Theo Öhlinger
1. Zu unterscheiden ist zwischen
– Staatszielen und Staatsaufgaben in
einem allgemeinen, dem positiven
Verfassungsrecht
vorgelagerten Sinn
– und verfassungsrechtlichen
Staatszielbestimmungen und Verfassungs-
aufträgen.
Zwischen den Begriffen Staatszielen und
Staatsaufgaben bzw. Staatszielbestimmungen und Verfassungsaufträgen lassen sich
jeweils keine scharfen Grenzen ziehen. Im Großen und Ganzen kann man sagen,
dass Staatsziele bzw. Staatszielbestimmungen abstrakter, Staatsaufgaben bzw.
Verfassungsaufträge konkreter sind; doch ist die Abgrenzung fließend und die
Terminologie in der Literatur uneinheitlich. Eine präzise Definition ist für
die Zwecke dieses Ausschusses aber auch nicht notwendig.
2. Eine verfassungsrechtliche Positivierung von Staatszielen und
Staatsaufgaben (im Sinne von Staatszielbestimmungen und Verfassungsaufträgen)
kann einen doppelten Sinn haben:
a. Sie kann eine Handlungs- oder
Gewährleistungspflicht des Staates zum Aus-
druck bringen.
b. Sie kann aber auch als Begrenzung
des Staates verstanden werden – etwa in
dem Sinn, dass
staatliche Aktivitäten durch die verfassungsrechtlich festgelegten
Aufgaben beschränkt
werden.
Beide Ziele heben sich wechselseitig auf.
3. "Staatsaufgaben" ist – pointiert formuliert – ein anderes
Wort für Politik. Die Auffassung darüber, welche Aufgaben der Staat
besorgen und welche Ziele er anstreben soll, ist daher ständig im Fluss und Gegenstand
politischer Auseinandersetzung zwischen den Parteien. Es ist der Sinn einer
rechtsstaatlichen-demokratischen Verfassung, diesem politischen Prozess einen
festen Rahmen zu geben, nicht aber, diesen Prozess verfassungsrechtlich zu
fixieren und zu versteinern.
Gleiches gilt für den engeren Begriff der "Kernaufgaben".
Es gibt freilich Themen, die im politischen Alltag gewissermaßen
außer Streit zu stellen durchaus sinnvoll sein kann. Das gilt vor allem für
Ziele und Werte, die in einem auf der Mehrheitsregel beruhenden demokratischen
Willensbildungsprozess nicht über ausreichende Artikulations- und
Durchsetzungskraft verfügen. Ein illustratives Beispiel ist der Umweltschutz,
dessen langfristige Komponente Gefahr läuft, in dem durch kurzfristige
Legislaturperioden geprägten politischen Prozess unzulänglich berücksichtigt zu
werden. Dazu eignen sich Staatszielbestimmungen.
Das – wohl nicht nachahmenswerte – amerikanische Beispiel zeigt ferner,
dass auch elementare Leistungen der Daseinsvorsorge und der sozialen
Sicherheit unter den aktuellen Sparzwängen des Staates und einer
sozioökonomischen Entwicklung, die gesellschaftliche Ungleichheiten verstärkt,
in der politischen Auseinandersetzung um parlamentarische Mehrheiten in Gefahr
sind, "unter die Räder" zu kommen. Das "europäische Modell"
des sozialen Rechtsstaates als Staatszielbestimmung verfassungsrechtlich zu
verankern, macht daher einen guten Sinn. Auf der Ebene der EU ist dies durch
das Kapitel "Solidarität" der EU-Grundrechtecharta (2. Teil des
Entwurfs einer Verfassung der Union) bereits erfolgt.
4. Die geltende österreichische Bundesverfassung enthält punktuell und
unsystematisch eine Reihe von Staatszielbestimmungen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit
seien genannt:
-
das
Verbot nazistischer Tätigkeit (VerbotsG)
-
die
dauernde Neutralität (NeutralitätsBVG)
-
umfassende
Landesverteidigung (Art 9a B-VG)
-
Umweltschutz
(UmweltschutzBVG)
-
Gleichbehandlung
von Behinderten und Gleichstellung von Mann und Frau (Art 7 Abs 1 B-VG)
-
Schutz
der Volksgruppen (Art 8 Abs 2 B-VG)
-
Rundfunk
als öffentliche Aufgabe (RundfunkBVG)
-
Gesamtwirtschaftliches
Gleichgewicht (Art 13 Abs 2 B-VG).
Über eine Streichung dieser Bestimmungen dürfte kaum ein Konsens herstellbar
sein. Es wird daher eine Aufgabe des Ausschusses sein, über den Einbau dieser
Bestimmungen in den Text einer geschlossenen Verfassungsurkunde – wie sie das
Ziel des Konvents ist – zu beraten. Mögliche legistische Alternativen
sind:
a. Die Zusammenfassung in einem Katalog, etwa als
Unterabschnitt des Ersten
Hauptstücks des B-VG.
Dabei stellt sich die Frage nach einer Ergänzung im
Sinn einer Abrundung
dieses Katalogs.
b. Die Zuordnung zu anderen Teilen der
(künftigen) Bundesverfassung. Dabei
bietet sich in einer
Reihe von Fällen der Einbau in einen allfälligen
Grundrechtekatalog
an.
5. Die Frage weiterer Staatszielbestimmungen oder Verfassungsaufträge wird
sich jedenfalls auch im Rahmen des Grundrechtsausschusses stellen, vor
allem unter dem Aspekt sozialer Grundrechte (siehe v.a. den bereits erwähnten
Abschnitt "Solidarität" der EU-Grundrechtecharta, der einen
Mindeststandard für die Mitgliedstaaten vorgibt).
6. Der normative Gehalt von Staatszielbestimmungen ist allerdings gering,
wie sich am Beispiel des UmweltschutzBVG oder des Art 13 B-VG
(gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht) leicht zeigen ließe. Das liegt zum einen
daran, dass die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zwangsläufig groß
bleiben muss, zum anderen aber auch daran, dass solche Verfassungsregelungen kaum
gerichtlich durchsetzbar sind. Ein (Verfassungs-)Gericht ist auf die
Feststellung einer mangelnden Umsetzung von Staatszielbestimmungen und
Verfassungsaufträgen beschränkt, kann aber diese Unterlassung nicht durch seine
Entscheidung substituieren. Allerdings hat der VfGH Techniken der
Gesetzesaufhebung entwickelt, mit denen auch auf ein Unterlassen des
Gesetzgebers reagiert werden kann (VfGH Slg 8017/1977, 13.477/1993,
14.075/1995; 16.316/2001 u.a.). Eine gänzliche Untätigkeit des Gesetzgebers
kann aber vom VfGH nicht aufgegriffen werden (VfGH Slg 14.453/1996 zur
fehlenden gesetzlichen Grundlage für das – nach Art 10 EMRK zu ermöglichende –
private terrestrische Fernsehen).
Eine explizite Ermächtigung des VfGH zu einem Feststellungserkenntnis
nach dem Beispiel der portugiesischen Verfassung (Art 238) dürfte gegenüber
dieser Judikatur kaum Verbesserungen bringen.
7. Präambeln entsprechen nicht dem herkömmlichen Stil
österreichischer Verfassungsgesetzgebung. Das ist kein hinreichendes Argument
gegen eine Präambel in einer neuen Verfassung. Aber der normative Gehalt von
Präambeln steht in keinem Verhältnis zu dem dadurch im Regelfall provozierten
ideologischen Streit. Die Schaffung einer neuen Verfassung steht vor vielen
Hürden. Es sollte nicht künstlich eine weitere Hürde durch die Forderung nach
einer Präambel konstruiert werden.
Theo Öhlinger e.h.