,
Effizienz, Nichtdiskriminierung, Ressourcenschonung, Verhältnismäßigkeit,
Zugang zu Lebenschancen.
Wichtig
erscheint mir der Gedanke, dass derart Entscheidungsgrundlagen nicht nur im
Sinne der Sanktion ex-post, sondern – vor allem – im Sinne einer Gestaltung
formulierbar sind.
Da ich an der
Teilnahme an der Ausschusssitzung vom 15. Oktober 2003 verhindert bin, darf ich
Sie, sehr geehrter Herr Vorsitzender, ersuchen, mein (kurzes) Papier zur
Diskussion zu stellen und Herrn Prof. Raschauer, es gegebenen Falls
vorzutragen.
Mit freundlichen
Grüssen,
Leo Specht
Wien, 13. 10. 2003